Kitabı oku: «Ahrenshooper Spinnenweg», sayfa 5
10. Araneus stella
Eine gute halbe Stunde später näherten sich Kempowski und Elisabeth Müller-Paul dem Friedhof der Peter-Pauls-Kirche. Zimmermann hatte darauf verzichtet, sie nach Zingst zu begleiten. Mit neuen Leichen wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Ihm reichte die Leiche im Keller seiner Erinnerung. Stattdessen hatte er angeboten, dass Sonntag und er in Ahrenshoop aufräumen würden, die Spuren des Sorbets entsorgen und auch Klarschiff auf der Terrasse machen.
So waren die Bibliothekarin und ihr Mann unverzüglich aufgebrochen, um sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Der Anruf von Herrn Arlt hatte Elisabeth zutiefst erschüttert. Nicht nur, dass es sie empörte, die Grabstelle der von ihr so geschätzten Heimatdichterin dergestalt entweiht zu wissen. Ihr lagen auch die Arlts am Herzen, die sich als geistige Nachlassverwalter mit Leidenschaft und Liebe um das Werk Müller-Grählerts kümmerten.
»Mist. Pass doch auf, du Hornochse!« Kempowski fluchte. Hupte. Sehnte sich nach einer Zigarette. Wandte sich dann an sein geliebtes Elseken. »Nur Idioten unterwegs. Und kein Parkplatz in Sicht. Ein Auftrieb hier wie beim Hafenfest.« Er hatte recht. Die ohnehin engen Straßen des Seebades waren mit Autos verstopft, die sich alle im Schritttempo scheinbar nur einem Ziel zu nähern schienen – dem Friedhof. Hinzu kamen die obligaten Schwärme von Radfahrern sowie jede Menge Fußgänger. Die Nachricht vom Leichenfund auf dem Grab der Poetin hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen und Touristen wie Eingeborene mobilisiert. Allerdings hatte die Polizei das Areal der Begierde weiträumig abgesperrt und etliche Uniformierte eingesetzt, um den Massen der Schaulustigen Einhalt zu gebieten.
Das erkannte auch Kempowski, der zudem Sorge um seinen Wagen hatte – einen wunderschönen Wartburg in Cabrioausführung und Zweifarbenlack. »Weißt du was? Bevor mir hier noch einer eine Schramme oder Beule verpasst, schlage ich vor, du rufst deinen Herrn Arlt an, wir holen ihn an seinem Standort ab und suchen uns ein etwas friedlicheres Plätzchen, wo er uns alles in aller Ruhe erzählen kann. Am besten, du zwängelst dich schon mal nach hinten auf die Rückbank.«
»Ich muss mich nicht zwängeln, mein lieber Kemp.« Elisabeth klang beleidigt. Betonte das »Ich« mit Nachdruck. Nutzte dann jedoch einen weiteren Augenblick des Stoppens, um flink die Sitzposition zu wechseln. »Aber dein Vorschlag ist gut. Halt, da vorne steht er ja schon. Huhu, hallo, Herr Arlt, hier sind wir!«
Der so angerufene ältere Herr wirkte zunächst etwas verwirrt. Schaute sich suchend um und erkannte dann doch Elisabeth Müller-Paul. Zögerlichen Schrittes näherte er sich dem noch immer stehenden Wartburg und kletterte ins Wageninnere.
»Vielen lieben Dank, Frau Müller-Paul, dass Sie gleich gekommen sind. Auch an Sie, Herr Kempowski. Das ist ja alles so fürchterlich schrecklich, wissen Sie …«
»Entschuldigen Sie bitte, aber wenn Sie sich noch ein bisschen gedulden möchten. Ich muss mich hier höllisch konzentrieren, damit es keine weiteren Toten gibt.« Kempowski hatte zu einem waghalsigen Wendemanöver angesetzt. Steuerte unter abermaligem Fluchen und Hupen sein Gefährt in entgegengesetzte Richtung. Fort von Friedhof und Unruheherd.
Nach einigen weiteren Kehren und Haken lichtete sich das Gewusel. Und vorm hübschen Café Rosengarten in der Strandstraße warteten dann tatsächlich ein freier Parkplatz sowie ein ebensolcher Tisch mit drei Stühlen auf sie. Was außergewöhnlich war. Doch der Brennpunkt des allgemeinen Interesses lag nun aktuell anderenorts. Wenige Minuten später saßen sie. Bereits mit der ersten Bestellung versorgt. Drei stillen Wassern. Das Beste bei so viel Tumult.
»So, nun lieber Herr Arlt, erzählen Sie doch bitte ganz in Ruhe, was genau passiert ist. Möchten Sie nicht doch einen Espresso, vielleicht einen Irish Coffee, ein Stückchen Kuchen? Sie sehen blass aus. Brauchen Sie etwas Süßes? Wegen der Unterzuckerung?« Elisabeth reichte ihm die Karte. Schaute ihn besorgt an.
»Nein danke, mir ist jeder Appetit vergangen.« Arlt nippte an seinem Wasser. »Aber, das werden Sie gleich verstehen. Also, die Martha, nicht unsere, nein, die Martha Ahlfänger, eine Schulfreundin von meiner Gattin, hat schon allein aufgrund des Vornamens eine besonders innige Beziehung zum »lütten Sparling«, wie wir die Dichterin gerne unter uns nennen. Lütten Sparling, so hat sie sich ja auch selbst bezeichnet, bescheiden wir sie war, die Gute. Aber, zurück. Die Martha kümmert sich daher seit Jahren, Jahrzehnten liebevoll um die Grabstätte, pflanzt, gießt, schneidet alte Blüten ab, harkt die Wege. Ist auch wirklich immer tadellos in Schuss.« Er nahm einen weiteren Schluck.
»Das macht sie meistens immer schon in aller Frühe. Aller Herrgottsfrühe, der Friedhof wird ja nicht abgeschlossen und die Martha kann nicht mehr so gut und lange schlafen. Und gerade so zu dieser Jahreszeit ist das ein herrlicher Ort. Oft nimmt sie auch noch ein Büchlein mit, liest dem »lütten Sparling« etwas vor …«
»Sicherlich sehr idyllisch, doch … Stört es Sie, wenn ich rauche?« Kempowski hatte sich eigentlich zurückhalten wollen. Aus Rücksicht auf den arg angeschlagenen Herren. Doch dessen Weitschweifigkeit ließ ihm keine andere Wahl. Er griff zu Etui und Feuerzeug.
»So, nur zu, nur zu. Haben Sie vielleicht auch eine für mich? Habe zwar vor über dreißig Jahren aufgehört, aber …« Mit etwas zittrigen Fingern nahm er die angebotene Zigarette, benötigte drei Versuche, bis sie brannte, inhalierte ungeübt, musste hüsteln.
»Danke sehr. Wo war ich stehengeblieben? Genau, bei Martha. Heute am frühen Morgen. Schon als sie durch die kleine Tür schritt, spürte sie, dass etwas nicht stimmt. Allerdings sieht sie nicht mehr so gut. Konnte daher zunächst nur erahnen, dass da etwas auf der Grabstelle steht. Irgendetwas Großes, Weißes, nicht der normale Müll, der da doch mal so landet wie alte Papiertaschentücher, Getränkedosen und so. Als sie dann nähergekommen war, dachte sie zunächst an einen Scherz von Kindern oder Jugendlichen. Wissen Sie, wie bei diesem Halloween-Unfug, da werden ja manchmal Gartenpforten, Laternen, sogar Autos mit Klopapier eingewickelt. Dann jedoch, ein paar Schritte weiter, hätte sie beinahe der Schlag getroffen. Doch, sehen Sie selbst. Denn Martha hat wirklich Courage bewiesen. Und Fotos gemacht. Mit ihrem Smartphone. Hat erst vor Kurzem so einen Kurs gemacht. Im Max Hünten Haus. Wurde ihr von ihrem Enkel spendiert.«
Herr Arlt nestelte nun sein eigenes Gerät hervor. Wischelte mit Zitterfingern über die Oberfläche. Die gewünschten Aufnahmen erschienen. Die verwünschten.
»Schauen Sie! Ist das nicht entsetzlich? Hat sie mir gleich geschickt. Noch bevor sie die Polizei angerufen hat.« Müller-Paul und Kempowski schauten wie gebannt auf das Display. Folgten dem Weg der Bilder. Was sie preisgaben, war wirklich entsetzlich. Entsetzlich wie grotesk. Mitten auf dem Grab, inmitten eines kleinen Rondells von platt getrampelten Stiefmütterchen in Blassblau und Schwarzgelb saß eine Person auf einem Rollator. Eigentlich und abgesehen vom Standort kein unüblicher Anblick. Gerade auf Friedhöfen.
Eigentlich, denn dieser Ruhende ruhte sich für alle Ewigkeiten aus. Und war zudem nahezu vollkommen eingehüllt. In Verbandsstoff. Es mussten etliche Meter Mullbinde sein, mit dem der Tote eingewickelt worden war. Kopf, Körper, alle Gliedmaßen eingeschlossen. Mumiengleich. Arme und Beine am Rollator fixiert. Im Bereich der Augen zeichneten sich zwei Flecken ab. Rote. Dunkelrote. Und um den Hals eine Schlinge aus gleichem Material, deren anderes Ende um das schöne Kreuz im Hintergrund geknotet war. Kurz unter den Zeilen Hier ist mine Heimat, hier bün ick tu Hus. Ein paar Bänder hatten sich gelöst. In einem Ginsterstrauch verfangen. Marthas geliebter gäler Ginster.
»Makaber. Auch noch eine?« Kempowski fand nur langsam die Sprache wieder. Zumal ihm schon beim Anblick der ersten Fotos ein Gedanke gekommen war. Den er aber fortwischen wollte. Wegpusten. Mit dem Rauch einer weiteren Zigarette.
Auch die ansonsten so redselige und wortreiche Literaturfreundin fand nur langsam aus der Sprachlosigkeit zurück. »Unglaublich, einfach unglaublich. Weiß man schon, wer der Unglückliche ist? Dürfte ja ein Mann sein, auch wenn man das Gesicht nicht sieht.«
»Ja, das ist, das war der Dr. Eibesfeld. Dr. Hanno Eibesfeld. Ein ehemaliger Arzt. Aber schon lange im Ruhestand. Hat hier um die Ecke gewohnt. Rosenberg. Rosenberg 1. Sehr schönes Haus. Ein unglaublich sympathischer Herr. Älter schon, so Mitte achtzig. Aber noch sehr rüstig. Ist, war auch ein großer Freund von unsrem »lütten Sparling«. Tragisch ist das. Unfassbar. Kann ich noch eine haben?« Arlt schien das Defizit aus dreißig Jahren Nichtrauchersein an einem Nachmittag kompensieren zu wollen. Gewann zunehmend Routine. Zog kräftig.
»War fast immer bei unseren Lesungen und Vorträgen dabei, hier im Museumshof wie bei uns in Barth. Außerdem hat er unsere Arbeit unterstützt. Finanziell. War immer sehr großzügig. Ein herber Verlust. Als Mensch wie als Mäzen …« Ein tiefer Seufzer begleitete einen weiteren Rauchkringel.
»Haben Sie vielleicht eine Ahnung, wer das gemacht hat?« Ein Raucherwölkchen von Kempowski gesellte sich zu dem des Müller-Grählert-Enthusiasten.
»Das haben mich die Beamten von der Kripo auch gefragt. Haben mich stundenlang gepiesackt. Bloß weil ich natürlich nach Marthas Anruf rübergekommen bin. Schließlich fühle ich mich ja auch verantwortlich für das hier, in gewisser Weise. Aber, ich habe keine Ahnung. Familie hatte der Hanno nicht mehr. Zumindest hat er darüber nie gesprochen. Gekümmert hat sich um ihn seine Zugehfrau. Eine sehr nette junge Dame aus Polen. Doch da war nichts anderes im Spiel, also über Einkaufen, Saubermachen, Wäsche waschen, Bügeln und so hinaus. Obwohl das die Polizisten natürlich bezweifeln. Aber die haben sogar allen Ernstes die Überlegung in den Raum gestellt, dass sich dieser Leichenfund möglicherweise »positiv« auf das Interesse an unserer Martha auswirken wird. Was ja durchaus in meinem Interesse als Verleger ihres Werkes sein könnte. Eine Unverschämtheit, solch eine infame Unterstellung. Ich behalte mir vor, das nicht auf sich beruhen zu lassen.«
»Handelt es sich bei den Beamten vielleicht um ein Vater und Sohn-Team namens Meinhard? Rico und Leon Meinhard?«
»Richtig, Herr Kempowski, genau. Die Meinhards. Unmögliche Leute. Woher wissen Sie das? Kennen Sie die beiden?«
»Kennen ist zu viel gesagt. Aber, ich habe so meine Erfahrungen mit ihnen machen dürfen. Müssen. Die verdächtigen gern auf blauen Dunst hinaus. Machen Sie sich bloß keine Sorgen. Obwohl, ich glaube nicht, dass der arme Doktor zufällig auf dem Grab der armen Dichterin drapiert wurde. Haben die Meinhards irgendeine Bemerkung fallen lassen, ob der Fundort auch der Tatort ist? Das machen die nämlich auch gerne, sich vorschnell verplappern und interne Informationen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.«
»Stimmt, da war was. Während ich mit dem Junior im Bus saß und der mir Löcher in den Bauch fragte; hatte natürlich überhaupt keine Ahnung, wer Martha Müller-Grählert war, dieser Kulturbanause, hat der Senior draußen mit einem recht dicken Mann in so einem weißen Anzug gesprochen. Bei offener Wagentür. So konnte ich aufschnappen, dass Hanno schon länger tot war, als er …« Arlt suchte nach Worten. Fand keine passenden. Fuhr mit kleiner Pause fort.
»… und höchstwahrscheinlich am frühen Abend getötet wurde. Erdrosselt. Und dann haben sie ihm auch noch die Augen ausgestochen.«
»Wie bei Majakowski. Und diesem Wittenborn. Damals, im Dornenhaus. Damals, vor einem guten Jahr. Kemp, mir ist unheimlich.« Elisabeth Müller-Paul fand ins Gespräch zurück. Griff nach Kempowskis Arm. Krallte sich beinahe hinein. »Geht das schon wieder los?«
Darauf wusste er keine Antwort. Er drehte sich um. Fühlte sich auf unangenehme Weise beobachtet. Konnte aber niemanden entdecken, der ihn fixierte. Stattdessen erblickte er drei neue Gäste, die sich den Weg durch die gerade erst erblühenden Rosensträucher des Gartens bahnten. Zarte Knospen harrten ihrer Entfaltung. Ihre eigene Blüte lag hingegen schon länger zurück. Die älteste der Damen machte auf halber Strecke einen Zwischenstopp. Musste kurz verschnaufen. Setzte sich umständlich wie vorsichtig auf die kleine Sitzfläche ihres Rollators. Eine kleine Gänsehaut eroberte Kempowskis Unterarme.
11. Olios suavis
Zimmermann schwitzte. Humpelte. Stöhnte. Wünschte sich insgeheim so einen Rollator an seiner Seite, über den er noch in den Morgenstunden mit Holger Baum gelästert hatte. Beziehungsweise felsenfest geleugnet hatte, dass er so einer Gehhilfe bedürfe. »Wissen Sie, junger Mann, wenn ich erst einmal hinter so einem Wägelchen hertröppele, dann ist es nicht mehr lange hin bis zum Treppenlift, zum Badewannenkran, geriatrischen Hygieneartikeln und ähnlichen Utensilien des Untergangs. Wenn es soweit ist, schaffe ich mir doch lieber eine großkalibrige Handfeuerwaffe an. Auf Ratenzahlung.«
Dem Heimatpfleger hatte Zimmermanns Haltung imponiert. »Respekt, Herr Zimmermann, aber Sie wissen schon, dass wir einen Fußmarsch durch den Ort vor uns haben?«
Er hatte nur milde gelächelt. Lakonisch geantwortet. »Ich habe schon ganz anderes überstanden.« Das stimmte wohl: Shoa. Emigration. Die Odyssee, bis Zimmermanns endlich in Kanada eine neue Heimat gefunden hatten. Das Erlernen der neuen Sprache. Und dann das ganz normale Hamsterradrennen: Highschool, Studium, Selbstständigkeit. Mehrere berufliche Schiffbrüche. Zwei Ehen. Kinderlos. Womöglich dadurch begründet zwei Ehefrauen mit Alkoholproblemen. Zuletzt dann noch die Rückkehr nach Deutschland und das Chaos, das er durch sein Auftauchen in Ahrenshoop ausgelöst hatte. Da würde er doch einen Spaziergang durch Born mit links wegstecken. Überdies besaß Zimmermann noch genügend männliche Eitelkeit, um mehr als nur ein bisschen stolz darauf zu sein, dass er noch so gut in Schuss war. In jederlei Hinsicht. Immerhin war er im März neunzig geworden. Ohne dies jedoch in seinem Kreis großartig publik zu machen oder gar zu feiern. Derlei Saturnalien lagen ihm nicht.
»Außerdem kann so ein Zwiebelporsche ja auch einen Risikofaktor darstellen. Denken Sie an den »Mumienmörder«, wie der Täter inzwischen in den Schlagzeilen genannt wird.« Natürlich hatte es sich Holger Baum nicht verkneifen können, auf den Rollator vom Zingster Friedhof anzuspielen. Der Fund des toten Arztes war seit der grausigen Entdeckung vor zwei Tagen Gesprächsthema Nummer eins auf der Halbinsel. Auch in der Pension Kuhfuß. Lore Bradhering ließ keine Gelegenheit ungenutzt, davon zu sprechen und nornenhaft darüber zu räsonieren, dass es nun wieder losginge und sie alle in Gefahr seien. In großer. Sie verließ seitdem das Haus nicht mehr alleine und hatte sich daher für den heutigen Tag Richard Sonntag als Begleiter für diverse Arztbesuche und Besorgungswege reserviert. Zimmermann war es recht gewesen; beschäftigte sich doch auch der treue Gefährte für seinen Geschmack zu intensiv mit dem Mordgeschehen. Gestern Abend hatte er ihm ernsthaft vorgeschlagen, dass das Borner Team auf eigene Faust Ermittlungen anstellen solle, um möglicherweise Ärgerem vorzubeugen. Wo sie doch im vergangenen Herbst maßgeblichen Anteil an der Lösung jener mysteriösen Mordserie gehabt hatten, insbesondere er, Robert Aaron Zimmermann, wertvolle Hinweise liefern konnte.
Er hatte abgelehnt. Kategorisch. Auf seine eigene, persönliche Mission verwiesen, der er sich ganz und gar mit voller Energie widmen wollte. Der Suche nach Olaf Hegerdorp.
Ebenso energisch hatte er Holger Baum gebeten, den »Mumienmörder« ruhen zu lassen und zu ihrem eigentlichen Ansinnen zu wechseln: dem KZ-Außenlager Born.
Ausgangspunkt ihrer kleinen Zeitreise war der Borner Hof am Ende der Schulstraße gewesen. Um 1872 hatte der Kapitän Reinhold Witt an dieser Stelle zunächst einen Kolonialwarenladen eröffnet, den er 1885 zur Gastwirtschaft mit Saal und Fremdenzimmern ausbauen ließ. Unter dem Namen Witt’s Hotel entwickelte sich der Betrieb in wenigen Jahren zum ersten Haus am Platz. Unter anderem ließ sich Prinz Eitel Friedrich, der zweite Sohn des Kaisers, von hier aus mit erlesenen Getränken und Tabakwaren beliefern, wenn er und seine Entourage zur Jagd auf dem Darß weilten.
In den Dreißigerjahren wechselte der Besitzer und fortan führte Max Albitius die Wirtschaft als Borner Hof. Dem übrigens, wie der Heimatkundige augenzwinkernd anmerkte, Martha Müller-Grählert ein Gedicht gewidmet hatte.
Im Frühjahr 1944 dann die Beschlagnahmung durch die SS. Die Fenster wurden vergittert und im ehemals von Lachen und Juchzen erfüllten Festsaal zog das Schweigen der ersten Häftlinge ein. Wobei, wie Baum einfügte, bereits vorher in der Alten Oberförsterei vier Häftlingsfrauen untergebracht worden waren. Alle Zeuginnen Jehovas, abkommandiert aus dem KZ-Ravensbrück. Das Forsthaus, das heute das Forst- und Jagdmuseum Ferdinand von Raesfeld beherbergt, sollte später auch noch von ihnen angesteuert werden.
Zunächst hatten sich Baum und Zimmermann aber auf den Weg zum einstigen Standort der Borner SS-Meilerei begeben. Mitten durch den Ort. Mitten durch den damaligen Alltag der Bevölkerung. So wie mutmaßlich jene Männer damals; anfangs eine relativ kleine Gruppe von 15 Mann, die im September 1944 um gut 100 russische Kriegsgefangene aufgestockt wurde.
Für den Heimatfreund war es wichtig, den Weg der Häftlinge nachzuschreiten. Jeden Meter. Er hatte das mit Verve begründet. »Sicherlich, die Geschehnisse und Verhältnisse hier vor Ort sind nicht mit jenen in den großen Lagern zu vergleichen. Nicht einmal mit denen in Barth. Doch gerade diese Verankerung mitten im Dorf hat für mich etwas Besonderes. Hier gehörten Faschismus und Unmenschlichkeit zum ganz normalen Leben. Wohnten sozusagen Tür an Tür. Lauerten hinter Gartenzaun, Sonnenblumen und Eibenhecken. Die täglich präsente »Banalität des Bösen«. Wie es auch etliche Aussagen von Zeitzeugen belegen. Hier konnte man nicht wegschauen, von nichts wissen wollen. Das Gedenken daran ist, gerade weil nichts Spektakuläres zu sehen ist, für mich auch ein Bestandteil der Erinnerungskultur. Insbesondere in der gegenwärtigen Zeit.«
So waren sie vom Borner Hof über Schulstraße und Kurze Straße zum Straßenzug Im Moor marschiert. Dann ein längeres Stück geradeaus. Am Friedhof vorbei. Und dann rechts abgebogen und Am Wald entlang. »Hier müssen Sie sich die Meilerei vorstellen.« Holger Baum hatte auf ein Waldstück vor ihnen gewiesen, das zwischen den beiden Männern und der L21 im Hintergrund lag. »Wobei dies ja die zweite war. Die erste war anfangs bei Bliesenrade. Können wir nachher auch noch hin. Mittelfristig war der Betrieb zu uneffektiv, sodass man direkt an den Darßrand wechselte. Direkt zum begehrten Rohstoff, dem wertvollen Holz. Für dessen Einschlag der überwiegende Teil der Gefangenen zu sorgen hatte. Es ging ja eben auch um wirtschaftliche Interessen.«
Zimmermann hatte aufmerksam zugehört. In das schöne Stückchen Natur vor sich geschaut. Und versucht, sich Szenen aus jener fernen Zeit vorzustellen, die ihm gegenwärtig sehr nah war. Zu nah. Denn außer hochinteressanten Informationen hatte der Chronist leider auch eine negative Nachricht in seinem kleinen Wanderrucksack. In den erhaltenen Dokumenten zu den SS-Wachmannschaften war kein Olaf Hegerdorp zu finden. Die meisten der eingesetzten Männer kamen zudem nicht aus der Gegend.
Ungeachtet dieser Enttäuschung fühlte Zimmermann, dass ihn dieser Gang seinem Ziel nähergebracht hatte, bringen würde. Er war ein Stück weiter in die Atmosphäre jener Epoche eingedrungen, spürte den Zeitgeist jener Jahre.
So hatte er weiter versonnen auf die grünbraune Wand vor ihm geblickt. Impressionen imaginiert. Hatte die Köhleröfen, die sogenannten »Retorten« gesehen. Die arbeitenden Männer in verschlissener Sträflingskleidung und derben Holzschuhen. Russische Wortfetzen gehört. Deutsche Befehle. Bellende Schäferhunde. Und das Lied der schlagenden Äxte und fallenden Bäume.
Sowie ein sich näherndes Fahrrad, dessen Rumpeln von Singsang begleitet gewesen war. »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …« Und sich genähert hatte. Der Gegenwart entgegen. Zimmermann hatte Ross und Reiter, Gespann und Radler sogleich erkannt: Bastian, den eigenwilligen Künstler und Stipendiaten des Partikel-Hofes. Auf seinem vollgeladenen Anhänger Dung. Von den Rindern des Gutes. Den er wahrscheinlich für eine seiner Arbeiten benötigte.
»Kennen Sie den?« Holger Baum hatte Bastian kurz, aber freundlich zugenickt. »Komischer Vogel. Doch eine Seele von Mensch. Kümmert sich ganz rührend um das »Russengrab« auf unserem Friedhof. Ganz in der Ecke. Im Armesünderwinkel. Wo im Oktober 1944 fünf Männer verscharrt wurden, die von der SS auf der Flucht erschossen worden waren. Dieser Bursche hat tatsächlich den Gedenkstein gesäubert, die Inschrift erneuert, das Gesträuch beschnitten. Und eine Art Gesteck gebastelt. Aus Stacheldraht, den er um einen alten Löffel gewunden hat. Einen uralten Löffel. Verbogen. Patiniert. Den er hier im Wäldchen ausgegraben haben will. Oh, Entschuldigung …« Baums Smartphone hatte sich bemerkbar gemacht. Diesmal mit der dezenten Melodie der Müller-Grählertschen Ostseewellen. »Meine Mutter …«
Nach zwei, drei Minuten Wortgewechsel hatte er das Gespräch beendet. Und leider auch die gemeinsame Exkursion. »So ein Mist, tut mir leid, aufrichtig leid. Aber wir haben einen Wasserschaden. Die alte Waschmaschine in der Küche. Da ist irgendein Schlauch losgegangen. Während meine Frau Mama einkaufen war. Jetzt ist Sturmflut in unserer Hütte angesagt. Sorry, aber den Rest des Programms können wir ja die Tage nachholen. Wollen Sie mit zurück zum Borner Hof? Habe dort meinen Wagen geparkt.«
Zimmermann hatte sich entschieden, noch zu bleiben. Beziehungsweise seinen Fantasien zu folgen. Das Bild vom Löffel hatte ihn angeregt. Zutiefst bewegt. So hatte er sich von Holger Baum dankend verabschiedet, ihm viel Glück im Kampf mit den Wassermassen gewünscht. Und sich in seinen eigenen gestürzt. Ins Unterholz des Waldes.
Mit stetem Blick auf den Boden war er so durch den Forst gestromert. In der vagen Hoffnung, womöglich auch ein Artefakt zu entdecken. Dem Waldboden zu entreißen. Dem Vergessen. Was ihm jedoch nicht beschieden war. Zudem hatte er sich verfranzt. Die Orientierung verloren. Obgleich er sogar sein Smartphone am Mann hatte. Was ihm jedoch ohne Empfang auch nichts nützte.
Gut eine Stunde war er so durchs Dickicht gestolpert. Von Mücken zerstochen. Von Farnwedeln gepeitscht. Bestimmt hatte er sich auch noch Zecken eingefangen.
Endlich hatte sich der Urwald gelichtet und er war an eine Weide gelangt. An dessen Elektrozaun er vorsichtig Richtung Straße weitergegangen war. Die erste Abzweigung von der Bäderstraße nach Born. Höhe Ibenhorst.
Nun schwitzte er. Kratzte seine Insektenstiche. Fluchte leise. Vor ihm lagen noch mindestens drei Kilometer. Und das bei nunmehr prallem Sonnenschein.
So besann sich Zimmermann aufs gute alte Hitchhiking. Jene günstigste Form des Reisens, die ihn als Studenten oft durch die Weiten Kanadas geführt hatte.
Er drehte sich um. Hielt keck den Daumen in die Höhe. Setzte eine vertrauenserweckende Unschuldsmiene auf.
Prompt näherte sich ein Auto. Als ob es auf ihn gewartet hätte. Ein älteres Fahrzeug. Der ziemlich verschmutzte Kombi verringerte die Geschwindigkeit. Bremste. Hielt an. Zimmermann beglückwünschte sich zu seinem Einfall. Begrüßte den Fahrer. Äußerte seine Bitte. »Guten Tag, fahren Sie nach Born, Ortsmitte, und können mich ein Stück mitnehmen?«
»Kein Problem. Steigen Sie ein. Nur herein in die gute Stube.« Der Fahrer lächelte mit einladender Geste. Ein junger Mann. Etwa Anfang dreißig. Das dunkle Haar kurz geschnitten. Der Vollbart ebenfalls gestutzt. Dazu ein schwarzrot kariertes Hemd. Hochgekrempelte Ärmel. Zimmermann fand ihn sympathisch. Wusste inzwischen, dass der Look kanadischer Holzfäller auch hierzulande recht beliebt war.
Plötzlich ertönte etwas von der Rückbank. Schon wieder ein Handy. Mit höchst unangenehmen Klingelton. »Die Fahne hoch, die Reihen festgeschlossen …«
Das Horst-Wessel-Lied. Zimmermann erkannte es. Drehte sich um. Und sah nun in das runde, fette und mit Pickeln übersäte Gesicht eines kahlgeschorenen Mannes. Der ihn frech angrinste und blitzschnell ein mit einer stark riechenden Flüssigkeit getränktes Tuch vors Gesicht presste. Dann schwanden ihm die Sinne.
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