Kitabı oku: «Still schweigt der See», sayfa 3
Konstantin und die anderen SEK-Mitglieder bestiegen die Einsatzfahrzeuge. Insgesamt würden sie mit vier Wagen unterwegs sein, davon war einer die technische Zentrale, in ihm fuhr auch der Chef des heutigen Einsatzes, Georg Moller, mit. Konstantin setzte sich, die Sturmhaube und den kugelsicheren Helm auf dem Schoß. Ein Kollege berichtete alle Fakten und erklärte die Lage in der Universität, mit Betonung auf den Schwierigkeiten, die der Einsatz mit sich bringen würde.
Das Klickholster drückte ihm in die Seite, Konstantin versuchte, eine andere Position zu finden. Bei der letzten Geiselnahme hatte es einen Toten gegeben. Er erinnerte sich noch gut an den Geiselnehmer, der sich in dem Mehrfamilienhaus verschanzt hatte, weil er dem Gerichtsvollzieher nicht aufmachen wollte. Welch unwürdige Situation. Keiner wollte schießen, aber der Mann war so verzweifelt, dass er mit dem Messer auf einen Kollegen losgegangen war. Als man ihn überwältigte, war er gestürzt und auf dem Couchtisch gelandet.
Konstanz. Zuletzt war er dort mit seiner Schwester gewesen. Im Sommer bei einer Taufe. Konstantin atmete laut aus.
»Alles klar?«, fragte sein Nebenmann Markus Welser und bot ihm einen Kaugummi an.
Konstantin nickte. »Hab grad an Konstanz gedacht. Ich war schon mal dort. Du auch?«
Seine Schwester hatte am Hafen die Enten gefüttert. Sie hatten nach der Taufe noch zwei Tage angehängt. Schön war das, mal wieder mit der Schwester zu verreisen, abends in eine Bar im Hafenareal zu gehen, die eine Außenterrasse mit Blick über den Bodensee in Richtung Schweiz hatte. Dort in Kreuzlingen wollte die Schwester am nächsten Tag noch Schokolade kaufen für die Eltern. An dem kleinen Grenzübergang war vor einigen Jahren ein Grenzbeamter erschossen worden – mitten in dieser Idylle zwischen zwei Gemeinden, die sich im Krieg gegenseitig geholfen hatten. Eigentlich gehörten sie hier zusammen, eigentlich gab es hier keine Grenze. Konstanz und Kreuzlingen und der See und das Seenachtfest mit dem großen Feuerwerk. Konstantin sah schnippende Finger vor seiner Nase.
»Hey, Kumpel, träumst du?«
Konstantin lachte. »War echt schön dort«, sagte er und rieb sich über die Nase. »Also? Schon mal da gewesen?«
»Klar, Mann, ich hab da studiert«, sagte Markus und wedelte mit dem Kaugummi vor Konstantins Gesicht.
Konstantin lächelte und schob sich den Kaugummi in den Mund. Er schmeckte nach Zucker und Minze und nach zu viel von beidem. »Schöne Scheiße. Eine Geiselnahme an der Uni«, murmelte er. »Und die Demo. Das MEK ist auch schon unterwegs. Wir haben heut das volle Programm.«
»Hab ich gehört.« Markus lockerte die Klettverschlüsse seiner Jacke. »Wird ein großes Ding heute.« Er klopfte Konstantin auf die Schulter. »Aber wie immer werden wir das hinbekommen. Wirst sehen. Heute Abend sind wir wieder daheim.«
Konstantin nickte dankbar. Sie waren eine eingeschworene Gemeinde beim SEK in Göppingen, sie mussten sich aufeinander verlassen können, einander Mut zusprechen. Er konnte das gut, aber heute, da hatte er ein ganz mieses Gefühl.
***
Das Tuch an seinem Hals kratzte, und er verspürte Durst. Seit die Männer den Hörsaal A 600 gestürmt hatten, drückte sein Magen unangenehm. Ob es Hunger war? Er hatte nichts angerührt am Morgen. Sabine würde sich wundern, wenn sie denn mal aufstand. Er krümmte sich leicht unter einem weiteren Magenkrampf zusammen. Manchmal hatte er sich kurz vor einem unerfreulichen Urteil so gefühlt. Und neulich war der Krampf gekommen, als er von der Vergewaltigungsserie gelesen hatte. Ein viertes Opfer. Und dann waren sie wieder da, die böse Erinnerung und das schlechte Gewissen.
Der Hörsaal kam ihm plötzlich sehr warm vor. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er sah ein Schachspiel vor sich, einen Turm, der im Mondlicht ins Wanken geriet. Er sah den Schattenwurf des Königs auf den schwarzen und weißen Feldern. Eine Dame setzte sich wie von Geisterhand in Bewegung und kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er zuckte zusammen und rieb sich unwillkürlich die Augen.
Ich muss die Nerven behalten. Ich bin kein unbeweglicher König, keine Figur in einem Schachspiel.
Bei der Urteilsverkündung blieb alles an den Richtern hängen, früher an ihm, egal, wie offensichtlich er lediglich der Überbringer der Botschaft gewesen war, die letztendlich nur auf den zuvor von den Ermittlern erworbenen Fakten basieren durfte. Bei den Menschen blieb nur der Richterspruch in Erinnerung. Sie überlegten nicht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft im Vorfeld gearbeitet hatten. Bei jener Vergewaltigungsserie, die Konstanz seit über einem Jahr in Atem hielt, war es bislang noch nicht einmal zu einer Anklage gekommen.
Er wusste selbst nicht, was an jenem Tag in ihm passiert war, vielleicht war es das Zusammentreffen der persönlichen Frustration und der Unfähigkeit, eine solche Niederlage hinzunehmen. Vielleicht hatte er auch in diesem Moment zu seiner Frau auf der anderen Seite des Tisches gesehen und sich gefragt, wer dieser Mensch noch war außer der Hülle eines vergangenen Glücks. Vielleicht, und das erschien ihm im Moment das Naheliegendste, konnte er Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen, vor allem, wenn sein Gefühl ihm die ganze Zeit einflüsterte, dass er dazu befähigt war, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wenngleich, auch das wusste er, sein Gefühl da durchaus anmaßend war.
Jetzt saß er hier in der Universität und fragte sich, was bewaffnete Männer mit seinem Gerechtigkeitsgefühl zu tun hatten. Sechs Männer mit Maschinengewehren und einem –
Sechs Männer?
4
9 Uhr bis 10 Uhr
Wieder warf Sito einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war eine Minute nach neun, der Konferenzraum gefüllt mit angespannter Stille. Seit knapp zwanzig Minuten wussten sie von der Geiselnahme. Zwischenzeitlich hatten die Geiselnehmer über die Facebook-Seite der Stadt mitgeteilt, dass sich in der Uni Männer verteilt hätten und jegliche Verhandlungen hinfällig wären, wenn Polizei auftauchen würde. Via YouTube gab es ein kurzes Video, in dem zwei Maskierte dieselben Informationen verlasen.
Der Busverkehr an die Uni war gestoppt, die Zufahrten über die Universitätsstraße und die Eggerhaldestraße sowie von der Bushaltestelle auf der Mainaustraße waren gesperrt. Die Geiselnehmer hatten auch dafür genaue Vorgaben durchgegeben, jedes Zuwiderhandeln habe Konsequenzen.
Die Tür ging auf, und Bürgermeister Jochen Auweiler betrat den Raum. Sein Kopf war hochrot, das Hemd spannte über seinem fülligen Bauch. Geräuschvoll ließ er seinen Notizblock auf den Tisch fallen, rückte den Stuhl weiter nach hinten, sodass er sich setzen konnte.
Mit im Raum waren außer Sito noch Marc Busch, die Kommissare Johannes Goffer und Martin Kaiser sowie Karl Zimmermann, Polizeipräsident Simon Jäger und Staatsanwalt Pierre Ruger. Sito nickte Busch zu, der erhob sich und ließ die Facebook-Seite der Stadt auf der Leinwand vor ihnen aufscheinen.
»Um acht Uhr einundvierzig posteten die Geiselnehmer, dass sie das Audimax der Universität gekapert haben. In den letzten zwanzig Minuten kam eine weitere Nachricht, dass keine Polizei zur Universität kommen solle, andernfalls würden wir das Leben der Geiseln riskieren. Selbige Nachrichten laufen über YouTube und Twitter. Von der Dame im Sekretariat wissen wir, dass etwa fünfzig Studenten in der Vorlesung sein müssten. Gehalten wurde die Vorlesung übrigens von unserem Kollegen Roman Enzig.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Polizeipräsident Jäger beugte sich vor. »Wir haben einen Kollegen unter den Geiseln? Wieso erfahr ich erst –«
»Jetzt wissen Sie es«, erklärte Sito und gab Busch ein Zeichen fortzufahren.
»Wir wissen nicht, wie viele Studenten sonst noch an der Universität sind, auch nicht, von wie vielen Geiselnehmern wir ausgehen müssen. Es sind Semesterferien, und es ist sehr früh. Vermutlich haben wir noch etwa zweihundert Zivilisten an der Uni.«
»Können wir nicht einfach die Seite blockieren?«, fragte Auweiler.
»Und dann? Dann überlassen wir sie alle ihrem Schicksal?«, herrschte Staatsanwalt Ruger den Bürgermeister an und schüttelte den Kopf.
Auweiler wehrte ab. »Darum geht’s doch nicht, aber offensichtlich brauchen die ja ein Medium, wenn sie keines haben, dann überlegen sie sich … Es gibt doch die Möglichkeit, das Internet irgendwie zu stören, oder?« Die letzte Frage richtete sich an Sito.
»Die gibt es, aber das wäre jetzt sehr unklug. Wir müssen erst einmal wissen, was die vorhaben.« Er starrte auf seinen Block, auf dem alle Mitteilungen der Geiselnehmer gesammelt waren. »Außerdem haben sie geschrieben, dass dies ihr Kommunikationsweg wird.«
»Dies?« Auweiler schnaubte. »Meine Website?«
»Ich glaube, sie meinten eher Facebook«, erklärte Zimmermann und ließ seine Finger knacken. »Hashtag GeiselnahmeUniversität.«
»Facebook als Medium bei einer Geiselnahme, hat man so was schon mal gehört?«, warf Kaiser in den Raum.
Sito verneinte.
»LKA und SEK sind informiert?«, fragte Jäger.
Sito nickte. »Selbstverständlich, sind unterwegs, aber das wird dauern. Das MEK ist ebenfalls unterwegs. Teile der Spezialeinheit sind bereits vor Ort für die Personenüberwachung rund um den Klimagipfel. Vorerst sind wir, was die Geiselnahme angeht, auf uns gestellt, und Heinrich Wint aus Gaienhofen ist auf dem Weg. Er wird uns unterstützen.«
Ruger hob fragend die Hände in die Luft. »Wint? Gaienhofen? Wie das?«
»Er war beim LKA. Ursprünglich erfahrener Vermittler bei Geiselnahmen. Jetzt sitzt er in Gaienhofen. Ist ausgestiegen, aber ein guter Mann. Er ist wie gesagt bereits unterwegs. Wir rechnen in der nächsten halben Stunde mit ihm«, erklärte Sito.
»Worum es nun geht …«, begann Busch, und ein anderes Bild erschien hinter ihm an der Wand. Es zeigte die junge Sibylle Hundhammer, dunkelbraune Locken zierten das junge Gesicht, ein breites Lachen darauf, als läge ihr die ganze Welt freundlich zu Füßen.
»Was hat sie mit der Geiselnahme zu tun?«, fragten die Kollegen Goffer und Kaiser gleichzeitig. Auch Auweiler rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Es gab ein Quietschen auf dem Fußboden.
Sito fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Narbe an seiner linken Schläfe. »Wir haben heute einen Großeinsatz zum Schutz von Sibylle Hundhammer. Sollten Sie in letzter Zeit die sozialen Netzwerke konsultiert haben, dann dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass die Hetze gegen Hundhammer immer mehr zunimmt. Kollege Zimmermann beobachtet das seit Wochen für uns auch im Hinblick auf die Maßnahmen während der heutigen Demonstration.«
Alle sahen zu Zimmermann, der sofort nickte. »Es reicht bis zu konkreten Mordankündigungen.« Zimmermanns Finger knackten wieder, Sito zog unwillkürlich die Schultern nach oben, das Geräusch war ihm unangenehm, Zimmermann jedoch schätzte er sehr. »Das ist eine riesige Welle«, sagte der gerade und zog an dem kleinen Finger der linken Hand.
»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Auweiler. Der Bürgermeister drückte sich die flache Hand gegen den Magen. »Könnt ich wohl ein Glas Wasser haben?«
»Wir beobachten mit wachsender Sorge den organisierten Hass aus der rechten Ecke«, erklärte Zimmermann.
»Okay, ich kenn die Sprüche natürlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mob ausgerechnet in meiner Stadt zuschlagen würde. Und vor allem – was hat das mit der Geiselnahme zu tun?«
Busch war aufgestanden, um ein Glas Wasser zu holen, und reichte es Auweiler gerade. Der Bürgermeister trank gierig.
»Wir wissen es nicht«, begann Sito, sah zu Busch, der sich die Ärmel seines hellgrauen Hemdes hochkrempelte und noch weitere Gläser mit Wasser verteilte. Er war ein echter Teamplayer, das wurde Sito schlagartig bewusst, einer, der sich selbst auch zurücknehmen konnte. »Kollege Busch und ich sind uns aber einig, dass wir das nicht ausschließen dürfen. Weshalb sollte die Geiselnahme ausgerechnet heute stattfinden?«
»Vielleicht, weil dann weniger Polizeikräfte zur Verfügung stehen«, mutmaßte Goffer.
»Wir müssen es im Auge behalten«, sagte Sito. »Meine Hoffnung ruht derzeit auf Enzig. Ich hoffe, er kann sich irgendwie mit uns in Verbindung setzen.«
»Fakt ist«, mischte sich nun Zimmermann ein, stand auf und stellte sich neben Busch an den Computer. »Ich darf doch mal.« Busch machte Platz, und Zimmermann tippte, bis auf der Leinwand die Kommentarleiste einer anderen Facebook-Seite erschien. »Wenn Sie sich das hier anschauen, dann verstehen Sie vielleicht eher, was ich mit einer riesigen Welle meine.«
»Fahrt mit dem Panzer in die Demo!«
»Löscht aus, was euch kaputtmachen will.«
»Die Schulschwänzer sollte man alle verhaften.«
»Die Demo beginnt um vierzehn Uhr, da ist die Schule vorbei.«
»Ihr linksgrünen scheiß Ökofaschisten kommt euch besonders schlau vor, wie?«
»Die wollen uns nur das Geld aus der Tasche ziehen.«
»Manipulation der Dummen und ihr macht da mit.«
»Dreckspack, einsperren mussma das.«
»Früher hätts das net gegeben, dass so junge leut einfach alles von de alten schlecht machen. Wo hammsden alles her? Von de alten, von der kohle und des is ja au deutschland und wieso solln die deutschen die kohle und die chinesen machen was se wolln … nur meine meinung …«
»Elendes dreckspack. Ich kenn noch eine garage und gas hab ich auch noch 13/4/7 …«
Stille im Raum.
Staatsanwalt Ruger sog scharf die Luft ein. »Gleich mehrere Straftatbestände. 13/4/7 ist die Abkürzung für einen Gruß unter Neonazis – Mit deutschem Gruß – und verboten. Gilt aber als Erkennungszeichen, wie die Vier im Übrigen auch.«
Auweiler schlug mit der Faust auf den Tisch und murmelte: »Verdammt. Können wir die Seite nicht dichtmachen? Ich will so einen Mist nicht in meiner Stadt!«
Zimmermann tippte mit einem Stift auf die Leinwand. »Das ist das Internet, Herr Auweiler. Wir können hier gar nichts dichtmachen. Das ist der neue Informationskrieg um Meinung, ganz einfach. Seit dem Wahlkampf von Trump und dann von der AfD ist das gang und gäbe.« Er nahm ebenfalls einen Schluck Wasser. »Im Übrigen ist das nur ein verschwindend kleiner Auszug und noch nicht einmal mit dem härteren Vokabular. Wir haben Undercover-Leute in einigen rechtsradikalen Troll-Netzwerken. Mit Kollege Sito wollte ich ohnehin heute sprechen, denn wir sind uns einig, dass etwas geplant wurde. Wir haben immer wieder sogenannte Marschbefehle entziffern können, das C18 beziehungsweise 318 tauchte an unterschiedlichen Stellen auf. Es steht für eine neonazistische und terroristische Vereinigung. Bei uns längst verboten. Erst dachten wir, es geht um die Klimaschutzdemo«, Zimmermann tippte auf seinem Laptop, »und um diese Sibylle.« An der Wand war unter den Zeilen ein Scheiterhaufen zu sehen, darauf Sibylle Hundhammer. Zahlreiche Kommentare feierten die angekündigte Hexenverbrennung mit Lach-Smileys und applaudierenden Händen.
Zimmermann räusperte sich, kratzte sich am Mundwinkel und redete dann weiter. »Aber jetzt müssen wir das natürlich im Hinblick auf die Geiselnahme erneut überprüfen. Es geht eben auch um Waffen. Die Seite hier gehört zum Beispiel einer Gruppe, die sich ›Die Naturbewahrer‹ nennt, wobei es freilich nicht um die Natur im Hinblick auf Umweltschutz geht, sondern vielmehr um den vermeintlich natürlichen deutschen Lebensstandard, wie er eben aktuell praktiziert wird. Wir beobachten die Gruppe schon eine Weile, die sich der AfD und den Identitären verbunden fühlt. Im Darknet haben wir außerdem gerade in der letzten Woche eine Zunahme der Aktivität feststellen können. Wir wissen auch von Waffenkäufen, können aber die IP-Adressen nicht zurückverfolgen, weil die natürlich alle über eine VPN-Adresse, also ein virtuelles privates Netzwerk, ins Netz gehen. Wir wissen nicht, ob die sogenannten Marschbefehle im Zusammenhang mit der heutigen Geiselnahme stehen, aber ich gebe Kollege Sito recht: Wir müssen es in Betracht ziehen.«
Ruger stand der Mund offen. »Weshalb zum Teufel erfahre ich erst heute und hier davon?«
Zimmermann schnaubte. »So kann man das nicht sagen. Wir plädieren seit Ewigkeiten dafür, diese Gruppierung unter Beobachtung des Verfassungsschutzes zu stellen oder wenigstens Razzien zu genehmigen.« Er wirkte für einen Moment resigniert, sein linkes Augenlid zuckte, dann fuhr er fort: »Wissen Sie, seit Jahren ist ein Kollege bei den Rechtsrockfestivals unterwegs. Immer wieder berichtet er von schweren Verstößen, von Aufrufen zu Gewalt und Mord, von Lobeshymnen auf Hitler und so weiter und so fort. Noch immer gibt es kaum nachhaltige Reaktionen. In Thüringen hat sich jetzt mal was getan, da hat die Polizei durchgegriffen bei den sogenannten Versammlungen mit rechter Musik. Wir Netzbeobachter und Beobachter der rechten Szene sagen schon lang, dass man die Erlebniskultur der Neonazis endlich unterbinden muss, denn genau dort werden Gelder und Anhänger akquiriert.«
»Wir sind aber nicht in Thüringen«, wandte Ruger ein.
»Nein, sind wir nicht, aber die Neonazi-Szene ist international vernetzt. Einer der wichtigsten Netzwerker Europas sitzt nun mal in Deutschland. Ich sage das nur, weil Sie nicht überrascht sein müssen, falls die hier so groß auflaufen.«
»Was Sie da sagen, Herr Zimmermann, wir sprechen also von einem möglichen Terrorakt? Hier bei uns?«, fragte Jäger.
»Denkbar.« Zimmermann griff wieder an seine Fingergelenke, verzichtete aber auf weiteres Knacken.
»Solange auch bei der AfD so ein Müll gepostet wird, ist es eben schwierig. Und unter uns: Ich bin mir auch nicht immer sicher, wie viel Rückhalt die wirklich haben. Außerdem gilt die Versammlungsfreiheit für diese abscheulichen Konzerte. Ganz einfach. Fragen Sie beim Verfassungsschutz nach. Meinungsfreiheit eben. Die AfD sitzt im Bundestag. Sagen Sie das also den Politikern!«, verteidigte sich Ruger. Der Staatsanwalt verschränkte die Arme. »Immerhin haben wir das Netzwerkdurchführungsgesetz seit Anfang 2018.«
»Ja, schön, haben wir. Hat ja aber im Grunde nichts daran geändert, dass immer noch nur das verboten ist, was vorher auch schon verboten war.« Zimmermann blätterte in seinen Unterlagen. »Jetzt brauchen wir nur noch mehr Kräfte, die sich darum kümmern.«
Ruger machte eine ausschweifende Handbewegung. »Ja, dann schauen Sie nur mal zu Facebook. Die haben ein paar hundert Mann in einem Büro in Berlin sitzen, die sich Tausende von Kommentaren anschauen sollen, die gemeldet wurden. Wir kommen den bösen Idioten einfach nicht hinterher.«
»Lassen Sie uns bitte bei der Sache bleiben«, forderte Polizeipräsident Jäger. »Reden wir von Terrorverdacht, ja oder nein?«
Zimmermann kaute auf seiner Unterlippe. »Es war nicht leicht, Undercover-Leute in die rechtsradikalen Netzwerke einzuschleusen. Jeder braucht eine eigene rechtsradikale Vita, muss aktiv auftreten und so weiter. Das sind Hierarchien, man muss sich hoch–«
»Terrorverdacht, ja oder nein?« Jäger trat unruhig von einem Bein auf das andere. Seine Stirn lag in tiefen Falten.
Zimmermann stöhnte und schüttelte den Kopf. »Noch haben wir keine konkreten Anhaltspunkte.«
Auweiler atmete erleichtert aus, dann zeigte er mürrisch auf die Leinwand. »Was passiert denn da gerade?« Vor ihnen poppten immer weitere Kommentare auf, und immer wieder war Sibylle Hundhammer auf einem Scheiterhaufen zu sehen.
»Wir befinden uns hier in einem Troll-Netzwerk. Das sind solche Tagesbefehle, ausgegeben von den Rangoberen in diesem Netzwerk: ›Stört in folgenden Frontabschnitten, also etwa bei Facebook, Twitter und YouTube, ab zwanzig Uhr.‹ In diesem Fall«, Zimmermann zeigte auf den Verlauf, »geht es um die Seite unserer Stadt ab neun Uhr dreißig.«
Ruger nickte. »Das ist ein großes Problem, das ist mir durchaus bewusst. Aber es gibt klare Vorgaben, wann etwas gelöscht werden muss.«
»Klare Vorgaben schon«, sagte Zimmermann, »aber fließende Grenzen, wann etwas wirklich gegen Paragraf 130 des Strafgesetzbuches verstößt und wann die Volkshetze eben nicht greift.« Er scrollte ein wenig nach oben. »Hier haben wir zum Beispiel 19/8, das steht für ›Sieg Heil‹, und hier steht ›Adolf is back‹ in den Zahlen 192.«
»Volksverhetzung«, korrigierte Ruger und verschränkte die Arme.
»Wie dem auch sei. Das Schlimme ist doch, dass durch diese komprimierten Hasskommentare der Eindruck entsteht, das wäre eine riesige Gruppe, die die Klimademo und unsere Stadt bedroht. Darum geht es doch, oder? In Wirklichkeit aber ist dieser Hass von einer kleinen Gruppe nur gut organisiert«, sagte Busch.
»Exakt«, sagte Zimmermann.
Auweiler hielt sich die Hand an den Hals, als wolle er einen Krawattenknoten lockern, aber da war keiner. Busch stand auf und schenkte ihm Wasser nach.
»Solange wir keinen Beweis haben, dass die Marschbefehle mit der Geiselnahme zu tun haben –«, begann Ruger, doch Goffer fiel ihm ins Wort.
»Und dann? Irgendwann feststellen, dass die in den Troll-Netzwerken längst alles organisiert haben?«
»Meine Herren, bitte, dafür ist nicht die richtige Zeit«, versuchte Jäger, die Runde zu beruhigen. Er fuhr sich mit einer Hand durch seinen Bart.
»Richten Sie hier sofort einen Ticker für das Intranet ein. Ich will, dass alle immer in der Zeit sind. Da soll auch alles zur Demo kommen, aber sonst eben nichts.«
»Ist erledigt.« Zimmermann tippte, dann erschien der Newsticker zur Geiselnahme. »Das andere richtet ein Kollege gerade ein.«
»Können wir die Friday-Leute nicht einfach absagen?«, fragte Auweiler und wippte mit seinem Stuhl. Es quietschte wieder, und er sah entschuldigend in die Runde. »Ich meine, wo jetzt das Wort Terror schon ein paarmal gefallen ist.«
»Herr Zimmermann sagte es bereits, wir haben keinen hinreichenden Beweis«, sagte Sito und sah zu dem Monitor, der die aktuellen Nachrichten übertrug.
Die anderen folgten seinem Blick und sahen die Schlagzeilen: »Geiselnahme an der Universität Konstanz *** Eilmeldung *** Geiselnahme an der Universität Konstanz *** Klimagipfel in Gefahr *** Eilmeldung *** Die Polizei ist noch zu keiner Stellungnahme bereit *** Eilmeldung …«
»Da haben Sie es!« Auweiler war aufgesprungen und stützte die Hände in die Seiten. Sein Hemd war an einer Seite aus der Hose gerutscht und hing über den Bund. »Die vermuten ja schon selbst, dass wir das Klimatreffen absagen.«
Jäger hob die Hand. »Wir klären das mit dem Innenminister.«
»Wenn wir jetzt mit einer Absage kommen, dann lösen wir womöglich ein riesiges Chaos aus«, sagte Sito.
Der Bürgermeister legte seine Hände in den Nacken und seufzte. »Mir war dieses Ausmaß der Bedrohung nicht bewusst. Tun Sie das Nötigste. Ich will nicht, dass ausgerechnet hier …« Er schluckte den Rest herunter, schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. »Ich will, dass wir die Sicherheit der jungen Leute garantieren können. Ich bin hier der Bürgermeister. Hier ist kein Platz für Gewalt.«
»Dann sind wir uns einig. Ich spreche mit dem Innenminister, wir müssen umgehend eine Pressekonferenz geben, damit die Leute nicht aus den sozialen Netzwerken informiert werden. Der Terrorverdacht bleibt in diesen vier Wänden. Sie, Zimmermann, beobachten das weiter. Auch wenn wir hier zum Warten verurteilt sind, müssen wir tun, was wir tun können. Und dabei gilt: Ein Kollaps in der Stadt ist unter allen Umständen zu vermeiden, haben wir uns verstanden?« Er stand vor ihnen, aufrecht und mit felsenfester Überzeugung nickte er in die Runde: »Wir schaffen das, meine Herren, wir schaffen das.«
Sito bewunderte Jäger in diesem Moment. Er wusste von seiner Krankheit, als Einziger, von der Sorge, wann das Zittern Oberhand über seinen Körper erlangen würde. Jäger stand auf und trat ans Fenster, um zu telefonieren. Sito ließ die anderen gehen und wartete. Als das Telefonat beendet war, ging er zu ihm.
»In zehn Minuten unten im Presseraum. Das Fernsehen ist unterwegs«, erklärte Jäger, den Blick nach draußen gerichtet. »Ich will Sie dabeihaben.« Er wandte sich an Sito. »Weshalb wollen die Leute diese Art der Öffentlichkeit?«
Sito zuckte mit den Schultern. »Genau das frage ich mich auch.«
Jäger sah wieder nach draußen. Der Baum vor dem Konferenzraum trug endlos viele Kastanien. »Ganz ehrlich, als ich vorhin den Kollegen Zimmermann gehört habe, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Rechten haben diesen Meinungskrieg fest im Griff, sie haben das Internet erobert, weil wir seit Jahren zusehen und alles verharmlosen. Der Terror ist längst in der Stadt.«
***
Ihre Eltern hatten gemeinsam mit ihr verschiedene Universitäten angesehen. Ihre Mutter war von der Idee, dass auch sie nach Konstanz gehen würde, natürlich begeistert, aber zur Sicherheit sollte sie sich über Alternativen informieren. An dem Tag, als sie sich im Allgäu auf den Weg nach Meersburg machten, um dort auf die Fähre nach Konstanz zu steigen, regnete es in Strömen. Ihre Mutter fluchte leise, aber unaufhörlich auf der Fahrt. Sie hatte sich das so schön ausgemalt: die Fahrt über den Bodensee, die Ankunft in Konstanz-Staad, dort mit dem Bus in die Stadt, ein wenig herumschlendern durch die vielen schönen Gassen der Altstadt, schließlich mit der Neuner-Linie hinauf zur Uni. Und dann so etwas: alles grau und nass draußen. Unerbittlich regnete es, und unerbittlich verfolgte ihre Mutter dennoch den Plan, ihr Konstanz so schmackhaft wie möglich zu machen.
Hilke musste lächeln, als sie sich gerade daran erinnerte. Vielleicht hätte sie ihrer Mutter gleich sagen sollen, dass sie längst vorhatte, in Konstanz zu studieren. Am Hafen, als die Mutter gerade über das Hochwasser von 2005 referierte – wie passend zu dem Regen –, hörte selbiger endlich auf. Die Sonne kam heraus und mit ihr das strahlende Lächeln der Mutter.
Hilke wischte die Gedanken an den Regen und die Tauben auf der Marktstätte ebenso weg wie die Tatsache, dass vor ihr noch ein Stapel Bücher lag, den sie lesen wollte. Sie war unkonzentriert. Dieses alte Militärfahrzeug, das sie vorhin auf dem Parkplatz gesehen hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Und sie wusste auch, weshalb: An der Windschutzscheibe hatte sie einen Totenkopf baumeln sehen. Wenn sie sich diesen jetzt in Erinnerung rief, dann lief es ihr eiskalt über den Rücken.
Hilke lehnte sich für einen Augenblick zurück, froh, in friedlichen Zeiten zu leben, und wissend, dass es auch wieder anders werden könnte. Sie hielt inne. War da ein Geräusch? Sie sah sich um. Da wieder. Schnelle Schritte. Irgendwo. Sie sah sich wieder um. Niemand war zu sehen. Sie war noch ganz allein in den ›heiligen Hallen‹, wie sie die Bibliothek gern mit einem Augenzwinkern bezeichnete.
Die Bibliothek der Universität Konstanz war ein besonderer Ort. Sieben Jahre lang war sie kernsaniert worden, 2017 dann endlich waren diese Maßnahmen abgeschlossen. Hilke hatte das Glück, schon in der neuen Bibliothek zu arbeiten. Im Eingangsbereich empfing einen nüchternes Grau, klare geometrische Strukturen, die großen Lichtkreise an der Decke und das leuchtende Gelb der Mittelwände. Einerseits fand sie das nicht gerade gemütlich, andererseits war sie in den Bann gezogen von der Klarheit des Konzeptes.
Ihre Gedanken waren schon wieder abgeschweift. Wieder hörte sie etwas, wieder sah sie sich um, stand dieses Mal sogar auf und beugte sich um eine Regalreihe, die ihr die Sicht zum Ausgang versperrt hatte. Nichts. Sie merkte, dass ihr Puls sich beschleunigte. »Hallo?«, fragte sie vorsichtig in den Raum. Nichts. Sie setzte sich wieder, vorsichtig und flach atmend. Energisch schüttelte sie den Kopf.
Spinn ich jetzt? Ganz ruhig, du bist in der Bibliothek.
Hilke schlug entschieden das Buch auf und beugte sich darüber, als sie Schreie hörte. Sie kamen vom Gang und dröhnten durch ein Megafon. Es dauerte, bis die Worte ihr Gehirn erreichten, vermutlich begriff sie erst beim dritten Mal, was da gerade passierte. Sie solle die Bibliothek verlassen, hieß es, sofort. Wer zurückbleibe, werde erschossen.
Die Worte hallten durch die Bücherreihen, hallten wider vom Boden und von der Decke, umfingen sie. Sie packte ihre Stifte in ihr Mäppchen und stand auf, als wäre es wichtig, den Platz ordentlich zu verlassen. Für einen Moment verharrte sie, dann klappte sie das Buch zu. Jetzt sah sie einen Mann mit Sturmmaske und einer alten Uniform. In einer Hand hielt er ein Gewehr.
»Los jetzt, raus hier!«, schrie er, doch die Stimme kam nur gedämpft an ihr Ohr. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, kam an ihm vorbei, roch seinen rauchigen Atem.
Vor der Bibliothek warteten bereits andere Menschen, aber sie kannte niemanden. Schreie folgten, weitere Befehle drangen durch die Halle. Zum Eingangsbereich sollten sie alle laufen. Keiner wagte einen Ausbruch. Unterwegs hörten sie noch mehr aufgeregte Rufe, Stolpern, einige stürzten. Im Eingangsbereich der Universität warteten an die zweihundert Menschen.
Hilkes Herz galoppierte. Erst jetzt traf es sie wie ein Schlag: Das hier war keine Übung, es war auch kein übler Scherz. Es war todernst.
***
Schweiß lief ihm über die Stirn, obwohl es nicht sonderlich warm war. Noch widerstrebte es ihm, mit dem Ärmel darüberzuwischen. Er fühlte die Tropfen an seinem Hemdkragen. Es war ein kariertes Hemd, überall blaue und braune Linien, die einander kreuzten. Anna hatte gelacht. Schon lange hatte er kein kariertes Hemd mehr getragen, stattdessen Rollkragenpullis und eine Weile Langarmshirts mit Sakko darüber. Heute also ein kariertes Hemd, das jetzt Schweißtropfen sammelte. Seine Hand glitt langsam in seine Hosentasche. Enzig war froh, sich für die etwas weitere Stoffhose entschieden zu haben – er hatte Platz, sein Smartphone abzutasten, im Moment aber vor allem Angst, es würde ihm aus den Händen rutschen.
Miriam beobachtete ihn. Sie wusste, worauf es jetzt ankam, das konnte er ihr ansehen. Unmerklich nickte sie ihm zu, dann stand sie entschlossen auf.
»Hey, du, hinsetzen«, rief der Mann, der die Gruppe bewachte und sofort seine Waffe auf Miriam richtete.
Miriam hob die Arme. »Ich wollte nur eine Frage stellen.«