Kitabı oku: «Eine kleine verrückte Reise», sayfa 2

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Er sah wieder auf die Uhr, 11.15. Er kam am Domplatz vorbei, wo ihn früher der Kardinal als Konfirmand gesegnet hatte. Er sah das Burggymnasium und fragte sich, wie man so ein hässliches Gebäude jemals hatte modern finden können. Der Dom war ganz nett, trotz des Protzgrabs für den Kardinal. Er ging weiter geradeaus, hin zu dem kleinen türkischen Imbiss, den er öfters besuchte. Er rief den Kellner - oder wie nannte man die in den türkischen Restaurants, - gab übereifrig Bakschisch - das Wort kannte er - und stach mit der Gabel in seine Pommes. Es schmeckte gut und nach fett. Über seinen Körper konnte er nur das zweite sagen. Er sah wieder auf die Uhr, 11.37. Der Bus fuhr um 12.45. Nein, um 11.45. Er sprang auf und ergriff seinen Koffer und die Tasche mit der einen Hand. Mit der anderen stopfte er sich den Rest Pommes ins Maul, so dachte er. Und er hastete die Straße entlang zum Hauptbahnhof. Er fühlte, wie das alle zu viel für ihn wurde. Er würde einen Herzinfarkt erleiden. Seine Schüler würden sich freuen.

Als er schließlich am Bus ankam, war es beinahe 12, aber man hatte auf ihn gewartet.

2 – Die Abfahrt

Claudia saß hinten im Bus. Sie war schon ganz ungeduldig, denn der Bus hatte bereits vor einigen Minuten abfahren sollen. Wartezeiten machten sie nervös, auch wenn sie sonst immer planlos war, so fühlte sie sich zumindest. Sie dachte an ihre Mutter zuhause und was sie wohl sagen würde, wenn sie ihr von dieser Reise erzählt hätte, - hatte sie nicht. Sie beruhigte ihre immer wechselnde Sorge, ob sie alles richtig gemacht hatte, doch ganz wollte der Gedanke nicht verschwinden. Ganz so wie ihre Gedanken ohnehin nicht verschwanden. Sie blieben einfach, drängten sich auf, die Psychiaterin hatte sie 'drängende Gedanken' genannt. Schöner als 'Zwangsgedanken', dachte sie. Was für eine Idee auch diese Fahrt, wer kam auf solche Ideen? Und doch fühlte sie sich unter ihresgleichen und eigentümlich sicher.

Sie blickte aus dem Fenster, um vielleicht dort den Grund für die verspätete Abreise zu finden. Aber dort war nur die Werbung für irgendeinen Film oder so etwas. VolkSang hieß er wohl, und es ging um das Waschen oder das Taufen von Kindern. Merkwürdiges Bild, war es überhaupt ein Bild? Sie wusste es nicht. Wie immer ahnungslos, dachte sie.

Vorne bewegte sich etwas. Ein hässlicher alter Mann hastete herein, schwer bepackt mit Koffer und Taschen. Ein Nachzügler also. Sie schenkte ihm keine weitere Beachtung, sondern zog den Reisekatalog hervor, der ihnen beim Einsteigen gereicht worden war.

Insane Travels - Eine Möglichkeit, inneren Frieden zu finden

Willkommen zu unserem Reiseprogramm. Sie werden in den nächsten Tagen allesamt eine Reise in ein unbekanntes und aufregendes Land Ihrer Wahl unternehmen. Sie werden neue Städte kennenlernen, neue Gesichter und alte Statuen. Doch das Wichtigste sind Ihre Mitpatienten, sie werden...

"Ist hier noch frei?" Eine Stimme ließ sie aufschrecken. Es war der dicke alte Mann, der zuletzt vorne eingestiegen war. Etwas angewidert zwang sie sich zu einem Lächeln:

"Natürlich, bitte sehr."

Der Mann setzte sich schwerfällig neben sie und zog direkt sein Handy aus seiner Tasche. Sie konnte verstohlen erkennen, dass er vermutlich eine Nachricht suchte, wo keine Nachricht war. Unglücklich verheiratet, schloss sie. Sie suchte nach einem Ehering am Finger, fand aber keinen. Typ unromantisch, dachte sie. Sie hörte, wie der Mann sich zurücklehnte und schwerfällig ausatmete, es roch nach Gebratenem. Angeekelt drückte sie ihr Gesicht an die Fensterscheibe, doch der Geruch verblieb.

"Ich bin Rudolph", sagte der Mann.

"Claudia", murmelte sie.

"Und was haben Sie, darf ich fragen?"

Sie tat so, als hätte sie ihn nicht gehört.

"Ich bin übrigens Lehrer von Beruf... aber ausgebrannt, wenn man das so sagen kann..."

"Ich bin auch Lehrerin", kam eine Stimme von hinten, eine ältere Frauenstimme, so nahm Claudia es wahr.

"Ah." Rudolph schien erleichtert, eine Leidensgenossin gefunden zu haben, und sogleich entwickelte sich ein Gespräch, so fürchtete Claudia.

"Was unterrichten Sie denn?"

Es war dies wohl die Standardfrage im Lehrerzimmer. Claudia hatte das Lehrerzimmer immer gehasst, ein Ort von geistigen pseudotischen - das Wort hatte sie sich damals selbst ausgedacht - Höhenflügen und arrogantem Standesdünkel, sie hasste das Lehrerzimmer; sie hasste die feinen Anzüge, in die sich diese Leute hüllten, sie hasste ihre stocksteif angelegten Frisuren, ihre holzarmen Schuhe - wie konnte man nur Tiere töten? -, sie hasste sie vielleicht auch einfach so.

"Geschichte und Englisch", sagte die Stimme von hinten.

Vergangenheitsalternde, und auch noch fremdsprachig. Sie beherrschte keine Fremdsprache. Fremdsprachen waren unnütz.

"Ah, Geschichte und Englisch..., mein Zweitfach ist Religion, katholisch…“

Nun redeten sie über ihre Zweitfächer… Lehrer, es war typisch, dass diese Pseudogebildeten ihre Überlegenheit zur Schau stellen mussten, typisch, dass sie neben dem ach so tollen Erstfach auch ihr Zweitfach in die Welt hinausposaunen mussten. Claudia versuchte, sich auf das Fenster zu konzentrieren, doch draußen prangte nur die Werbung für diesen Film. Wieder so etwas Spießiges, hoffentlich wurde die ganze Reise nicht so.

„Und mögen Sie Ihre Schüler?“

„Aber natürlich.“

„Und darf ich den Namen Ihres Lieblingsschülers erfahren?“

Oh Gott…

„Heinrich“, sagte der Mann. „Er hieß tatsächlich Heinrich, sehr altmodisch…“

„Das ist aber ganz reizend, ich meine, weniger reizend, dass Sie hieß sagen.“

„Ach so, nein…“

„Nein?“

„Hieß, weil ich nicht mehr im Dienst bin, er ist nicht mehr mein Schüler.“

„Nicht mehr Dienst? Nun ja, ich bin zurzeit auch vom Unterricht freigestellt, anders wäre das hier ja gar nicht möglich. Sagen Sie, was hat denn Ihr Heinrich so Brillantes angestellt?“

„Oh, er hat gemalt, gemalt wie ein Künstler, und seine Interpretationsgabe…, wir nahmen ein Bild und er hat es sofort richtig gedeutet, wie aus dem Lehrbuch.“

„Daran verzweifelt ja selbst unser einer oft, haha…“

„In der Tat…“

Es war nicht mehr zu ertragen, sie hätte vielleicht aufgeschrien, wenn nicht von vorne im Bus eine Stimme ertönt wäre.

„Ich darf Sie alle begrüßen auf dieser Kult-Tour, Kulturreise, Kultur- und Genesungsreise. Wir werden Sie wieder gesund machen, das verspreche ich. Nichts geht über eine schöne Reise ins beschauliche Italien, gar nicht so beschaulich, sollte ich sagen. Wir haben alles an Bord, was wir brauchen. Backboards eine kleine Küche, steuerbords eine Schachtel mit Medikamenten. Ich stelle mich vor: Manuel Zurst, Psychiater und Psychotherapeut, Ihr treuer Begleiter und, vielleicht bald, Freund…

Ich gebe Ihnen nun einen Überblick über die Reise. Sie führt uns von hier über Duisburg nach Köln, wo wir uns die beschaulichen kleinen drei Königsgräber ansehen werden. Dort stoßen dann auch die letzten Mitreisenden zu uns, die uns auf diesem unserem großartigen Abenteuer begleiten werden. Umgeben von diesen freundlichen, aber leider kranken, Menschen werden wir nach München fahren, wo wir übernachten, 3-Sterne-Hotel, die Krankenkasse muss es sich ja schließlich leisten können. Und dann kommen wir ins eigentliche Land der Träume, Italien, wo uns Wunder und Menschen erwarten. Doch nun, genug geredet, hier ist Ihr Reiseleiter, der noch mehr redet: Roland, du darfst“, ertönte eine recht helle Stimme, deren Sprecher wohl in den Dreißigern sein musste, von vorne im Bus.

„Meine Damen und Herren“, hier kam eine ältere Stimme. „Mein Name ist Roland Grossfuss, ich bin Ihr Reiseleiter. Mein Leben zeichneten viele Irrungen und Wirrungen aus. Aus einem gutbürgerlichen Elternhause stammend, gelangte ich alsdann aufs Gymnasium und studierte Kunst und Latein, ja, Latein.“ Er lachte und erwartete wohl auch ein Lachen vonseiten der Reisenden. „Und als mir die Latte dann auf den Kopf fiel, beschloss ich, diesen Job zu übernehmen. Macht mehr Spaß als Lehrer…“ Noch ein Lehrer… „…und wir haben es ja eh lieber mit Erwachsenen zu tun als mit unreifen Jugendlichen, nicht?“ Er lachte wieder. „Nun denn, auf ans Werk, wir fahren los. Ich setze mich ans Steuer und fahre Sie, wohin Sie wollen, nämlich nach Duisburg. Wir treffen in etwa einer Stunde ein.“

Claudia kroch die Angst hoch. Bildungsreise, Lehrer? Ihre Vorstellung von Italien entsprach einem Land mit Sonne, braunen Menschen, - von der Sonne braungebräunt – und weißen Stränden, an denen man Cocktails schlürfte. Etwas spießiger zwar als das Camp der Baumliebenden... Ach, das Camp der Baumliebenden, CdB. Vor 10 Jahren war sie eine unbedarfte junge Frau gewesen, naiv im Glauben daran, eine Ausbildung zur Sozialhelferin sei ein erstrebenswerter Beruf, da man ja Menschen helfen konnte, doch sie wurde bitterst von der Realität enttäuscht. Die ersten Drogensüchtigen, mit denen sie zu tun gehabt hatte, hatten sich ständig mit Nadeln die Haut aufgeritzt. Wo sie doch kein Blut sehen konnte. Sie hatte den Job anderthalb Jahre durchgehalten und war dann zusammengebrochen. Die anschließende Ausbildung zur Ergotherapeutin hatte sie in der Klinik begonnen, begonnen, sagte sie, weil die Ergotherapeutin in der Klinik sie darauf gebracht hatte. Aber das CdB hatte ihr Hoffnung gegeben, direkt nach dem Klinikaufenthalt. Sie waren in den Süden Deutschlands gefahren, an einen der Seen. Dort hatte es grünes Wasser gegeben, weiche, angenehme Luft und gleichzeitig, am wichtigsten, freundliche Menschen, normale Menschen. Damals hatte sie ihren Hang zum Gras gefunden. Grünes Gras, nicht jenes, welches man rauchte. Das hatten die anderen gemacht. Sie hatte einen Mann kennengelernt, Thomas, damals 32, mit langen, braunen Haaren, muskulösen Oberarmen. Er hatte Gitarre gespielt, abends, am Lagerfeuer, und sie hatten zusammen gesungen. Das war vor 10 Jahren gewesen. Nach ihrer Rückkehr aus Süddeutschland war sie erneut zusammengebrochen, als die Ausbildung wieder anfing. Der anschließende Klinikaufenthalt zählte zu den düstersten Kapiteln ihres Lebens. Dunkelheit. Trauer, um sich selbst. Paroxetin – sie war gegen die Wand gerannt vor Unruhe, Mirtazapin – sie hatte nur noch geschlafen, schließlich Mirtazapin und viel Trinken. Sie war immer noch müde, müde von einem Leben, das, so fühlte sie, ihr nichts bot und nichts mehr bieten konnte, so dachte sie manchmal. Aber diese Reise war eine gute Idee gewesen, eine gute Idee bis gerade eben, bis sie von diesen Bildungsmenschen gehört hatte. Sie griff nach ihrer Tasche und wollte die letzten Reste des ihr vor drei Monaten verschriebenen Beruhigungsmittels hervorholen, aber sie befürchtete, dass man sie dabei beobachten könnte. Sie war zwar unter Kranken, aber nichts würde sie dazu bringen, sich vor ihnen innerlich zu entblößen, dachte sie.

Der Bus setzte an.

3 – Nach der Abfahrt

Rudolph war guter Dinge, dass diese Reise ausgezeichnet werden würde. Er konnte zwar sowohl Reiseleiter, da ebenfalls Kunstlehrer – und pensioniert! -, - Kunstlehrer waren die Schlimmsten! -, als auch Bordpsychologe, da Psychologe, nicht leiden, aber die Aussicht auf diese ganzen netten Menschen, von denen sogar einer der beiden, Bordpsychologe oder Reiseleiter, gesprochen hatte, von denen er nun schon einen, eine, kennengelernt hatte, erfüllte ihn mit Wohlgenuss. Und was war mit dieser jungen Frau neben ihm? Sie wirkte etwas aufgelöst und hatte seine Ankunft merklich nicht gerade positiv aufgenommen.

Rudolph seufzte. Egal. Er lehnte sich zurück in seinen bequemen Ledersessel, vermutlich Kunstleder, und entspannte. Er ließ seinen Geist wandern. Was war eine Reise anderes als eine Fahrt ins Ungewisse, so wie sie, daran erinnerte er sich aus dem Studium, Columbus unternommen hatte. Man würde lange Zeit auf See sein, Stürme und Gefährdnisse auf sich nehmen müssen, und weiterhin viel Ruhe brauchen, doch die Aussicht auf die Eingeborenen, und die Kameradschaft, die auf See erlebt wurde, ließen seine Hoffnung höher steigen. Eine schlechte Metapher, dachte er, aber er neigte nunmal zur Mittelmäßigkeit.

„Sind Sie nicht auch gespannt, was es alles zu sehen geben wird?“, brachte sich die nette Frau von hinten wieder stimmlich zum Vorschein.

„Natürlich“, brummte er.

„Ich war noch nie in Venedig, es soll ganz ausgezeichnet dort sein, - und wir werden die Maskensaison mitkriegen. Karneval.“

„Karneval, ja… das interessiert mich auch…“

„Haben Sie auch an die Kunstwerke in Venedig gedacht? Tintoretto, Tiepolo, Tizian. Und dann Dürer, wussten Sie, dass Dürer in Venedig tätig war? Der neue Dürer, nicht der des 16. Jahrhunderts… Das müsste Sie als Kunstlehrer doch gerade interessieren.“

„Oh ja, das tut es“, log er. „Ich mochte Bilder immer schon. Schon als kleines Kind habe ich gerne gemalt.“

„Wirklich? Haben Sie Fotos davon? Und malen Sie heute auch? Ich bin übrigens Romilda…“

„Neinnein, heute nicht mehr. Ich bin da sozusagen herausgewachsen.“

Eine kurze Stille trat ein, während derer Romilda wohl nach einem Weg suchte, das Gespräch fortzusetzen. Rudolph dachte plötzlich an seine Frau, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder. Sie war auch Lehrerin, anscheinend waren alle Leute, mit denen er in seinem Leben zu tun hatte, im Lehrberuf tätig. Sein Vater war auch schon Lehrer gewesen: Sportlehrer. Abends war er stets schweißüberströmt nach Hause gekommen und hatte, vorlaut, wie Rudolph es mit zunehmendem Alter und abnehmender Achtung vor den Älteren empfunden hatte, getönt: „Heute war Friedrich im Schulunterricht wieder tüchtig.“ Tüchtig war überhaupt ein Wort, das er geliebt hatte, vermutlich, ohne ihm überhaupt eine wirkliche Bedeutung beizumessen oder seine tatsächliche Bedeutung angeben zu können. Was bedeutete „tüchtig“? Fleißig, ehrlich? Auch er konnte es nicht sagen. Sein Vater hatte ihn ungeschickliches Kind dazu gezwungen, neben der Schule Sport zu betreiben, und kommentierte das stets mit dem Lateinischen „optimum“, dem vermutlich einzigen lateinischen Wort, welches er beherrschte. Rudolph fragte sich, ob nicht der alte Lateinlehrer seines Vaters, so es denn ein Lehrer gewesen war, Schuld an den Qualen seiner Kindheit trug.

„Und was halten Sie denn von Dürer?“, fragte Romilda, wohl um das Gespräch erneut in Gang zu bringen. „Claus Dürer“, fügte sie hinzu.

Er musste überlegen. Er hasste niemanden mehr als den neuen Dürer und seine Bilder der Mutter Gottes.

„Seine Trilogie des Wahnsinns ist doch beeindruckend, nicht?“

Rudolph musste an die Bilder denken. Bilder, wieder Bilder. Heute Morgen erst war er Dürers Bild wieder begegnet, in Form einer Werbung für die Ausstellung im VolkSang-Museum. Aber das war die wahnsinnige Maria gewesen und die war kein Teil der Trilogie des Wahnsinns, auch wenn die thematische Ähnlichkeit unverkennbar war. Die Trilogie des Wahnsinns, drei Ölgemälde, in kurzlebiger Strichtechnik verfasst, Anleihen bei der chinesischen Malerei nehmend. Das erste Gemälde hieß „Der König“, es zeigte einen alten Mann im ebenso alten Altersheim, wie er in seinem Bett lag und eine Topfpflanze neben sich auf dem Bett stehen hatte; das zweite hieß „Der Hund“ und zeigte einen Businessman, wie man modern wohl gesagt hätte, der auf der Straße, grinsend dreinblickend, auf einer Bananenschale ausrutschte. Das dritte Bild der Trilogie schließlich war verschollen, hieß aber, das war allgemein bekannt, „Der Vogel“ und zeigte, so hatte Dürer es später angegeben, einen Mann, der, ikarusgleich, glaubte fliegen zu können.

„Ja, sehr beeindruckend.“ Ihm war bewusst, dass er nun seine eigene Ansicht ausführen musste, um das Gespräch am Laufen zu halten.

„Man hat das dritte Werk ja nie aufgefunden“, sagte er.

„Wie wahr… eine Schande… man sollte meinen, dass die Maler, die doch Wertschätzung vor ihren Bildern haben, vorsichtiger mit ihnen umgehen.“

„Tun sie nicht, tut Heinrich auch nicht…“

„Heinrich?“

„Mein Schüler.“

„Achso, den Namen konnte ich nicht mehr zuordnen.“

Heinrich hatte viel gemalt, schon in der 6. Klasse, - und er hatte ihn 5 Jahre lang begleitet, die 7. und 8. nicht, dann aber fast bis zum Abitur; und Heinrich hatte inzwischen ein gutes Abitur abgelegt, dessen war sich Rudolph sicher. Und er hatte Claus Dürer nie gemocht, lehnte dessen Stil als „vollkommen verfremdelnd“ ab und auch die Thematik sagte ihm nicht zu. Heinrich hatte stets realistisch gemalt, im Stile des Klassizismus. Er hatte ihm davon abraten wollen, doch Heinrich blieb dabei und so hatte Rudolph einen Teil seiner Achtung vor der modernen Malerei verloren.

„Achja, das ist nicht weiter schlimm. Aber Sie müssten mal seine Bilder sehen.“

„Oh“, seufzte sie theatralisch. „Das müssen Meisterwerke sein.“

Rudolph schreckte innerlich auf. Die Frau neben ihm weinte.

4- Nach der Abfahrt: Anhalt

Sie hielten an einer Autobahnraststätte und die junge Frau musste, begleitet von den Herren Zurst und Grossfuss, ins Ungewisse aussteigen. Romilda beobachtete die drei von innen durch die Glasscheibe. Sie sprachen einige Minuten miteinander, dann kam Zurst wieder in den Bus gestiegen und sagte übertrieben theatralisch: „Wir haben, leider, ein mittelgroßes Problem. Wir werden hier für eine Stunde halt machen. Genießen Sie den Ausblick!“ Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht.

„Sollen wir einen Kaffee trinken gehen“, fragte sie diesen Mann namens Rudolph.

„Gerne, gerne, und auch etwas essen?“

Romilda musste innerlich auflachen. Sie hatte ihn beim Einsteigen beobachtet, etwas übergewichtig, nicht zu übergewichtig, aber für sein Alter durchaus nicht mehr im normalen Bereich. Und er hatte nach Fett gerochen. Was mochte er wohl gegessen haben? Etwas Fleischhaltiges? Vielleicht.

„Schauen wir mal“, sagte sie.

Sie stand von ihrem dunkelgrünen Sitz auf, achtete darauf, sich nicht an der seitlichen Kante des obenliegenden Gepäckraumes den Kopf zu stoßen, und griff nach ihrem Portemonnaie, das eben dort lag. Dann folgte sie ihrem Gesprächspartner den Mittelgang des Busses entlang zum mittleren Ausstieg, der sich ziemlich lautlos geöffnet hatte, als sie angehalten hatten. Die Luft draußen war frisch und kühl, nicht unüblich für den Frühling, der nun seit anderthalb Monaten in voller Blüte war.

Sie folgten der Traube aus Reisenden, die sich beim Aussteigen gebildet hatte, eine steinerne Treppe hinauf, durch eine Glastür hindurch, die sich selbst öffnete, und schließlich hinein in eine jener typischen Autobahnraststätten, wie man sie, so dachte Romilda, fast überall in Deutschland findet. Sie suchte einen Tisch, während er, relativ rasch, wie sie fand, nach Essen suchte. Sie bahnte sich einen Weg zwischen den kleinen weißen Tischen, an denen es heute Morgen noch recht ruhig zuging. In einer Ecke saß ein Mann, der wohl einen Lastkraftwagen führte, in der anderen Ecke noch ein Mann, leicht beschwipst, - sie hoffte, dass sie ihm auf der Autobahn nicht begegnen würden, - und nahe dem Eingang saß schließlich eine Gruppe von drei Kindern mit ihren Eltern.

Romilda suchte einen Platz im hinteren Bereich des Raumes, nahe dem Fenster. Sie setzte sich und wartete einige Minuten, während derer sie in die Luft starrte und ihren Gedanken nachhing. Dann setzte sich eine Frau ihr gegenüber.

„Hallo“, sagte sie, etwas verzagt.

„Hallo“, erwiderte Romilda. „Kennen wir uns?“

„Du fährst doch auch mit Insane Travels?“

Romilda war etwas überrascht, dass die Frau sie duzte, aber vielleicht war das Sitte unter psychisch Kranken, was sie nicht sagen konnte, da sie bisher nur Kontakt zu ihrem behandelnden Psychiater gehabt hatte. Vielleicht war dieser Rudolph die höfliche Ausnahme.

„Ja, fahre ich. Wer sind Sie?“, ignorierte sie das Du.

„Petra.“

Romilda betrachtete die Frau. Sie hatte zwei kleine Ohrringe in jedem ihrer beiden Ohrläppchen, die stark nach unten hingen. Sie hatte hochgeschossene Wangenknochen und kleine, schwarze Augenbrauen wie auch schwarze Haare, die zu ihren grünen Augen passten. Recht hübsch, dachte Romilda.

„Woher kommst du denn?“, fragte Petra. Ein neuer Versuch.

„Bochum“, antwortete sie.

„Ah, ich komme direkt aus Essen. Und was hast du?“

Romilda hätte am liebsten gesagt, dass sie es hasste, wenn man aufdringliche Fragen stellte, doch sie musste erst recht lange überlegen, bis ihr in den Sinn kam, dass die Frau vielleicht das Wort ‚haben‘ gemeint hatte.

„Ich… habe eine Zwangsstörung in Kombination mit Angst“, sie brachte diese Worte langsam und ruhig hervor, als ob sie damit die Kontrolle über das Gesagte behielt.

„Ah, du Ärmste“, sagte Petra. „Ich habe eine bipolare Störung.“

Aha, kindheitstraumatisiert also. Sie wollte am liebsten nicht weiter mit dieser Frau sprechen, doch da kam Rudolph, - Rudolph mit zwei großen Brezeln und zwei Flaschen Coala. Coala, das Süßgetränk war ihr in verhasster Erinnerung, seit sie, vor etwa vier Jahren etwa, eine Schulfeier mit diesem Getränk begangen hatten, für Alkohol waren die Jugendlichen ja offiziell, und von der geistigen Reife her, noch zu jung. Auf dieser Feier hatten die Schüler sie genötigt Coala zu trinken, bis sie derart aufgeputscht war, dass sie leicht angefangen hatte hin- und herzuwippen, zum Klange der pubertätsriechenden Musik, die aus den Lautsprechern ertönte, welche die Schüler eigens für diesen Anlass mitgebracht und aufgestellt hatten. Sie war dann die Treppe zum Schulgelände hinuntergetorkelt und hatte den Rektor der Schule getroffen, der sich über die laute Musik beschwerte.

„Ah, und wer sind Sie?“, Rudolph hatte sich auf das Gespräch mit Petra eingelassen.

„Petra.“

„Ah, hallo Petra, ich bin Rudolph, und das ist Romilda“, wies er auf sie.

„Ja, wir haben uns schon vorgestellt“, sagte Petra. „Wisst ihr, was los ist? Ich habe es beim Aussteigen kurz mitbekommen. Diese junge Frau hat einen Heulkrampf bekommen, weil sie mit den Leuten nicht klarkommt, anscheinend sind es viele Lehrer, die mit uns fahren.“

„Tja“, sagte Romilda abschätzig böse. „Wir sind Lehrer und was sind Sie?“

Petra schien die beleidigende Absicht, die in ihrer Stimme lag, nicht bemerkt zu haben oder berücksichtigte sie zumindest nicht. „Ich bin Studentin. Physik.“

„Dann bist du ja sicher sehr begabt“, sagte Rudolph, wobei man ihm einen achtungsvollen Unterton anmerkte.

„Ein bisschen vielleicht“, sagte Petra. „Physik ist ein Fach, bei dem man eigentlich nicht viel können muss, viel rechnen und ein wenig logisch denken.“

„Ich halte es ja eher mit den Klassikern“, sagte Romilda. „Nicht, Rudolph, Sie lesen doch sicher auch am liebsten Hölderlin?“

Rudolph sagte nichts, sondern nickte leicht unachtsam.

„Jaja…“, er sagte nichts mehr.

Petra schien belustigt. „Wisst ihr, was ich mag?“ Sie machte eine Pause. „Dämonen. Den La-Place’schen und den Maxwell’schen, aber den Maxwell’schen mehr.“

„Das kommt auch in diesem Buch vor, oder?“, fragte Rudolph.

„Welches?“

Romilda wusste, welches Buch gemeint war.

„Ich erinnere mich gerade nicht an den Namen“, sagte er.

Petra sah ihn fragend an, belustigt vielleicht ein wenig, aber auch mit einer sich schleichend bemerkbar machenden Langeweile.

„Ich weiß es nicht mehr“, sagte Rudolph. „Der Schriftsteller war Schweizer.“

„Ich müsste dann mal aufs stille Örtchen“, sagte Romilda.

„Ah, willst du keine Coala?“, fragte Rudolph.

„Später vielleicht…“

Sie erhob sich langsam von ihrem Platz und bahnte sich einen Weg zwischen den niedrigen Tischen hindurch. Sie wusste, dass Rudolph ihr enttäuscht und überrascht nachsah, doch sie sah keinen Grund, ihm noch irgendeine überflüssige Regung vor die Füße zu werfen, anhand derer er ablesen konnte, dass sie das Gespräch zumindest noch annähernd wohlwollend aufgenommen hatte. Sie suchte nach dem Toilettenschild, ihre Augen glitten die Wände entlang. Schließlich kam sie zu der Auffassung, dass die Toilette wohl draußen sein musste, außerhalb des eigentlichen Raststättengebäudes. Sie betrachtete die Kinder, wie sie mit der Waffe eines Spielzeugmännchens, das ihre Eltern wahrscheinlich bei mobile.de erworben hatten, einen Schuss auf benachbarte Gäste abfeuerten, und ihre Eltern, die beschwichtigend unhöflich zu erklären versuchten, es seien eben Kinder. Sie verließ das Raststättengebäude und folgte dem grünen Rasen hin zu einer Ansammlung kleiner Toilettenhäuschen, grün und blau, von denen ein „schwieriger“, so hätte sie es gegenüber ihren Schülern ausgedrückt, Gestank ausging. Gottseidank gab es Geschlechtertrennung! Die grüne Bude für Frauen war, wenn auch nicht abschließbar, dann doch relativ reinlich gehalten. Sie setzte sich auf den Toilettensitz und ließ das „schwierige“ Wasser langsam aus sich ab. Sie hörte Stimmen von draußen, die näherkamen. Eine Hand riss die Tür des Häuschens auf. „Oh, entschuldige“, sagte das Gesicht einer verweinten Claudia. Sie schloss die Tür wieder, während sich Romilda, ganz Zorn, Schreck und langsam anschwellender Hass, mit dem verbliebenen und nicht ausreichenden Rest Toilettenpapiers abtrocknete.

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