Kitabı oku: «Die heilige Henni der Hinterhöfe», sayfa 3
Erwerbsleben
Im Sommer 1919 trieben es die Berliner den Stadtvätern dann zu bunt, und das Organisieren von Tanzveranstaltungen wurde ebenso verboten wie das Fischen mit Handgranaten, womit die Kriegsveteranen sich den Hunger und die Zeit vertrieben. Die Jungens, auch Kuddl, spielten fortan wie besessen Fußball, das war neuerdings sogar Schulsport, und dort konnte man noch richtig gewinnen. Die Mädels tanzten im Privaten mit »geladenen Gästen«, und statt Frischfisch aus den Berliner Seen gab es »Proteine aus der Tube«, wie Anna Köchel scherzte, die es von allen Mieterinnen in der Kaserne am dollsten trieb. Sie wohnte im Vorderhaus unterm Dach und veranstaltete dort sogenannte Schönheitsabende.
Was Anna Köchels Scherz bedeutete und dass Berlins »Sexualisierung« nun eben in den Hinterhöfen blühte (oder in Anna Köchels Dachwohnung), begriff Henni erst, als sie entschied, berufstätig zu werden. Was man in der Schule lernte, war ja ein paar Wochen später ohnehin nichts mehr wert, das wussten auch die Lehrer, und entsprechend freudlos schleppte sich der Unterricht. »Unsere Gesellschaft geht vor die Hunde«, sagte Rektor Hinrichs gar in seiner letzten Quartalsansprache, »in solchen Zeiten lernen Sie am besten zu schnüffeln.« Er wollte damit wohl nur Lacher ernten, aber die national gesinnten Burschen führten sich tatsächlich auf wie bissige Hunde, trugen Schlagringe und Gummiknüppel mit sich, steckten ihre Nase in alles, und wenn sie fanden, einer komme ihnen zu kommunistisch, lauerten sie ihm auf und hauten ihn weg. Auch Rektor Hinrichs wurde ein paar Wochen nach seiner Ansprache halb totgeschlagen und kehrte nicht in den Dienst zurück.
Seit ihrem sechzehnten Geburtstag war Henni aus der Schulpflicht. Den Winter über hatte sie noch durchgehalten, dann aber schmiss sie die Schule von einem Tag auf den anderen, ging stattdessen zum Frisör und wollte andere Haare.
»Wie denn?«, fragte Herr Pavellek, der ganz unbeschadet aus dem Krieg zurückgekehrt war (nur sein verkürztes Bein hatte er natürlich noch).
»Was weiß ich« sagte Henni. »Am liebsten hätte ich sie kurz wie meine Jungens.«
»Da hab ich was«, sagte Pavellek und zeigte ihr das Bild einer englischen Tänzerin, die Irene Castle hieß. »Nennt sich Bob, soll Mode werden.«
Den Bob fand Henni toll, und sie beschloss auch gleich, wie Irene Castle Tänzerin zu werden.
»Ach Kind, muss das sein?«, fragte Mama.
Papa sagte erst gar nichts, dann sagte er: »Was soll man in dieser Zeit auch werden.«
Und als Henni erzählte, dass Fräulein Stresemann fand, sie hätte genau die Beine dafür, und sie ganz ohne Geld anlernen wollte, waren sie doch froh.
Fräulein Stresemann war ihre Nachbarin gewesen, ehe die Binneweisens sich hatten verkleinern müssen. Sie war adrett und freundlich, und als Mama fragte: »Die tanzt doch klassisches Ballett, nicht wahr?«, konnte Henni mit fast reinem Gewissen nicken. Das Ballett war nämlich pleitegegangen, und Fräulein Stresemann tanzte jetzt modern. Und nackt. Bei Anna Köchel. Aber alle Welt tanzte jetzt nackt.
Die Sache mit dem Verkleinern war die gewesen: Nach Kriegsende hatte die Post Arthur Binneweis in eine niedrigere Lohnstufe versetzt – vorübergehend, hieß es –, und sie waren ins vierte Hinterhaus gezogen. Statt einer Wohnung hatten sie nur noch ein Zimmer mit Ofen, Henni hatte ihr Bett unter der Treppe beim Etagenklo. Kreti und Pleti kamen da durch, aber es waren alles gute Leute, außerdem schlief Kuddl einen Stock höher, auch unter der Treppe, und »bewachte« sie. Inzwischen war Kuddl allerdings politisch geworden, besuchte Abendkurse am Schlossplatz und blieb meist die halbe Nacht weg. Das bedeutete, Henni konnte schalten und walten, wie sie wollte.
Ohne das wäre aus ihren Zukunftsplänen auch nichts geworden. Denn Fräulein Stresemann – die sich nun »Mitzi« nannte – unterrichtete sie nachts von zehn bis drei viertel zwölf. »Das heizt mich gleich prima auf«, erklärte sie. Danach, Schlag zwölf Uhr, ging, nein, glitt und hüpfte sie zu Anna Köchel ins Vorderhaus und tanzte sich die Hitze wieder aus dem Leib.
Bereits am ersten Abend lernte Henni eine gute Stunde lang, um Fräulein Stresemann herumzugleiten und -zuhüpfen und »sich der Musik zu öffnen«. Nach Mitternacht lernte sie dann alles andere.
Huren
Als Erstes: Nur tanzen um des Tanzens willen tat niemand mehr. Mitzi Stresemann war, was man eine »Minette«, ein »Kätzchen« oder eine »Kratzbürste« nannte: Mit den Schleiern, die sie einen nach dem anderen fallen ließ, fesselte sie nach dem Tanz elegante Herren und plagte sie gegen gutes Geld je nach Wunsch bis aufs Blut oder »bis zur Erlösung«. Oder beides. Auch Mitzis schöne Füße waren beliebt, und gegen Aufpreis (und ein Pfand von zwanzig Mark) spielte sie auch schon mal »Rennpferd«. Das Pfand war für den Fall, dass vom Ritt oder von der Rute Striemen blieben, die wollte sie nicht haben. Anna Köchel war aber nicht nur Gastgeberin der Schönheitsabende, sie angelte sich Kundschaft auch über Inserate in Zeitschriften, die Die Schönheit, Licht, Luft, Leben oder Nackt-Sport hießen. Dort bot sie sich als Masseuse an, was im Jargon »Fohse« hieß. Und weil Anna Köchel Fernsprechanschluss hatte, vermittelte sie auch gleich noch sogenannte Jungfrauen, das waren damals die Töchter vom Kutscher Schuler, die zwölf, dreizehn und sechzehn waren und, wenn eine Bestellung eintraf, unter großem Hallo der Gesellschaft geschminkt und als Filmstars verkleidet wurden (Milli Schuler, die Jüngste, war besonders süß als Fritzi Massary). Danach wurden sie per Autodroschke ausgeliefert. Henni hätte auch so ein Telefonmädchen werden können – alle waren sich einig, dass sie eine reizende Lucy Mannheim abgab – und hätte in einer Nacht so viel verdient wie Papa Binneweis im ganzen Jahr nicht.
Aber sie wollte gar kein Geld, sie wollte tanzen. Nackig oder angezogen, das war ihr egal, und wenn sie dafür Mettwurst-Schnittchen satt bekam und Sekt, umso schöner. Klar, war ein Herr sehr elegant und roch gut, setzte sie sich auch mal auf sein Knie und ließ ihn tatschen. Aber ebenso gern tanzte sie die ganze Nacht nur für sich – nachdem sie erst die Pflicht erledigt hatte, Mitzi Stresemann zu umhüpfen, »wie eine freche Maus die schöne, träge Persianermieze neckt« –, summte mit geschlossenen Augen zur Musik, satt und bloß, und sagte sich: »Wie angenehm kann doch das Leben sein.«
Und alle waren da. Die schöne, unnahbare Julia Zeiss aus dem Seitenflügel rechts, Gattin eines Uhrenhändlers, entpuppte sich als »Demi-Castor«, das hieß, sie verkaufte sich im Westen, in einem Etablissement erster Güte, sobald ihr Mann in seinem Laden war. Zu Anna Köchel kam sie nur zur Messezeit, da war er in der Schweiz. Nackig machte die sich nie, sie geizte sehr mit ihren Reizen, trotzdem wollten immer drei, vier Männer ihre Anschrift. Fleischers- und Soldatenwitwe Käthchen Kull kam in Strapsen und mit Peitsche. Sie schlug gegen Bezahlung, aber auch sonst, wenn ihr gerade danach war, und verteilte Werbekärtchen, führte sie doch in der stillgelegten Schlachterei von ihrem Hubert selig eine sogenannte Körperkultur-Klinik.
Susi von Leim war hinterm Ku’damm »Apothekerin« und kam zu Anna Köchel auf der Suche nach »Pillen«. Als Henni das hörte, begriff sie erst gar nichts, doch Susi von Leim erklärte es so: »Kommtn Kunde in meine Apotheke und sagt: Ick habe son Leiden, schon zehn Tage, und bräuchte dringend ne blonde Pille, aber nur vom Süßesten. Icke: Kann ick liefern, macht dreihundert bar uff die Kralle, dazu krieg ich Adresse und gewünschte Uhrzeit. Jibt er mir, und ick schick ihm die wirklich zuckersüße Lili Heißenbüttel, kennste, oder? Jüngste von acht Kriegswaisen, wohnt bei uns im dritten, die is blond und haarscharf zehne, wie gewünscht, verstehste? Zehn Tage Leiden heißt zehn Jahre, blonde Pille heißt der kleene Blondschopf. Weil, legal is dit ja nich. Aber wer fragt danach? Ham doch die Heißenbüttelkinder wieder einen Monat wat zu fressen. Du rutschst vielleicht auch noch rein, Henni, wie alt biste? Ick nehm Mädels bis sechzehn.« Als Henni ihr sagte, sie sei ganz zufrieden nur mit Tanzen, lachte Susi von Leim, als hätte Henni einen schmutzigen Witz erzählt: »Du kommst schon ooch noch.«
Anna Köchel besuchten nicht nur einzelne Kunden, auch viele Paare waren da und ganze Cliquen, die es einfach herrlich fanden, nackte Mädels wie eben Henni anzusehen, das brachte ihr Blut in Schwung. Auch dafür hatte Anna Köchel vorgesorgt: Zwei Zimmer mit aufgeschlagenen Betten standen bereit, da durften die Herrschaften sich dann gegen eine kleine Miete verlustieren, und manchmal hüpfte eines der Mädels mit dazu, nur so zum Spaß. Das hätte auch Henni manchmal gereizt, sie sah dann aber doch höchstens mal von der Bettkante aus zu, »damit ich lerne, wie die Sache läuft«. Sogar dafür bekam sie manchmal Trinkgeld.
Das Leben bei Anna Köchel war schon herrlich. Die Krönung war ja, dass ein Fürst von Pappenhofen oder so, einer mit Melone, Stock und Frack, Henni bat, seine Tischfrau zu sein, er wollte einen kleinen Empfang für ausländische Diplomaten geben. Sie hatte schon zugesagt, dachte, als Tischfrau begleitet man den Herrn zu Tisch und plaudert Unsinn, aber denkste. Mitzi Stresemann erklärte ihr, dass Tischfrau die edelste Form von Hure war, die es nur in den teuersten Privatclubs im Westen gab. Tischfrauen tanzten auf dem Tisch, daher der Name. Sie mussten aber nicht bloß tanzen können und den Herrn befriedigen, sie mussten mordsschön sein und alle möglichen Sprachen sprechen, denn ihre Gäste waren Künstler, Filmstars und Politiker. Dass einer sie zur Tischfrau wollte, war also eine große Ehre, und hatte sie dazu noch ein klitzekleines Quäntchen Masel, wachte sie am anderen Morgen auf und war eine Frau Großmogul. Henni sagte trotzdem wieder ab. Ihr reichten Anna Köchels Mettwurst-Schnittchen.
»Wie gut so ein kleines bisschen Elend der Menschheit doch steht«, sagte Anna Köchel oft nachdenklich, während sie und Henni auf all die nackten Hintern und roten Köpfe sahen.
Romanows
Dabei schien es tüchtig aufwärtszugehen. Denn die halbe Welt strömte jetzt nach Berlin. Es wimmelte von Kriegskrüppeln und heimatlosen Soldaten, die nach und nach aus den Lazaretten oder aus Gefangenschaft und den Lazaretten entlassen wurden, von Russen, die alle irgendwie mit dem Zaren verwandt waren, von Landpomeranzen und schnieken Amerikanern.
Die Russen, das waren in Hennis Kaserne zwei Schwestern mit ihrem scheintoten Großonkel. Die Schwestern, selbst schon halb über den Jordan, waren vor der Revolution angeblich Schneiderinnen am Hof der Zarin gewesen, der Großonkel gar Minister. Sie zogen mit Truhen voller mottenzerfressener Pelze, Perücken und viel Brokat ein: Kissen aus Brokat, Hüte aus Brokat, Schuhe aus Brokat. Das meiste speckig und fleckig, weil sie aber behaupteten, an den Sachen klebe das Blut der Zarenfamilie, und auch haarklein von der Hinrichtung jedes einzelnen Sprosses der Zarenfamilie erzählen konnten, kriegten sie die Sachen doch los, vor allem an die Amis.
Die Schwestern nannte man Anna und Olga, den Großonkel Herrn Schirjajew, und Henni wurde mit ihnen bekannt, weil Mitzi Stresemann sich bei den Russinnen ihre Schleier schneidern ließ und auch für Henni ein Kostüm in Auftrag gab: ein keckes Trikot aus Crêpe Georgette mit Kapuze und Mäuseohren, was Henni das gewisse Etwas gab, das alle sehr bewunderten. Niemand jedoch fasste es so schön in Worte wie Demi-Castor Julia Zeiss: »Henni Binneweis ist fortan unser Cherub«, sagte sie, »ein Engelswesen, halb Tier, halb Mensch, das uns dereinst erlösen wird, wenn wir für unsere Ferkeleien in der Hölle braten.« Dafür fiel Henni ihr um den Hals, und Julia Zeiss küsste sie doch glatt, vor allen und mit Zunge, sodass Henni nochmals ganz anders wurde und sie für ein Weilchen fast verliebt war in Julia Zeiss.
Und weil die Crêpe Georgette andauernd riss, saß Henni oft bei Anna und Olga im Souterrain im vierten Hinterhaus und ließ sich in ihrem herrlich verwickelten Deutsch erzählen, wer wen wie in Russland in den letzten zwei Jahren verraten und beerbt oder verschleppt und ausgehungert und vergewaltigt hatte und danach erschossen, vergiftet, erstochen oder bei lebendigem Leib verbrannt und danach verbuddelt, gehäutet oder in Säure gebadet. Es waren alles Menschen mit wunderbaren, unaussprechlichen Namen und angeblich nur den vorzüglichsten Eigenschaften, einer reizender, großherziger, bezaubernder als der Nächste, jedermann unendlich bedauernswert in der einen Geschichte – »armes Häschen«, riefen die Schwestern dann in seltener Einmütigkeit im Chor und fuchtelten mit dem zerkratzten Lorgnon, und Herr Schirjajew brummte dazu und sabberte braunen Kautabaksaft – und ein kaltherziger Meuchler in der nächsten, ein Jud, nicht wert, noch namentlich genannt zu werden. Darüber stritten die beiden sich auch pausenlos, wobei sie einander weiter liebevoll Anjenka und Oljenka nannten, denn was sie erzählten, waren ja alles Gerüchte. Tatsache war nur, die Menschen waren fort und verschwunden – wie und warum, erzählte jeder Russe anders.
Außerdem lernte Henni von Anna und Olga kochen mit nun aber wirklich gar nichts, darin waren sie noch gewiefter als Mama Binneweis. Aus Wurstpelle, Kartoffelpelle, Binsen und Simsen, die sie am Spreeufer pflückten, dort, wo es matschig war, dazu einem Löffel Riemenfett, kochten sie ein Süppchen, das Henni besser schmeckte als ein paar Jahre später im Westen Rumpsteak flambé und Spargelsalat.
Landeier
Im Frühjahr 20 zogen dann drei Busenfreundinnen aus der Lüneburger Heide ein, die Henni richtig ins Herz schloss, die aber leider zu blöd für die Stadt waren und nicht lange blieben. Minna, Auguste und Bertha waren Ausreißerinnen, die hofften, in Berlin ihr Glück zu machen. Sie kamen mit einer Ziege und drei Hühnern im Gepäck, weil sie offiziell zu einem Schullager an der Ostsee unterwegs waren und Minnas Papa, der Kleinbauer war, gefürchtet hatte, sie müssten dort Hunger leiden. In Kühlungsborn, dort unterhielt ihr Dorf mit ein paar anderen Dörfern nämlich ein Ferienheim. Im Übermut hatten sie beim Umsteigen in Rostock die Fahrkarten getauscht, den Zug in Richtung Wittenberg bestiegen und sich eingebildet, sie könnten dieses Berlin im Vorbeimarsch erobern. Sie waren wie Henni sechzehn und stotterten vor Aufregung, dass sie es tatsächlich nach Berlin geschafft hatten. Henni führte sie in den ersten Tagen ein bisschen rum, zeigte ihnen das Schloss, das Brandenburger Tor, das KaDeWe und wie man die U-Bahn benutzte dafür lernte sie melken.
Die Ziege hatten die Mädels allerdings nicht lange. Die Hühner, für deren Gehege Henni Justus Karnerich mobilisiert hatte, kamen schon in der ersten Nacht weg. Danach hielten sie die Ziege auf dem Dachboden (die drei wohnten zur Untermiete bei Schuster Klapp, im selben Schlag, in dem einst Hendrik »Eene hab ick ja noch« gewohnt hatte), eines der Mädels schlief immer bei ihr und bewachte sie. Doch so eine Ziege ist nun mal weitherum zu hören und zu riechen, und als Minna in der fünften Nacht Wache schob, bekam sie Besuch von unbekannt. Noch im Schlaf fing sie sich eine satte Ohrfeige ein und fasste sich erst, als die Ziege schon meckernd durch die Dachluke geflogen und mit dumpfem Krachen im Hof gelandet war. Als die Lüneburger Mädels im Morgengrauen endlich wagten nachzusehen, brutzelte sie sicher schon in einer Pfanne. Nur der Blutfleck war noch eine Weile zu sehen.
Danach wären sie am liebsten gleich wieder nach Hause, denn auch sonst kamen sie mit dem Stadtleben schlecht zurecht. Sie verstanden die Berliner Schnauze nicht, und wenn sie um Arbeit anstanden, waren sie viel zu langsam, zu höflich und zu scheu. Doch das Geld für die Rückfahrt hatten sie Schuster Klapp gegeben, und den Eltern zu schreiben, trauten sie sich nicht, denn offiziell waren sie ja zur Erholung an der Ostsee. Dass sie stattdessen einen verregneten April lang in einem dritten Hinterhof am Prenzlberg zur Untermiete hockten, ohne Ofen, ohne Geld, ohne Ziege und Hühner, ohne Arbeit oder auch nur ein wenig Hoffnung, schüttelte sie heftig, und keine wollte schuld gewesen sein. Da half es wenig, dass Henni prahlte, wie knafte ihr Berlin war, hatte man sich erst an ein paar Dinge gewöhnt, und sich allerhand Mühe gab, sie auf den Geschmack zu bringen.
In ihrem Mitleid nahm sie sie schließlich mit zu Anna Köchel. »Wenn ihr da keinen Spaß kriegt, weiß ich auch nicht. Und selbst wenn nicht, die Asche für die Heimfahrt verdient ihr da mit einem Wackler mit dem Hintern.«
So hielten Minna, Berta und Auguste durch, bis Anna Köchel von einer Reise zu ihrem Patenkind nach Travemünde zurück war, und an einem Freitagmittag ließen sie sich präsentieren.
»Ach Gottchen, was bringste denn da«, rief Anna Köchel erst nur, denn Landeier waren bei der Kundschaft wenig gefragt. Henni zuliebe fasste sie sich dann aber ein Herz, taufte die Mädels um in Hanny, Fanny und Tilly, schickte sie zu Anna und Olga, dass die ihnen etwas Schmissiges nähten (streng verbrieft auf Kredit), und versprach, sie ihren Gästen am anderen Abend anzudienen. Henni war begeistert, begleitete die drei zu Anna und Olga, und während Maß genommen wurde, brachte sie den Mädchen noch ein paar praktische Sätze bei wie: »Ohne Moos nüscht los«, »Kommste rin, kannste rauskieken«, oder: »Eenmal Küche ausjefeecht macht schlappe Fünfe, für Zehne mach ick mich noch nackich.«
Anna und Olga hatten ihnen aus »loser Raschelware«, wie sie eine olle Gardine nannten, hübsche Schlupfblusen genäht, deren Saum haarscharf dort lag, wo das Bein aufhörte und die Lüneburger Heide zu sprießen begann. Anna Köchel befahl ihnen, die Zöpfe aufzudröseln, rieb ihnen die Backen rot und drapierte sie direkt unterm Lüster auf dem Sofa. Sie sahen richtig süß aus, Henni war tüchtig stolz und überzeugt davon, dass sie Anna Köchel einen Renner beschert hatte. Allerdings futterten Hanny, Fanny und Tilly, noch ehe die Gäste eintrudelten, alle Mettwurst-Schnittchen weg. Danach hockten sie wie die Hühner auf der Stange steif und aneinandergepresst auf der Sofakante, kriegten den Schnabel nicht auf, wenn ein Herr sie ansprach, und Tilly fing auch noch an zu heulen. Anna Köchel bot die Lüneburger Mädels vier Stunden lang wie sauer Bier an, um Mitternacht ertrug sie ihre langen Gesichter dann nicht mehr und jagte sie in ihren Schlupfblusen davon.
Melken
Henni wollte den dreien nach und rannte auf dem Treppenabsatz in Hanny, die hatte noch im Hof kehrtgemacht. Vor den anderen Mädels hätte sie sich ja geniert, sagte sie mit hochrotem Kopf, aber eigentlich hatte sie sich noch gar nicht sattgesehen.
Und ohne ihre Freundinnen blühte Hanny so richtig auf. Erst tanzte sie ganz ungefragt mit Henni um Mitzi Stresemann herum und half die Schleier fangen. Dafür durfte sie zusehen, als Mitzi mit einem der Herren im Zimmer verschwand, und danach glühte sie so reizend, dass sie noch vor ein Uhr die ersten beiden Freier hatte. Das beeindruckte sogar Anna Köchel, sie gab einen Toast auf Henni aus und erkor sie feierlich zur geborenen Kupplerin.
Als Henni auch noch verriet, dass Hanny richtig echt melken könne, und Hanny übermütig rief: »Die Henni kann das aber auch!«, ging es erst richtig rund, denn Anna Köchel arrangierte daraus gleich ein Sonderprogramm. Bis morgens um viere saßen Hanny und Henni breitbeinig auf dem Sofa und molken der Reihe nach alle anwesenden Herrschaften, manche gleich zwei- oder dreimal.
So kam Henni zu ihrem ersten »Fleischkontakt« und ihrem ersten selbstverdienten Geld (abgesehen von den Dackelgroschen und ein paar Trinkgeldern fürs Zusehen). Hanny war von da an Teil der Familie, und weil Anna Köchel neuerdings ein Sonntagsfrühstück anbot, zu dem sie Anita Berbers Frühstücks-Elixier reichte, was Chloroform und noch was auf echte Rosenblütenblätter geträufelt war, dazu gab es Opium in Pfeifen und Morphiumzäpfchen, die man sich gegenseitig verehrte, und weil Hanny Landei natürlich an dem Morgen besonders viel verehrt wurde, war sie auch gleich so süchtig, dass sie das nächste Wochenende kaum erwarten konnte.
Henni war schon früher zurück unter ihrer Treppe. Ausschlafen war dort sowieso nicht, und zu Binneweisens Sonntagsspaziergang wollte sie auch nicht zu gerädert erscheinen.
Sie spazierten an der Spree entlang, weil endlich mal die Sonne schien und man dort am meisten davon abbekam, und Henni war noch immer guter Laune, weil sie am Abend davor doch viel Gutes getan hatte.
Als sie zurück in die Mietskaserne kam, wartete eine heulende Hanny auf sie und erzählte, dass ihre schöne Busenfreundschaft mit Fanny und Tilly in die Binsen gegangen war. Tilly war nach dem Rausschmiss bei der Köchel nur noch schnell bei Schuster Knapp vorbei, um ihr Köfferchen und den rollbaren Hühnerkäfig zu holen, danach war sie mitten in der Nacht zum Bahnhof, um den ersten Zug nach Lüneburg zu kriegen, ohne jedes Geld. Fanny hatte vergeblich versucht, sie aufzuhalten, und danach die ganze Nacht auf Hanny gewartet, die einfach nicht kam. Als Hanny um elf Uhr mittags dann endlich quietschfidel und beduselt in die Kammer trat, platzte Fanny vor lauter Sorge und aufgestautem Ärger und schrie sie nicht nur an, sondern biss sie und riss sie am Zopf (den hatte Hanny sich zum Melken wieder geflochten, damit ihr die Haare nicht in den Weg kamen, und die Herrschaften hatten es geliebt, sich daran festzuhalten). Hanny redete sich damit heraus, dass sie es nun mal nicht aushielt, bei Anna Köchel wegen des Kostüms in der Kreide zu stehen. Das immerhin verstand Fanny. Sie meinte sogar, eigentlich hätte es sie ja auch gereizt zu sehen, was man mit einem Kerl so alles anstellen könnte, wenn man mal die Scham beiseiteließ, und hätte die Tilly nicht so geheult, hätte sie auch mitgemacht. Worauf Hanny sagte: »Ja, aber das ist ja wonnebar«, und vorschlug, Fanny solle am andern Wochenende mit ihr und Henni zu Anna Köchels Schönheitsabend kommen, dann wären sie wieder zu dritt, und mit Henni könne man herrlich schweinigeln. Fanny fand es allerdings keine Art, wie die Köchel sie behandelt hatte, und dachte nicht daran, der auch noch Prozente abzugeben, sondern wollte sich auf eigene Faust verkaufen und erwartete von Hanny, dass sie mit von der Partie war. Hanny wiederum gefiel es in Anna Köchels Vorderhaus viel zu gut, und sie zerstritten sich gleich wieder, mit dem Resultat, dass Fanny ihr die Freundschaft kündigte. Und jetzt teilten sie zwar notgedrungen noch das Bett, aber Fanny hatte quer durchs Zimmer mit Kohle einen Strich gezogen, sogar mitten durchs Bett, und bewohnte jetzt die linke und Hanny die rechte Hälfte, und wenn Hanny zur Tür wollte, die in Fannys Hälfte lag, musste sie anklopfen und bitte schön sagen, und das war überhaupt das Einzige, was sie noch redeten.
Henni tat das alles furchtbar leid, trotzdem fiel ihr dazu nichts weiter zu sagen ein als: »Nu, nu, das wird schon wieder«, und: »Das Jesulein …«
Leider wurde es überhaupt nicht wieder. Inzwischen hingen an allen Ecken Plakate der Gesundheitsbehörde: »Berlin, halt ein, besinn dich, dein Tänzer ist der Tod!« Dafür hatte die Berliner Regierung das allgemeine Tanzverbot wieder aufgehoben, und Fanny – die sich auch weiterhin so nannte und nach Tillys Abreise mindestens so enthemmt war wie Hanny – rekrutierte ihre Männer auf den öffentlichen Bällen. Dabei holte sie sich gleich den Tripper, angelte sich aber auch einen sogenannten Onkel, älteres Semester, hochspendabel und kauzig, spazierte im sonnigen Mai mit Pelzkragen durch die Kastanienallee und zog denn auch bei Schuster Klapp aus, ohne sich mit Hanny versöhnt zu haben.
Selbst von Henni verabschiedete sie sich nur, weil sie sich zufällig noch einmal über den Weg liefen. »Ick bin dann besser mal weg, bevor meene Olln mich finden«, sagte Fanny schon ganz berlinerisch, und als Henni sich wunderte, dass das nicht längst passiert war, weil Tilly sie doch sicher verpfiffen hatte, lachte Fanny schmutzig und sagte: »Die Minna ist doch zu doof, um sich ne Anschrift zu merken. Außerdem wird sie froh sein, dass sie mit dem einen blauen Auge vom Ziegendieb davongekommen ist, und sich von uns kein zweites holen wollen.«
Tatsächlich hatte Minna sich nie gemerkt, in welcher Straße die Mietskaserne lag, sondern war Berta und Auguste immer nur nachgetrottet, was sich zeigte, als Hanny Landei in Lüneburg anrief. Das war auch wieder Hennis Idee gewesen, denn Hanny war chronisch pleite und inzwischen gehörig verschuldet. Was sie bei Anna Köchel verdiente, wurde gar nicht mehr ausbezahlt, sondern verrechnet, Anita Berbers Frühstücks-Elixier gab es ja nicht gratis, auch nicht für Anna Köchels Mädchen. Beim Schuster Klapp wohnte Hanny noch gegen Naturalien, aber das wollte der sich auch nicht ewig leisten, und Henni schlug ihr vor, von Anna Köchels Fernsprechapparat aus in die Lüneburger Heide zu telefonieren und den Herrn Papa um Unterstützung zu bitten.
»Sag, du hast ne tolle Chance, dich hier zur Herrenschneiderin ausbilden zu lassen, und brauchst die Penunse für eine eigene Nähmaschine. Will er Referenzen, reichst du ihn an mich weiter. Ich erzähl ihm was von Sakkos und Tuxedos und Jägerjoppen und Gabardinejacketts, bis ihm ganz blümerant wird.«
Das tat Hanny Landei. Sie erreichte den Papa in seiner Eisenwarenhandlung, kam aber gar nicht zu Wort (und Henni sowieso nicht), weil er gleich loswetterte, er hätte Hanny, nein, Auguste schon längst am Kragen oder an den Haaren zurück nach Lüneburg geschleppt, hätte er sie nur gefunden. Gleich zu dritt waren sie nach Berlin gereist, Fannys Vater, ihr Bruder und er. Aber Tilly hatte ihnen nur mit auf den Weg geben können, dass die ausbeuterische Hexe Anna Köchel hieß, und die war nicht registriert. Das kam daher, dass »Köchel« ihr Mädchen- und Künstlername war, während die Wohnung und der Fernsprechanschluss noch auf ihren Gatten selig liefen, und der hatte Huber geheißen und war anno 15 an der Italienfront im Gebirgskrieg gefallen.
Nachdem Hannys Vater sich am Telefon ausgetobt hatte, fragte er dann doch noch: »Von wo aus rufst du denn an?«, und Hanny war so blöd zu sagen: »Na, von Anna Köchel, und die ist ganz und gar keine Hexe!«
Worauf ihr Vater rief: »Ha, dann hab ich dich jetzt.«
Denn natürlich fragte er beim Amt an, auf wen der Anschluss registriert war, und tauchte am anderen Morgen bei der Köchel auf, um gehörig Rabatz zu machen.
Hanny hatte sich allerdings nach ihrem Lapsus dünnegemacht, und Henni durfte für sie Anna Köchels ramponierte Wohnungstür bezahlen, weil sie die dumme Idee mit dem Telefonat gehabt hatte.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.