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Neumoskau: Angriff der Spunde

»Schau’s dir an! Noch Kinder sind’s, und sehr ganz junge dazu!« Jonathan hockte auf dem Hochstand und blickte hinunter auf das weite, unbestellte Feld. Zu Tausenden kamen sie durch das weglose Land gelaufen, trugen nur ihre Rückensäcke und die Waffen. Dazwischen fuhren brüllend die gewaltigen Fahrzeuge.

»Sind BAT2000«, flüsterte Tatjana neben ihm. »Sind ohne Waffen.«

»Wenn’s kommen zu uns, ist’s aus. Viel zu viele sind’s, die da gehen.«

»Muss los!« Tatjana schickte sich an, von dem Hochstand zu klettern.

»Was willst?«, fragte Jonathan.

»Muss warnen! Unser Stadt muss still sein!« Jonathan folgte dem sechsundzwanzigjährigen Mädchen, das geschwind die Leiter hinunterkletterte. Gebückt liefen sie im Gras der weiten Landschaft nebeneinander zum Waldsaum.

Jonathan war dreißig, Vater eines kleinen Jungen, Mann von Tatjana, die er hier im Rückzugsraum der Abtrünnigen kennengelernt hatte, die ihm, dem schwarzen Mann, wie er von allen genannt wurde, einen Jungen geschenkt hatte, deren geschmeidigen Körper er liebte und deren Klugheit er verehrte.

Eines fernen Tages war Jonathan aus dem Gebiet der Grenze zwischen EDR und Morgenland geflüchtet. Dort lauerte ständig die Gefahr durch Spunde. Zwar griffen sie nie sein Dorf direkt an, doch sie waren fortwährend in der Nähe. Jonathan ging gen Norden. Fünf Jahre dauerte seine Reise, die ihn in verschiedene Siedlungen und Verstecke der Abtrünnigen brachte. Doch überall lauerte der Tod. Immer wieder tauchten Horden von Spunden auf, machten alle Abtrünnigen auf Geheiß Der Zehn nieder. Jonathans Augen sahen unzählige zerfetzte Leichen. Nie ging es um die Eroberung von strategischen Objekten, stets nur darum, die Abtrünnigen auszurotten.

An einem eiskalten Wintertag erreichte er diese Kolonie. Sie war gewaltig. Abtrünnige hatten eine alte Stadt inmitten eines gigantischen Waldgebietes gesichert, gelangten auch in den Besitz verbotener Waffen. Die Gegend nannten sie »Russisches Becken«. Im Osten versperrte das gewaltige Ural-Gebirge den Weg, im Westen, jenseits des Waldgebietes, existierten unendliche flache, zumeist weit einsehbare Ländereien. Es gab genügend Tiere, die gejagt und gegessen werden konnten, Früchte von Bäumen und auch bestellte Felder, auf denen Weizen wuchs. In der Stadt existierten sogar Forschungsstationen, die das Wetter voraussagen konnten. Ein altes, wiedererrichtetes Wasserkraftwerk erzeugte Strom für die Stadt. Errungenschaften der Vorkriegsgeneration wurden brauchbar gemacht, Kleidung und andere Erzeugnisse hergestellt. Viele der Abtrünnigen kamen aus dem Westen. Einige brachten die Erinnerung an eine große Metropole mit, die der Krieg in Schutt und Asche verwandelt hatte. Deshalb erhielt die Enklave den Namen »Neumoskau«.

In den Augen Der Zehn wurde die gewachsene Stadt der Abtrünnigen zur Bedrohung. Immer wieder rückten Spundeinheiten gegen die Stadt vor, doch sie wurden unter hoher Opferbereitschaft von den Abtrünnigen mit alten Waffen vertrieben.

*

Erschöpft erreichten Jonathan und Tatjana das Tor. Ein gewaltiges Brummen, erzeugt durch die Turbinen der BAT2000, lag in der Luft.

»Gebt Ruhealarm! Horden von Spunden nähern sich! Tausende sind’s!«, riefen beide den Torwächtern zu.

Sekunden später wurden die Nebelkanonen aktiviert. Weißer, künstlicher Nebel kroch durch die Gassen, hüllte Neumoskau ein, als wäre er ein natürliches Produkt von Wasser und Sonne. Die Menschen wussten nun, dass sie jeden Lärm vermeiden sollten. Und wäre es des Nachts geschehen, hätten sie die Stadt verdunkelt. Doch jetzt war Tag. Einige Wolken verdeckten die Sonne, ein wenig Nebel war überall.

Die beiden erreichten das Wohnhaus, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem sie in zwei Räumen der ersten Etage untergebracht waren.

Paul saß unter dem Tisch. Der Vierjährige versteckte sich immer unter dem Tisch, wenn er den Nebel sah, denn nur dort fühlte der Junge sich sicher.

Sogleich hockte sich Tatjana neben Paul und drückte den zitternden Kleinen fest an sich. Sie war hier geboren, sie kannte keine andere Welt. Deshalb kroch die Angst, beginnend bei ihren Füßen, hinauf in ihren Körper und übertrug sich auf ihn, als wäre sie eine furchtbare Krankheit. Tatjana drückte Paul so fest an sich, als müsste der Kleine sie beschützen.

Paul aber breitete die Arme aus und rief: »Papa!«

Einen Moment zögerte Jonathan. Dann kroch auch er unter den Tisch, streichelte Paul über die schwarzen Haare, küsste seine dicken Lippen und hielt die beiden abstehenden Ohren mit den Händen fest. »Paulchen, muss hinaus. Werde bald z’rück sein. Pass schön auf’s Mama auf. Musst tapfer sein, Paulchen. Hab dich lieb.« Noch ein Küsschen für Paul folgte, dann eins für Tatjana.

»Paul tapfer«, sagte der Kleine und schaute den Vater mit großen schwarzen Augen an. »Papa kommt wirklich z’rück?«

»Papa bald z’rück, wenn’s Höllenspunde vertrieben sind’s. Yäh?«

»Yäh, Papa. Bitte z’rück.« Zögernd ließ Paul eine Hand des Vaters los, die er bis dahin fest umklammert hatte.

»Pass auf dich auf. Bitte, Jonathan«, flüsterte Pauls Mutter und drückte den Kleinen noch inniger an sich.

Ein weiteres Mal nickte Jonathan, dann verließ er lautlos das Gebäude.

Paul legte seine Ärmchen um den Hals der Mutter, drückte seine Wange an die ihre. Dann zitterten sie gemeinsam. Während sie warteten, sang Tatjana ganz leise das alte Lied, das sie einst in der längst verbotenen Sprache von ihrer Großmutter gelernt hatte: »Против беды, против войны/​Встанем за наших мальчишек./​Солнце, навек! Счастье, навек!/​Так повелел человек …« – »Gegen die Sorgen, gegen den Krieg, stehen sie für uns, unsere Jungs. Sonne für immer! Glück für immer! So lautet der menschliche Befehl!«

Kaum hörbar summte Paul die Melodie mit.

*

Jonathan lag neben Alexej, einem viele Jahre älteren Mann, im Graben. Das war keineswegs ein Schützen-, sondern ein alter Straßengraben, der sich entlang einer längst verwilderten Straße zog. Feuchtigkeit kroch unter die Kleidung, Jonathan fror, doch die Angst ließ ihn die Kälte vergessen. Aus der Stadt kommend krochen unscheinbare Nebelschwaden durch den Wald, die der Wind schon bald verweht haben würde.

Alexej, der wesentlich besser sprach als die meisten Abtrünnigen, nutzte ein älteres Fernglas und beobachtete die Rümpfe der riesigen Fahrzeuge.

»BAT2000«, flüsterte er. »Fünf davon! Es werden also viel mehr Spunde sein, als wir bislang vermutet haben. Und sie haben die Richtung geändert. Es scheint, als wollten sie unsere Straße nutzen.«

»Soll’n Sprengkörper einsetzen?«

»Das wird ihre Ankunft verzögern, aber nicht verhindern. – Komm!«

Beide zogen sich einige Hundert Meter in den Wald zurück. Alexej sprach mit Jegor, dem Kommandanten. Der wies an, in aller Schnelle mit den bereitgelegten Bäumen die Straße zu versperren. Es war schwere Handarbeit, bis die fünfzig Männer etwa zehn der großen Kiefern auf der Straße platziert hatten.

Jegor ließ die letzten vorhandenen verbotenen Sprengladungen unter der Brücke anbringen. Diese führte vor der dürftigen Stadtsicherung über ein nicht sonderlich gewaltiges Flüsschen. Zwei Männer blieben zurück, die anderen verteilten sich im dichten Wald vor dem Stadtrand.

Jonathan lauschte. Schon heulten die hässlichen Turbinen der BAT2000 in unmittelbarer Nähe! Er zauderte. »Sollten’s Volk ins Rückland schicken«, schlug er vor und sah abwartend hinüber zu Jegor.

»Ist zu spät, Jonathan. Längst zu spät.«

Die ersten Spunde näherten sich, ihre zerstörerischen Waffen im Anschlag. Jonathan kannte die gräulichen Projektile, die in fast jedem Körper stoppten, um eine halbe Sekunde später zu explodieren. Sie kamen wie Nadeln geflogen, wenn die Spunde gleichzeitig im Dauerfeuer schossen, zerrissen Mauern, Türen und Leiber.

Noch schwiegen die Waffen. Vielleicht ahnten die Spunde nicht, was für eine große Enklave vor ihnen lag.

Sie liefen in engen Linien, jeweils fünfzig Spunde dicht nebeneinander. Alle sahen gleich aus, denn sie trugen homogene graue Uniformen. Und sie zeigten keine Gesichter, die blieben hinter spiegelnden Visieren versteckt.

Die ersten Kolonnen trafen auf die Barrikade. Wie Ameisen stürzten sie sich darauf und zerrten die großen Bäume mühelos aus dem Weg.

Ein BAT2000 fuhr in die vordere Linie, schob die Barrikade gänzlich zur Seite, stoppte mitten auf der Straße und klappte geräuschvoll gewaltige Behälter auseinander. Unzählige Luken öffneten sich, aus denen die tödliche, graue Masse herausquoll. Zweitausend weitere Spunde nahmen Aufstellung, vereinigten sich mit denen, die ohnehin bereits zu Fuß marschierten.

Jonathan dachte an den kleinen Paul, dachte an seine Tatjana, ein zartes Mädchen, das sich oftmals mehr zutraute, als ihr Körper bewerkstelligen konnte. Das Haus war nicht weit vom Stadtrand entfernt.

»Wir ziehen uns in die Stadt zurück!« Jegor, der diesen Krieg seit siebenundsechzig Jahren miterleben musste, lief bereits durch den Graben. »Gleich sprengen wir die Brücke!«

Die war nur eine Biegung der Waldstraße von den Angreifern entfernt. Die Spunde konnten die Brücke noch nicht sehen, aber lange würden sie von der fehlenden Verbindung nicht aufgehalten werden. Die Hänge zum Flüsschen waren flach und leicht zu überwinden.

Mit schweren Beinen folgte Jonathan Jegor. Laub raschelte unter seinen Füßen.

Detonationen erschütterten den Waldboden, die Druckwelle ließ Bäume schwanken, Dreck flog durch die Luft. Als sich die Männer im Graben erhoben hatten, sahen sie vor sich, unmittelbar am Waldrand, die grauen Schatten! Die Spunde kamen nicht nur von hinten, sie kamen auch von der Seite!

»Черт ублюдки!«, zischte Jegor in der verbotenen Sprache. »Verdammte Bastarde!«

Die Männer hetzten weiter, entfernten sich aber von der Stadt. Aus allen Richtungen kamen plötzlich diese Spunde! Sie mussten den Überfall detailliert geplant haben.

Hektisch schaute sich Jonathan um. »Da! Rettungsbaum!«, rief er, kroch auf einen außergewöhnlich hohen Baum mit dichter Krone zu und erklomm bereits, gefolgt von den Kameraden, die ersten Stufen einer Leiter aus Seilen. Solche Bäume waren selten, sie wurden von den Neumoskauern nur für absolute Notfälle eingerichtet. Weit oben, im Schutz der Krone, gab es ein Baumhaus, das Jegor, Jonathan und zwei weiteren Männern Schutz bot. Die Leiter wurde eingeholt. Jegor gab das Fernglas Jonathan, der nun versuchte, etwas zu erkennen. Jonathan aber sah nichts außer den unzähligen Spunden, die ohne Pause auf die Stadt zustampften. Dann hörte er die ersten zischenden Projektile, kurz darauf die knallenden Detonationen.

»Wir müssen …«, entfuhr es ihm.

»Ja. Wir müssen ihnen helfen. Doch können wir es nicht. Es ist unmöglich, Jonathan, wir wären sofort tot. Noch bevor wir den Boden erreicht hätten. Damit würden wir nichts erreichen. Viele Schlachten haben wir gewonnen, aber diese werden wir wohl verlieren, mein Junge.«

Jonathan war nahe daran zu verzweifeln. Verlieren? Nichts tun sollte er? Aber Paulchen! Und Tatjana! Der junge Mann weinte und verfluchte Die Zehn und ihre verdammten Spunde. Erbarmungslos bohrte sich das Prasseln explodierender Projektile in Jonathans Gehirn.

Inbrünstig flehte er, irgendjemand möge Tatjana und dem kleinen Paul beistehen, damit die Spunde sie nicht fanden.

Freund Räudiger Paul

Passus 3

Ausschließlich Privilegierte Beamte und Staatseigene der EDR haben das Recht, im Schutze der Kuppelstädte zu leben.

Völlig außer Atem erreichte Simo den Tunnel, der zum Rottenquartier führte, eine künstlich gebaute, recht große Höhle, auf der Westseite in den Apenninen gelegen. Sogleich empfand er die ihn umgebende Dunkelheit als einen Kerker, blickte zum wiederholten Male zurück ins Tageslicht, zurück in die Freiheit. Erst dann ging er mit erhobenem Haupt auf das Menschenkind zu, das bereits auf ihn zu warten schien.

01-Spundgruppenführer-Elia stand dort und lauerte – breitbeinig, als wäre er die Rottenführerin persönlich. Schräg hinter Elia stand Linu, die Nummer 13, der Spundzweigboss von Simos Zweig, der jedoch in Elias Anwesenheit nichts zu sagen hatte.

Ohne jedes Wort stellte sich Simo vor dem Spundgruppenführer in Position, mit leicht geöffneten Beinen, den Oberkörper durchgedrückt, die Arme im Rücken, das Visier heruntergerollt. Stolz zeichnete sein Gesicht darunter.

Elia wollte Simos Stolz nicht entdecken. »Raum K8. Übung 26.« Das war alles, was er zu sagen hatte.

›Schwanzloser Rattenfurz‹, dachte Simo, sprach die Beschimpfung jedoch nicht aus. Im Visier blinkte die Güte 90. Selten hatte ein Räudiger diesen Wert erreicht. Und dabei hatte Simo unheimlich viel Zeit mit 12-Spund-Juli verplempert. Auf dem Rückweg hatte der Kleine die Hilferufe Julis gehört, hatte so plötzlich gestoppt, dass er der Länge nach ins Gras gerutscht war. Und als er sich hochgerappelt hatte, um zu helfen, hatte er entdeckt, dass bereits jemand am Abgrund stand, um Juli zu helfen. Simo hatte sich nicht noch einmal umgesehen, war blitzschnell zum Tunnel gehastet.

»Yäh, 01!«, rief er, drehte sich um und rannte durch den Tunnel. Am Terminal kniete er ab, schlüpfte geschickt aus dem Pelz und warf ihn in die Klappe, dann lief er im Laufschritt in einen Nebentunnel, stellte sich vor Tor K8 und trat ein, nachdem sich das Tor geräuschvoll geöffnet hatte.

In der Halle kämpften bereits vier Paare. Unter anderem war Paul zugegen, der eine Übung ohne Waffe gegen 35-Spundzweigboss-Marv führen musste, einen Educares, der Paul in allen Belangen überlegen war. Was für ein unfairer Kampf!

Simo blickte hoch zur Tafel und traute seinen Augen nicht. »Kampfplatz 9, Übung 26 : 17-Spund-Simo gegen 12-Spund-Juli«, stand in einer flimmernden Zeile geschrieben. Er ausgerechnet gegen Juli im Nahkampf? Was war das für ein blöder Zufall? Übung 26 war Nahkampf mit Keule. Aus einer Halterung nahm Simo einen länglichen Kunststoffstock, der mit beiden Händen geführt werden musste, weil er ansonsten schnell zu schwer wurde.

Kaum hatte sich das Tor geschlossen, da öffnete es sich wieder und Juli trat ein. Auch er griff sich eine Keule und schritt wortlos zum Kampfplatz 9, einem kreisrunden Segment. Nachdem Juli das Segment betreten hatte, senkte sich die undurchlässige, zwei Meter hohe Plastikglasumrandung. Ein Entweichen war nun unmöglich.

Unwillkürlich schaute Simo zu Paul hinüber, der unter Marv lag, dessen Knie Pauls Oberarme auf dem Boden zu zerquetschen schienen und der Paul ununterbrochen ins Gesicht schlug, obwohl dessen Nase und Augenbrauen bereits bluteten. Während der Trainingsrunden gab es keinen Schiedsrichter. Nur die Güte wurde überwacht. Sank diese unter 10, erfuhr es der Spundgruppenführer zuerst.

»Eliminiert wird Paul«, fluchte Simo. Nur Juli konnte sein Geifern hören.

Der schwang bereits die Keule mit beiden Händen. »Was interessiert ’s dich, Simo? Paul ist doch nicht dein Freund, oder?«

Wütend hob Simo die Keule über den Kopf und rannte auf den viel größeren Juli zu. »Verabscheue hierige Streite!«, brüllte er und schlug mit aller Kraft auf Juli ein.

Der hielt geschickt die Keule in den Schlag, wurde nur leicht getroffen und taumelte bis zur Umrandung zurück. »Hast du in Taktik nicht aufgepasst, Simo?«, rief Juli. »Was musst du tun, um deinem Freund zu helfen?«

Erneut schwang Simo die Keule. Die Umrandung war unüberwindbar, einfach zu hoch für einen Spund, wie Simo einer war. »Kein Nichts kann das!«, brüllte er.

Paul wand sich auf dem Boden, immer mehr Blut verteilte sich in seinem Rondell, 35-Spundzweigboss-Marv hatte sich erhoben und trat wuchtig in Pauls Seite.

»Du irrst, Simo! Du denkst egoistisch!«, rief Juli, an die Glaswand gelehnt, und ließ die Keule fallen. »Denke im Team. Das hast du bisher nie getan. Doch genau darin liegt der Weisheit Schlüssel, Simo. Denke im Team!«

Ungläubig starrte Simo den Großen an, der, noch immer an die Wand gelehnt, die Hände so vor dem Körper hielt, dass Simo mit einem Fuß hineinsteigen und die Wand hätte erklimmen können.

Inzwischen heulte Paul mit letzter Kraft. Marv trat gegen seinen Kopf und Paul versuchte sich zur Seite zu rollen. Plötzlich schwang Simo die Keule, drehte sich wie ein Diskuswerfer, ließ sie im richtigen Moment los und brüllte:

»Paul, acht haben!« Die Keule flog über zwei Umrandungen. Paul sah sie kommen, nahm all seine Kräfte zusammen, krauchte los und fing die Keule, nachdem sie auf dem Boden aufgeschlagen war. Mit ihr konnte Paul umgehen. Bei all dem vielen Blut sah Simo auch den Hass in Pauls Gesicht. Dieser schwang die Keule, drehte sich dreimal um den eigenen Körper und näherte sich Marv, der plötzlich völlig erstarrt im Zentrum des Rondells stand.

Es war ein dumpfer Schlag. Die Keule traf Marvs Gesicht, zerschmetterte Nase und Lippen. Der Educares fiel einfach rückwärts um und rührte sich nicht mehr.

Als er sehen musste, was nun geschah, atmete Simo hastig, denn Paul stand plötzlich vor dem regungslosen Kampfpartner, der ihn eben noch bestialisch traktiert hatte. Mit beiden Händen führte Paul die Keule vom Rücken am eigenen Kopf vorbei und drosch sie auf den Kopf von Marv, dessen Schädeldecke zerschmettert wurde, sodass Blut und Gehirnflüssigkeit in alle Richtungen spritzte. Der nächste Schlag zertrümmerte die Rippen, der dritte alles, was zu Marvs Unterleib gehört hatte, und der vierte traf noch einmal den Kopf.

Die Umrandung von Pauls Kampfplatz fuhr in die Höhe und der elfjährige Räudiger mit der dunklen Haut ließ Simos Keule fallen. Oben auf der Tafel leuchtete für alle Kampfplätze ein »Zeitaus«, auch die übrigen Umrandungen verschwanden. Die Augen aller Spunde in der Halle folgten Paul, der wortlos den Kampfraum verließ.

Simos und Julis Blicke trafen sich.

»Team?«, fragte Simo mit argwöhnischem Unterton und meinte Juli. »Wären zu spät g’wesen, Juli. Klugheit besser als Team.«

Juli sagte kein Wort. Der Kleine, dessen Ideen mehr wert waren als seine, hatte es ihm mächtig gegeben.

Simo rannte los, holte Paul ein, griff an dessen Handgelenk und zerrte ihn mit sich, obwohl Paul größer war. Der Kleine führte Paul durch einen langen Flur zur MÜS, der Medizinischen Überwachungsstation im Zentrum des Rottenkomplexes. Damit beging Simo ein Vergehen: Er verließ die Ausbildung, ohne einen direkten Befehl von seinem Spundzweigboss oder dem Spundgruppenführer erhalten zu haben.

Paul schwieg noch immer apathisch. Von seinem Körper tropfte eigenes und fremdes Blut.

Das Tor zur MÜS öffnete sich nicht, denn ihre Chips verrieten der Überwachungsanlage, dass sie beide Räudiger waren. Simo schaute sich um, entdeckte 32-Spund-Adri, einen achtjährigen Educares aus Pauls Zweig. Er ließ Paul los, griff Adri mit einer Hand an den Hals, mit der anderen am rechten Handgelenk und schubste ihn in Richtung der Tür zur Medizinischen Überwachungsstation, die sich daraufhin sofort öffnete. Simo stieß Adri zurück in den Flur und zerrte Paul in die MÜS, drückte ihn auf einen leeren Behandlungsstuhl und wartete. Das Untersuchungs- und Behandlungsapparat fuhr herunter, scannte Paul von oben bis unten, verschwand in der Decke und kam kurz darauf wieder herunter.

»Arme in die vorgesehenen Halter legen!«, befahl eine weibliche Computerstimme. »Augen schließen!«

Es war Simo, der Pauls Arme in die Halterungen drückte und befahl: »Mach Glotzen zu, 34!«

Elemente des Behandlungsapparats bewegten sich ruckartig. Paul bekam mehrere Spritzen, ein Greifer glitt über seinen Kopf, es zischte ein paar Mal, dann lösten sich die Armhalterungen und der gesamte Apparat verschwand endgültig in der Decke.

Paul wirkte benommen. Simo zog ihn mit sich zur Tür, die sich von dieser Seite problemlos öffnen ließ, und stand kurz darauf mit Paul im Flur. Dessen Gesicht war grob vom Blut gesäubert, seine Wunden mit Flüssigpflaster und Heilmitteln besprüht. Paul fühlte die Schmerzen nicht mehr.

»Manchmal gut, schwanzloser Educares zu sein«, sprach Simo.

Paul schaute Simo eine Weile an. Dann umarmte er den Kleinen, drückte ihn an seine Brust und heulte sehr, sehr lange. »Wollt den nicht totmachen«, schluchzte er, als müsse er sich entschuldigen.

Simos Erwiderung kam ohne Umstände: »Hastes aber g’tan. Du oder der. Nicht anders Wahl hatt’st.«

*

Am Abend glaubte Simo den eigenen Augen nicht. Seine Güte war auf 20 gesunken, noch weit unter die von Paul! Praescius bestrafte ihn hart.

Während sich Paul bei der Abendhygiene vom Wasserbad absprühen ließ, tauchte schon wieder 12-Spund-Juli auf, stand direkt neben Simo und war so nackt wie der Kleine. Juli sammelte Wasser in seinem Mund und spuckte es auf Simos Rücken! Und er lachte dabei und rief, um die Düsen zu übertönen: »Was du mit Paul geleistet hast, war beste Teamarbeit. Verstehst du? Nicht deine Idee, die Keule rüberzuwerfen – die war nur brillant. Nur so konnte Paul Nummer 35 in einer aussichtlosen Lage glätten. 36-Mart ist jetzt Spundzweigboss. Was aber dann geschehen ist – ich meine, wie du Paul zur Behandlung in die MÜS geschmuggelt hast –, das war echte Teamarbeit. Und weißt du was, Simo?«

Simo reagierte nicht.

»Was du getan hast, Simo, das tut ein guter Junge für seinen besten Freund.«

Simo schaute Juli nur mit seinem schmalen Hintern an, denn die Augen blickten hinauf zu den glänzenden Tröpfchen des Wasserbades, die so sanft auf ihn herniederrieselten.

»Sie haben dir 70 Gütepunkte gestrichen«, sagte Juli.

»Weißt du auch warum?«

Jetzt drehte sich Simo um und schaute mit tiefen, rot unterlaufenen Augen zu Juli, denn die Antwort auf diese Frage interessierte ihn durchaus.

Juli lächelte den Kleinen an. »Weil du im Kampf gegen mich deine Waffe verloren hast, Simo. Nur deshalb haben sie dir die Güte genommen. Du warst damit wehrlos und ich hätte dich glätten können. Weil ich’s nicht getan habe, haben sie auch mir satte 20 Gütepunkte abgezogen.«

Wieder wandte sich Simo ab, doch schon kurz darauf blickte er zurück: »Woher weißt’s?«, sprudelte die Frage mit viel Wasser aus seinem Mund.

Doch Juli war bereits im Trockner verschwunden, das Rauschen neben Simo versiegte.

Er selbst stand noch lange unterm Wasserbad.

*

Niemand sprach jemals über Marvs Glättung. Doch alle betrachteten Simo und Paul mit anderen Augen als bisher. Der sechste Zweig von Elias Spundrotte bestand nun nur noch aus vier Spunden – zwei Educares und zwei Räudiger. Schon am nächsten Tag stieg Simos Güte während der Außenausbildung auf 64. Er gab sich riesige Mühe. Paul hing wie eine Klette an ihm, während sich Juli, nach dem sich Simo häufig umgeschaut hatte, fernhielt.

*

Simo sah die blutrote Sonne, die über dem Horizont aufstieg und die Landschaft in ein glühendes Feuer tauchte. Er lag im hohen Gras und beobachtete, dass die Menschen aus den runden Hütten gekrochen kamen, auf dem Platz niederknieten und sich zur aufgehenden Sonne hin verbeugten. Er hörte ihre singenden Stimmen – die von erwachsenen Männern und Frauen und auch die mehrerer Kinder. Alle trugen unterschiedliche Kleidung, alle hatten dunkles, langes Haar.

Plötzlich hörte Simo einen Educares brüllen: »Feuer! Schlachtet sie! Schlachtet sie alle!«

Hinter einem flachen Hügel tauchten Hunderte, wenn nicht gar Tausende Spunde auf, die Waffen gestreckt und unablässig auf die Bewohner der runden Hütten feuernd. Die rannten durcheinander, Frauen und Männer versuchten die Kinder zu decken, doch die Spunde machten alle nieder, rannten hinunter und schlachteten ab, was noch einen Lebenshauch besaß. In den Höllenjubel der Spunde mischte sich ein barbarischer Schrei …

Der Kleine kniete in seiner Koje, sein Kopf stieß gegen die Koje darüber. Simo brüllte, so laut ein Junge in seinem Alter nur brüllen konnte.

Alle anderen der Gruppe lagen oder saßen aufgeschreckt in ihren Kojen und glotzten in Simos Richtung, ohne dass sie ihn in der Dunkelheit sehen konnten.

Sein Tränenwasser lief ohne Unterlass und Simo, der erst in diesem Moment aus seinem Traum erwachte, kroch unter die dünne Decke und versteckte sich vor den unsichtbaren Blicken der anderen in einem Hort der Schwärze dieser Nacht. Schon einmal hatte er diesen Traum erlebt, schon einmal vor vielen Nächten. Doch heute schien er so real, dass Simo die Melodie der Singenden nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Dann fühlte er eine Hand an seinem Hals, jemand kroch unter seine Decke und flüsterte in sein Ohr.

»Du verdreht?« Paul.

»Nicht verdreht. Träumerei war’s.«

»Arg?«

»Arger als arg«, hauchte Simo. »Tatsachen ins Auge sehend war’s. Glaubst’s nicht.«

»Weinst?«, fragte Paul. »War’s 35-Spundzweigboss-Marv? War’s er in Träumerei?«

»Nicht Marv war’s. Spunde haben’s viel g’schlacht. Arme Dunkle wie Paul, g’schlacht. Aus’m Morgenland warn’s. Kleine und Große. Spunde haben’s all g’schlacht.«

Paul lag dicht an Simos Seite, hatte einen Arm über Simo gelegt. »Freund bist, 17. Bester Freund bist«, flüsterte Paul plötzlich.

Simo war überrascht. »Hat’s Juli das g’sagt?«

Paul antwortete nicht, atmete nur gleichmäßig.

»Hat’s Juli das g’sagt?«, fragte Simo erneut, ein wenig zu laut.

Luka, der nebenan im Bett lag, schimpfte: »Halt dein Maul, 17, täppischer Spritzpimmel!«

Simo reagierte nicht darauf.

Paul flüsterte: »Nicht Juli. Paul das g’sagt, nur Paul, verstehst, Simo? Nur Paul.«

Minuten vergingen, dann erst fuhr Paul flüsternd fort: »Paul fürchtet, einer könnt’s mit Paul ’s Gleiche tun?«

»’s Gleiche?«, hauchte Simo.

»Was Paul mit Marv g’tan.«

Simo gähnte. »Zeit macht nicht Wunden heil«, flüsterte er. »Zeit macht neue Wunden.«

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23 aralık 2023
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