Kitabı oku: «Eine kleine verrückte Reise»

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Timo Matys

Eine kleine verrückte Reise

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog: Ein Pizzabäcker schiebt sich dazwischen

1 - Klinik

2 – Die Abfahrt

3 – Nach der Abfahrt

4- Nach der Abfahrt: Anhalt

5 – Nach dem Anhalt: Abfahrt

6 – Duisburg: Ein Park, Teil I

7 – Duisburg: Ein Park, Teil II

8 – Wieder im Bus

9 – Die Schlacht bei Worringen

10 – Überlands, Teil I

11- Überlands, Teil II

12 – Überlands, Teil III

13 - Überlands, Teil IV

14 – Das Hotel Bayrische Höh‘

15 – Ein Erlebnis, erzählt

16 – Bayrische Höfe

17 – Das Watternorn

18 – Klaus, Poet

19 – Italien, oh Italien

20 – Ein Therapiegespräch - zwischengeschaltet

21 – Museo d‘Arte, Teil I

22 – Museo d‘Arte, Teil II

23 – Museo d‘Arte, Teil III

24 - Museo d‘Arte, Teil IV

25 – Im Hotel

26 – An einer Hotelbar, - erneut

27 – Durch die Po-Ebene

28 – Ein Blassnicht

29 – Verona, Teil I

30 – Verona, Teil II

31 – Verona, Teil III

32 – Verona, Teil IV

33 – Ich in Italien

34 – Bilder, wieder einmal

35 – Endlich Venedig, Teil I

36 – Endlich Venedig, Teil II

37 – Bei der Polizei: Ein Sprachproblem

38 – Endlich Venedig, Teil III

FRAGMENTARISCHES

Epilog

Anhang: Figuren

Impressum neobooks

Prolog: Ein Pizzabäcker schiebt sich dazwischen

EINE KLEINE VERRÜCKTE REISE

Auf Mario wirkten sie etwas merkwürdig, diese neuen Gäste.

Am Anfang war es ihm nicht aufgefallen, er hatte sie für normale Reisende gehalten. Doch dann hatte er bemerkt, wie eine Frau plötzlich zu zittern begann und eine Tablette aus ihrer Tasche nahm und sie mit etwas Wasser aus einer Plastikflasche herunterspülte. Eine zweite Frau tat wenige Minuten später dasselbe. Es waren keine Italiener, so wie er die Sprache einordnete, nachdem er einige Proben gehört hatte, es waren Leute aus dem deutschsprachigen Raum, Österreich, Schweiz oder von noch weiter nördlich. Niemand schien mit einem der anderen Reisenden verwandt zu sein, viele blieben still für sich allein an den Tischen sitzen, obgleich in Gesellschaft anderer, während andere sich übermäßig in den Vordergrund schoben und laut oder hysterisch lachten. Er wurde zu einem der nahegelegenen Tische gerufen.

"Italien, das ist Pizza", hörte er jemanden sagen, ohne den Sinn der Äußerung zu verstehen.

Während er die Bestellungen aufnahm, fiel ihm auf, dass es an einem Tisch, an dem drei Männer saßen, wohl sehr lustig herging.

„Und was haben Sie gedacht, als ich ihnen sagte, es sei im Jahre 1288, nein 1388, ach egal…“

„Ja, da lagen Sie falsch.“

Es waren zwei Männer, einer Anfang 40, der andere älter, die sich lautstark unterhielten und den dritten Mann ganz außen vor zu lassen schienen.

An einem anderen Tisch war ein sehr gewichtig tuender Mann damit beschäftigt, etwas aufzuzählen, wohl einen Spruchvers oder so etwas.

„Gregoricci, Dürer, Raffael, Tizian…“

Es ging um Kunst allem Anschein nach, aber davon hatte er keine Ahnung.

„Und ich sage Ihnen, in Venedig werde ich es finden“, sagte der Mann, während die anderen ihn bewundernd ansahen.

Mario reichte ihnen die Speisekarte und ließ sie, da er weder Englisch noch Deutsch sprach, die Speisen auf Italienisch studieren.

„Ahhh“, seufzte der Mann. „Italienisches Essen, jene Köstlichkeiten, die auch unsere größten Maler verspeiset haben.“

Mario verstand nur das Wort italiano, es musste wohl um Essen gehen.

„Bringen Sie uns eine Pizza“, sagte der Mann, nachdem er die Speisekarte für mehr als zwei Minuten studiert hatte. „Eine pizza, eine für uns alle.“

Mario nickte, obwohl er nicht verstanden hatte, und entfernte sich in Richtung Küche. Als er den Koch traf, unterhielt er sich mit ihm auf Italienisch.

„Komische Leute, nicht?“

„Warum?“

„Sie wollen alle Pizza, keine Nudeln oder so etwas.“

„Alle Pizza, oh, das wird schwierig.“

Sie machten sich ans Werk. Mario war ein geübter Pizzabäcker, den Teig musste man lange kneten und rollen, damit er eine gute Konsistenz bekam.

„Eh, Mario, was macht deine Frau?“, fragte ihn der Koch in gewohntem Alltagstrott.

„Es geht“, sagte Mario.

Sie kneteten weiter und schließlich schob Mario eine der Pizzen in den Ofen.

Plötzlich kam ein Mann in den Backraum, es war einer der Gäste, es war der wichtigtuende Mann, der etwas mit Kunst zu tun zu haben schien.

„Excuse me, excuse me“, sagte er. „I wanted to have a look at your pizza baking procedure.“ Er lächelte breit.

Mario sah den Koch an.

Der Mann sprach weiter: „Delightful pizza. I would like to eat them all by myself.“

Mario verstand nichts, doch der Koch erwiderte: „Please, we will bring the pizza to you in a moment.“

Der Mann zog ein Handy aus der Tasche und fotografierte die beiden, dann verließ er den Raum wieder.

Nachdem die Gäste gegangen waren, fand Mario ein Blatt Papier auf dem Boden. Es war ein Abdruck eines Kunstwerks oder von etwas ähnlichem. Es zeigte einen alten Mann mit einer Pflanze, sehr hässliches Bild.

1 - Klinik

Er saß in seinem Zimmer und starrte die Wand an. Die Wand war leer und weiß. Sie hatte keine Wölbungen oder Huckel, sie war glatt und unschön, - wie alle Wände in Krankenhäusern. Innerlich erschrak er bei dem Gedanken, dass dieses Weiß schon seit eineinhalb Monaten ein tagtäglicher Anblick war. Er bewegte seinen Arm zur Seite, drehte ihn langsam auf dem rauweichen Untergrund seines Bettlakens. Er fühlte seine Hand und das Blut in seiner Hand und fragte sich, was passieren würde, wenn seine Adern, überdehnt und mit Blut überfüllt, platzten. Er drehte weiter an seinem Arm und rieb ihn am Untergrund hin und her. Das Gefühl ließ ihn lebendig werden. Er hatte das so in der Therapie gelernt. Das bewusste Fühlen. Er hasste die Therapie.

Seit seiner Ankunft war er eingebunden in ein Todesnetz von Bewegungs-, Sport-, Musik-, Werk- und Ergotherapeuten, von denen er nur eines sagte, nämlich dass er sich nicht entscheiden konnte, welche von ihnen am schlimmsten waren. In der Musiktherapie wurde auf Blechen herumgehämmert und mit windschief in einer scheibenartigen Box liegendem Sand herumgespielt. In der Ergotherapie, der "Ärgertherapie", wie er sie für sich nannte, wurde wie im Kindergarten gebastelt, und die Bewegungstherapie, über die man außer ihrer Existenz nichts Abwertendes sagen konnte, war aufgrund ihres „gewichtigleichten“ Inhalts nichts für ihn. Er hatte den behandelnden Ärzten wiederholt versichert, dass er diese Therapien nicht brauche, doch man hatte ihn darauf hingewiesen, dass dies in den Zuständigkeitsbereich des Pflegepersonals falle, welches ihm wiederum eine Nichtteilnahme an den Therapien, wohl wohlmeinend, untersagte. "Herr Stubenmann", hatten sie gesagt. "Die Therapien sind essentiell für ihre Gesundung."

Das Leben im Krankenhaus bot wenig Abwechslung. Das morgendliche Wecken viel zu früh um 7. Das anschließende Frühstück mit den Stationsgenossen, anschließend erneut wahlweise Ober-, Chef- und Assistenzarztvisite, wenn nicht Therapien, dann Mittagessen (Mittagsruhe!) und wieder Therapien. Er ertrug es nicht, nicht mehr lange, so dachte er, aber er musste es ja auch nicht mehr lange ertragen.

Heute Morgen, in der Oberarztvisite, hatte ihm der Leitende Oberarzt des Krankenhauses und Leiter der Depressionsstation freudig ausladend mitgeteilt, dass er bald nach Hause dürfe.

"Es freut uns, dass Sie wieder gesund sind und dass es Ihnen besser geht."

Es ging ihm nicht besser als eineinhalb Monate zuvor, er war nun nur medikamentös ein-, oder besser, ruhiggestellt, er war nicht mehr ganz so traurig vielleicht, aber die Gedanken blieben dieselben. 'Welche Gedanken?', fragte ihn die Stimme in seinem Kopf, so wie ihn das die Ärzte jede Woche gefragt hatten. 'Alter, Einsamkeit trotz Ehe, Verfall'. Seine Frau hatte ihm beim letzten Besuch einen Brief hinterlassen:

Lieber Rudolph,

ich habe dir lange und doch ziemlich treu zur Seite gestanden, aber dein Zustand lässt mich nicht los. Es ist nicht dasselbe wie früher (und ich habe Annahme dazu, dass es das nie wieder werden wird). Und deswegen habe ich beschlossen, dir diesen Brief da zu lassen, damit du über ihn nachdenken kannst. Rudolph, du lässt dich zu sehr gehen, du hängst in alten Gedankenmustern fest und ich weiß nicht, warum. Zum letzten Mal sage ich dir: das Leben ist nicht vorbei, nur weil du die 50 seit 6 Jahren überschritten hast. Also hör auf mit deinen Verfallspanoramen. Hör auf, in deinem Kopf zu malen.

Bitte

deine Frau

Er malte ja gar nicht. Es waren die Bilder, die ihn nicht losließen, die Bilder, die er sah, wenn er in den Spiegel sah, die Bilder, die er von seinem schlaffen Glied hatte, das er altersbedingt nur noch mit Viagra hochpuschen konnte (und selbst das, so fürchtete er, würde bald nicht mehr funktionieren), die Bilder von nahendem Alter und Tod, das Ende...

Er wand sich auf dem Bett und starrte wieder ins leere Weiße. Wenn nun die Welt die Wand war, stand er eindeutig außerhalb der Welt. Er konnte sie betrachten und formen. Er projizierte sein Leben auf die Wand. Seine Kindheit in Essen-Werden, seine Zeit auf dem Gymnasium in Bredeney, seine Studienzeit in Wuppertal. Warum Wuppertal? Er war oft mit der Schwebebahn gefahren. Die Studentenzeit war im Rückblick die schönste Zeit seines Lebens gewesen. Er war nach den Vorlesungen immer mit Freunden in die Bars gegangen, hatte etwas getanzt und sich mit Frauen unterhalten. Hauptsächlich aber erinnerte er sich an die Gespräche mit den Kommilitonen. Es ging natürlich um die aktuelle Politik, ihre Herleitung aus der Geschichte und dann fachintern um Kunst.

Zur Kunst hatte er immer ein zwiegespaltenes Verhältnis gehabt, obgleich Lehrer für Kunstgeschichte. Er konnte nicht malen, zeichnen, er konnte stundenlang vor Bildern stehen und doch nichts ver-stehen. Bilder waren für ihn ein Rätsel, denn er hatte zwar Vorlesungen über Malweise und Bildinterpretation gehört, doch konnte er bei dem konkreten Bild nichts damit anfangen. Er war ein Amateur der Bildinterpretation, nur merkten das die wenigsten seiner Schüler (seiner ehemaligen Schüler), da ebenfalls Amateure.

Ohnehin hatte er aufgegeben. Sein Leben war vorbei, und in seinem Alter konnte er auch nicht auf eine bessere Zukunft hoffen. Er sah auf die Uhr, die neben der Wand zu hängen schien, und bemerkte, dass die Zeit für die Ergotherapie schon beinahe verflossen war. Er schreckte auf! Würde er die Therapie nicht rechtzeitig aufsuchen, bliebe sein Therapieeintragsbuch für diese Stunde leer und die Kasse würde die Therapie nicht übernehmen, was zur Folge hatte, dass er gegen die Stationsregeln verstieß und im schlimmsten Fall zusätzlichen Küchendienst würde machen müssen.

Er sprang von seinem Bett, stürzte beinahe und ging schnell aus dem Zimmer. Draußen traf er Leon, der seine üblichen Runden in der Station drehte. Er hastete um eine Ecke, dann eine weitere, traf auf eine Pflegerin, die er nicht ausstehen konnte, und gelangte am Ende der Station an.

Der Ergotherapieraum befand sich am Ende einer langen, schmalen Treppe, die in die oberen Stockwerke führte. Warum hatte man nur die Therapieräume im Obergeschoss angelegt; doch sicher um die Patienten zu demütigen, speziell Patienten wie ihn, mit einem Dickbauch.

Er setzte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe, lagerte seinen schweren Körper auf dem hochstehenden Bein und versuchte sich zu bewegen. Er spürte, wie sein Puls raste. Er bewegte das andere Bein und fiel. Er wurde ohnmächtig. Es war ein Herzanfall. Dies war sein Ende. Er wusste es. Alle EKGs, die sie seit seiner Aufnahme bei ihm gemacht hatten, hatten falsch gelegen, hatten in ihm ein Gefühl falscher Sicherheit erzeugt, welches nun dazu führte, dass er allein und unbehandelt starb.

Er lag und dachte an sein Leben. Sein Puls raste. Er tastete seinen Arm ab und maß seinen Puls. Poch. Poch. Poch. Er lebte noch. Langsam stützte er sich mit seinen Armen auf, immer behutsam, damit sein Herz sich nicht überanstrengte. Es gelang ihm beinahe, aufzustehen. Doch da war es wieder! Der Puls raste. Er sackte in sich zusammen und fiel auf die Treppe. Sein Rückgrat brach, so fühlte er es. Er hechelte und schrie laut, aber niemand hörte ihn. Er lag für einige Minuten auf der Treppe und konnte sich nicht bewegen. Dann rührte sich zuerst sein rechter Arm, und dann sein linker. Er stand auf und atmete schwer. Langsam ging er wie benommen die Treppe hinauf.

Als er am Ergotherapieraum ankam, war dort alles dunkel. Er erkannte noch die Schale aus Holz, die er nun schon seit geraumer Zeit, seit einigen Wochen mindestens, zu vollenden versuchte, was ihm aber jede Woche stets aufs Neue misslang. Er sah die andere Schale, die, die Paul bearbeitete, die rote Schale, die weiter fortgeschritten war als seine eigene. Er hätte die rote Schale am liebsten genommen und auf dem Boden zerbrochen, aber Paul hätte das nicht gefallen. Und er selbst würde in die Geschlossene kommen. Dieser Gedanke erregte in ihm Unwohlsein und Angst. Die Geschlossene war ein Mythos unter den Patienten und gleichzeitig stand sie für Wahnsinn - eigenen und fremden gleichermaßen. Er würde nie dorthin gelangen. Langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass andere Therapien auf die Ergotherapie folgten. Er griff nach seinem Therapieplan, der sich gefaltet in seiner Hosentasche befand. Als er darauf sah, fiel ihm ins Auge, dass er nun Musiktherapie hatte. Er brach innerlich ein Stück zusammen. Warum taten sie ihm das an?, warum quälten sie ihn so?, wie lange noch? Ja, wie lange noch?

Er hatte sich diese Frage schon öfters gestellt, er war aber nie zu einem Ergebnis gekommen. 22 Jahre blieben ihm rechnerisch, aber würde er die mit seiner Lebensführung erreichen? Er erinnerte sich, dass sie in der Gruppentherapie gelernt hatten, diese Gedanken nicht zu denken. Und so beschloss er, die Pfleger zu fragen, ob er noch ein EKG machen konnte.

Er ging zurück zu seinem Zimmer und achtete auf den Schlag seines Herzens. Er kam an der Pflegestation vorbei, vorbei an Leon, der seine Runden drehte, vorbei am Nachbarzimmer, das sich bei offener Tür in einem Halbdunkel aus ausgeschalteter Beleuchtung und angeschaltetem Handylicht befand. Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und legte sich wieder aufs Bett. Er hatte vergessen, den Pflegern Bescheid zu sagen.

Er lag wieder auf seinem Bett, die Augen geschlossen. Er wusste nicht, dass er auf seinem Bett lag, er hatte es einmal gewusst, nun träumte er. Und erwachte.

"Guten Morgen!", kam es aus der Kehle einer der Unsäglichen, des sogenannten Pflegepersonals.

Er behielt die Augen geschlossen und rührte sich nicht, das Pflegepersonal sollte fortgehen, am liebsten wäre er ausgerastet, aber dann drohte die Geschlossene. Er streckte seinen rechten Arm langsam in Richtung seines Fußes und öffnete langsam seine Augen. Er lag in seinem Bett und schwitzte von der nächtlichen Unruhe, die durch seine Träume hervorgerufen war. Was hatte er geträumt, was hatte ihn derart in Unruhe versetzt? Er fühlte Schmerz in seinem Kopf aufkommen, seelischen Schmerz, der sich langsam auf seinen ganzen Körper ausweitete und ihn lähmte. Er wollte liegen, schlafen und vergessen, doch die Pfleger erlaubten ihm das nicht.

"Herr Stubenmann, Sie müssen aufstehen."

Er wollte laut Nein! rufen. Nein!, das bin nicht ich, der hier liegt und von Pflegern tagtäglich um seinen Schlaf gebracht wird. Nein!, das bin nicht, der seit anderthalb Monaten hier liegt und verkümmert, innerlich wie äußerlich. Doch, das war er.

Er blieb unter der Decke und sagte: "Ich komme gleich."

Er drückte den Kopf in das Kissen und ließ es, zur Seite vorgedrängt, die Ohren bedecken, sodass er nichts hörte oder sich zumindest einbilden konnte, er höre nichts. Er merkte, wie ihm die Kontrolle entglitt und er wieder einschlief, er merkte, wie langsam und immer rasch fortschreitender der Traum begann.

Er lief eine Straße entlang und lachte. Er wusste nicht, warum er lachte. Er musste verrückt geworden sein, denn wenn es nichts zu lachen gab, warum lachte er dann? Er war verrückt und lachte und langsam überkam ihn Angst wegen seines Lachens. Er würde auf die Geschlossene müssen, zu den wirklich Verrückten, denen, die nackt durch die Straßen liefen, denen, die nicht mehr wussten, wer sie waren. Tränen rannen ihm über sein Gesicht, er spürte, wie sein Herz aufhörte zu schlagen. Es würde sein Ende sein...

"Herr Stubenmann, das Essen ist schon abgeräumt!"

Er schreckte auf und fiel beinahe aus dem Bett. Er nahm seine Schlappschuhe und hastete den Gang entlang hin zum Essensraum. Ulrike saß als einzige noch dort und lächelte widerwärtig bei seinem Anblick.

"Setzen Sie sich doch zu Frau Bosmann."

Ulrike, die er nie hatte leiden können. Er zog einen Stuhl zurecht und setzte sich darauf, ohne Frau Bosmann, wie er sie nur nannte, anzusehen. Sein Teller stand vor ihm, darauf lagen ein Apfel, zwei Scheiben Brot, etwas Käse und Marmelade: das Diätmenü. Er hatte bei der Einlieferung auf Anraten der Ärzte hin das Diätmenü auf dem Speisezettel ausgewählt und diese Entscheidung am nächsten Tag bereut. Doch war er zu stolz gewesen, seinen Fehler einzugestehen und dies vor dem Pflegepersonal, welches er damals schon zu verabscheuen begann, kundzutun. Damals hatte er Prinzipien gehabt, heute war ein prinzipienlos unglücklicher Mann.

"Ich hatte letztens den Eindruck, dass du für die Entlassung noch nicht bereit wärst", flüsterte Ulrike mit stechenden Augen.

Er antwortete nicht, nur nicht antworten, dachte er sich. Sie wollte ihn zu einem Ausbruch provozieren, sie wollte, dass er auf die Geschlossene kam, wollte ihn leiden sehen, wollte sehen, wie er mit zwangsweise verabreichter Medikation ruhiggestellt wurde. Nicht antworten! Er aß langsam, Bissen für Bissen. Dann regte sich Wut und er stellte das Tablett einfach so in den Esswagen zurück.

"Herr Stubenmann, Sie haben noch Oberarztvisite."

Die Pflegerin sah ihn nachdrücklich an. Er lief hinter ihr her den Gang entlang, zwei Zimmer weiter, dann links abgebogen, dann rechts. Er wartete, während sie, vor einer weißen Tür stehend, klopfte und aus dem dahinterliegenden Raum ein "Herein" kam.

Oberarzt Ursel, er war in seiner ersten Woche hier gewesen und danach in den Urlaub gefahren. Er hatte gehofft, ihn nie wiederzusehen, er hatte gehofft, dass er im Urlaub auf den Bahamas von einem dicken Ast erschlagen oder beim Frühstück auf der Veranda von einer Schlange gebissen werden würde. Er hasste Oberarzt Ursel, er hasste ihn, mehr als er alles andere in dieser Klinik hasste. In seiner ersten Woche hatte ihn Oberarzt Ursel gefragt, wie es denn um seine Sexualfunktionen stehe und er, Stubenmann, hatte gelogen, woraufhin Oberarzt Ursel ihn weiter gefragt hatte, ob denn etwas in der Ehe nicht stimme. 15 Minuten hatte dieses Spiel gedauert, bis er die Schande seiner Impotenz gestanden hatte.

"Aber Viagra können Sie hier nicht nehmen", hatte Oberarzt Ursel gesagt und dabei in sich hineingelächelt.

Seit diesem Augenblick hasste er Oberarzt Ursel, wie er ihn gedanklich stets nannte. Nun also saß er ihm wieder gegenüber und blickte in sein mit einer Hornbrille verziertes Gesicht.

"Da sind Sie ja wieder", sagte Ursel.

'Da bin ich wieder, du dreckiger Honigbeißer', hätte Stubenmann am liebsten geantwortet.

Ursel lächelte. "Wie ist der Stand der Dinge?"

"Nicht gut, das wissen Sie ja."

"Warum? Hier steht, Sie sind im Genesen begriffen."

Er schwieg.

Ursel las vor: "Herr Stubenmann zeigt Fortschritte bei der gedanklichen und gefühlsmäßigen Abgrenzung von früheren mentalen Zuständen... Das ist doch gut!"

"Ja", sagte Stubenmann bloß.

"Dann werden wir Sie bald entlassen."

"Aber ich bin doch nicht gesund."

"Das sehe ich anders."

Ursel lächelte breit und verspielt.

"Wir werden Sie in einer Woche entlassen können."

"Dann geht es wieder los", sagte Stubenmann.

"Hören Sie, warum reisen Sie nicht. Es gibt doch da dieses neue Angebot für psychisch Kranke. Die Kasse übernimmt das auch."

"Was?"

"Ja, eine Urlaubsreise für psychisch Kranke. Mit Psychologen - für Notfälle." Ursel lächelte überheblich.

"Aha."

Er klopfte an die Tür und wartete. Der Briefkasten war geleert. Die Rasenfläche des Vorgartens war akkurat gestutzt und so wunderte es ihn nicht, dass auch die kleine Laterne, die in einiger Entfernung vor der Haustür stand, wieder repariert war.

Er war mit der Bahn nach Hause gefahren. Seine Frau hatte sich geweigert ihn abzuholen bzw. es genaugenommen nicht zur Sprache gebracht. Seine letzten Tage in der Klinik waren ruhig gewesen, er hatte kaum etwas unternommen. Als er die letzte Ergotherapiestunde verlassen hatte, war in ihm ein Triumphgefühl aufgekommen. Er hatte gesiegt. Veni vedi vici, hatte er der Ergotherapeutin zurufen wollen, doch seine innere Vernunft hatte ihn davor bewahrt. Die Mitpatienten hatten seinen Abschied erschreckenderweise teilnahmslos aufgenommen. Leon hatte wenigstens 'Auf Wiedersehen' gesagt, aber er war sich sicher, dass es kein Wiedersehen geben würde. Als er gegangen war, war ihm zum ersten Mal der gleichmütige Trott des klinischen Alltagslebens aufgefallen, in dem die Patienten, wie auch er, für Monate verweilten. Die Klinik war sein Zuhause gewesen, so fühlte er am letzten Tag, und nun musste er wieder Neuland betreten, immer mit der Furcht im Hinterkopf, wieder zurückkehren zu müssen.

Er klopfte wieder und die Tür öffnete sich. Da war sie, einst eine Schönheit, empfundene Schönheit, nun mit ausladenden Wangen gesegnet, nicht unähnlich seiner selbst. Obwohl sie ihn in der Klinik besucht hatte, kam es ihm vor, als hätte er sie seit langer Zeit nicht gesehen.

Sie schwieg und schaute ihn an.

"Komm rein", sagte sie und drehte sich um.

Sie verließ den Eingangsbereich und ging den Flur entlang in Richtung der Küche, die sich weiter hinten in dem kleinen Reihenhaus befand, das sie vor 10 Jahren gekauft hatten. Er stieg die Stufe zur Tür hinauf und folgte ihr den Gang entlang. Der Eingangsbereich ihres Hauses war schmucklos und vielleicht karg zu nennen. Es hingen keine Bilder an den Wänden oder ähnliche Stücke jener postmodernen Gestaltungswut, welche so manchen in ihrem Freundeskreis erfasst hatte. Er ging langsam durch den Flur und fühlte sich, als würde er sich vorwärtstasten, wie ein Krebs, der mit seinen Scheren überall gegen stößt und keinen Halt findet.

Im Esszimmer wartete sie auf ihn vor einem ungedeckten Tisch.

"Du kannst noch etwas Brot aus der Trommel nehmen und Käse ist im Kühlschrank."

Schweigend nahm er sich mit von ihr vorgezeichneten Bewegungen ein Stück Brot und belegte es mit Käse. Er kaute und achtete auf feine Noten im Geschmack, eine Veränderung gegenüber dem Klinikessen.

"Ich werde verreisen", sagte er.

"Verreisen?"

"Nenn es meinetwegen Kur. Es wird von der Krankenkasse übernommen."

"Ich verstehe nicht. Kur? Aber wieso Reise?"

Er seufzte oberflächlich. "Es wird von der Kasse übernommen, keine Sorge."

...

In dieser Nacht schlief er schlecht. Er hatte Angst, einzuschlafen und mit seinem Geschnarche seine Frau, die sich zu dieser Zeit stets in einem Zustand halbschlafenden Dahindämmerns befand, aufzuwecken. Er dachte an die Klinik und dass er sich jetzt kein Oxazepam mehr holen konnte und auch kein Beruhigungsmittel, auch wenn er noch einige Notfallmedikamente mitgenommen hatte. Schließlich jedoch schlief er ein.

Am nächsten Morgen wachte er spät auf. Ihm rückte sofort zu Bewusstsein, dass er das morgendliche Wecken in der Klinik gewohnt war, und seine Frau hatte ihn nicht geweckt. Er stieg langsam aus dem Bett, wobei er darauf achtete, dass sein Puls nicht zu hoch kletterte.

Er saß in der Straßenbahn, seinen Kopf gegen die Scheibe gelehnt, und dachte nach. Er war nun ein alter Mann und wie er die junge Frau, die ihm in dem Vierersitz gegenüber saß, betrachtete, kam ihm dies wieder zu Bewusstsein, dass er keine sexuellen Freuden in seinem Leben mehr haben würde. Er war alt und gealtert.

Die Straßenbahn hielt an der nächsten Haltestelle. Er betrachtete die Menschen beim Ein- und Aussteigen, wie sie sich wanden und doch immer ihrem Trott nachgingen. Er mochte es, die Menschheit in Gedanken mit Ameisen zu vergleichen, die ebenfalls zu klein waren, um ihr winziges Sozialgefüge zu übersehen. Er wurde ebenfalls übersehen. Seine Bedürfnisse hatte man nie ernstgenommen, die Psychiater nicht, die ihm einfach weiter Medikamente verschrieben, die Klinik nicht, die ihn einfach ohne Psychotherapie verfertigt hatte, und auch nicht seine Frau, die ihn nicht verstand und ihm Vorwürfe wegen seiner Erkrankung machte.

Die Straßenbahn fuhr wieder an. Die Frau ihm gegenüber war aufgestanden und hatte ihren Platz verlassen.

Er blickte ihr hinterher, doch sie war schon fast aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Er konnte sie noch draußen knapp erkennen, wie sie einen wohl ebenfalls jungen Mann umarmte, der sich begierig um sie schlang. Was hätte er gegeben, noch einmal in diesem Alter zu sein. Nun war er vorgerückt und betrachtete, das Gesicht an die Fensterscheibe gelegt, sehnsüchtig das junge, so nahm er an, Paar. Zu seiner Zeit hatte man das Paar genannt, auch wenn man nur kurz zusammen gewesen war. Bei seinen Eltern war es anders gewesen, die hatten sich auf einer dieser Studentenkundgebungen kennen gelernt, - oder zumindest hatten sie das bis kurz vor ihrem Tode, ihren Toden, die übrigens zeitlich weit auseinander gelegen hatten, wiederholt. Sein Vater war jung gestorben, im Alter von 57 Jahren, seine Mutter erst vor kurzem. Er erinnerte sich an die Beerdigung, alle in Schwarz, mit Sarg, seine Frau war dabei gewesen, bereits damals hatte seine Ehe gekriselt. Am heutigen Tage hatte er alle Hoffnung auf einen Fortbestand aufgegeben... Nun also der Weg zur Krankenkasse, zur Bewilligung dieser bescheuerten Reise oder wie man das nannte. Die Bahn hielt erneut an und er stieg aus.

In einer der Nebenstraßen der Innenstadt befand sich die Krankenkasse. Die anscheinend zuständige Sachbearbeiterin erklärte ihm, er hätte seinen Antrag schon vor Zeiten einreichen sollen und es sei nun keine Bewilligung mehr möglich, doch um des guten Willens wegen finanziere man ihm trotzdem die Fahrt.

Er stieg am Hauptbahnhof in die wie üblich überfüllte Bahn ein. An der nächsten Haltestelle stieg die junge Frau wieder ein. Gierig betrachtete er jeden ihrer Schritte. Sie musste wohl auf dem Weg zur Arbeit sein, denn sie trug nun eine Anzugjacke und war auch ansonsten in Schwarz gekleidet, - Bankerin? Aber dann fuhr sie in die falsche Richtung, die Banken waren in der Innenstadt, in hohen Türmen aus Glas. Während er überlegte, verlor er die Frau aus den Augen.

Er war alleine zum Hauptbahnhof gefahren, seine Frau hatte ihm zuhause alles Gute gewünscht. Er stand an Steig 3 inmitten der Stadt Essen, hinter ihm die hohen Gebäude der Skyline, vor ihm, in einiger Entfernung, der Hauptbahnhof. Er hatte einen großen Koffer und eine kleine Handtasche mitgenommen, doch der Koffer alleine war für ihn zu schwer und das leichte Gewicht der Handtasche kam dann noch dazu. Er fühlte sich traurig wegen seiner Frau und gleichzeitig dachte er, dass seine Ehe nun vermutlich für immer vorbei war, bei der Rückkehr hatte sie sich vermutlich schon von ihm geschieden oder eher die Scheidungspapiere eingereicht. Er fürchtete sich vor der Rückkehr und der Leere, die ihn erwartete. Er blickte auf die Uhr. Es war erst 11, Zeit genug, noch in die Innenstadt zu gehen und ein Pommes zu essen. Das war ungesund und machte ihn ein Stück dicker, so dachte er, doch im Falle einer Scheidung konnte man sich schließlich alles erlauben.

Langsam zog er sein Gepäck hinter sich her und ließ die Handtasche leicht schlenkern.

Er überquerte die Straße am Zebrastreifen und musste wieder an die Ameisen denken. Auf der anderen Seite durchquerte er den Hauptbahnhof, kam rechts an MkMöve vorbei, der großen deutschen FastFood-Kette. Doch da gab es kein Pommes. Er ging weiter und sah eine Reklame auf einer ansonsten weißen Säule: Die Werbung des VolkSang-Museums, eine neue Kunstausstellung. Claus Dürer, der Maler, der sich in Venedig das Leben genommen hatte, berühmte Bilder, verzerrte Bilder, realistische Bilder. Und gleich sein berühmtestes war abgebildet, die Madonna mit dem kurzen Hals, wie man sie in Abgrenzung zu Parmigianino genannt hatte. Eine kleine Frau in blau-weißer Seide, in realistischen Proportionen, nur mit eigenartig kurz verzerrtem Hals. Sie legte das Jesuskind in einen Waschtropf und wollte es dort, so lautete die gängige Interpretation, ertränken, da sie es nicht ertrug, die Mutter Gottes zu sein. Er hatte das Bild schon im Kunststudium nicht gemocht, und jedesmal, wenn er ihm begegnete, steigerte sich seine Abneigung in mehr als Hass, Hass, ja, sie hätte froh sein sollen die Mutter Gottes zu sein. Hass, ja, sie hätte ihn nehmen und allen zeigen sollen. Hass, ja, auf eine Frau, die genauso aussah wie seine Frau. Mutter Gottes, er ging weiter.

Auch dass man das Jesuskind immer so lebensentleert darstellen musste, ohne Gesichtszüge, ohne Mimik. Konnte es nicht ein schreiendes Jesuskind sein oder ein im Angesicht des Todes mutig lachendes? Er ging weiter.

Essen Die Einkaufsstadt.

Man hatte ein Komma vergessen. Er fühlte sich gleich wieder wie ein Lehrer. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, und er versuchte sich zu beruhigen. Langsam schob er sein massiges Selbst vorwärts und schämte sich seiner, der er ein alleinig dickes, geschiedenes, verbliebenes Etwas war.

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