Kitabı oku: «Blinde Krokodile», sayfa 2

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Abstieg

Kurz vor dem zehnten Angestelltenjubiläum des Discount-Möbelhändlers erlitt der bedauernswerte Valentin einen schweren Arbeitsunfall. Aus der vierten Ebene eines Lasthochregals war ein Karton mit einem Porzellan-Waschbecken herniedergestürzt, das Valentins breites Kreuz aufzufangen versuchte, weil seine Augen den Karton nicht hatten kommen sehen.

Noch an seinem Krankenbett entschied die zuständige Berufsgenossenschaft, um für Führungsgehälter dringend notwendige Gelder einzusparen, dass der Mitarbeiter Karl selbst die Folgen des Unfalls zu tragen habe. Freilich schloss sich der Arbeitgeber dem an, verbreitete zudem sogleich und überall das Gerücht, Valentin sei ein Simulant, der sich auf Kosten der Mehrbelastung seiner armen Kollegen in einem städtischen Klinikum zu erholen gedachte und trennte sich leichten Herzens und Hals über Kopf von seinem langjährigen Mitarbeiter.

Valentin Karl wurde zu einer Akte bei der ARGE, glitt hinüber in die Hölle Hartz 4 und verarmte zusehends, was man im Freistaat nicht für möglich gehalten hätte. Schweren Herzens gab er seine geliebte Wohnung in Kleinfingerroda auf und zog an Münchens Stadtrand. Ein gewisser Immobilienmakler und -besitzer, Herr Dr. Baumann, vermietete ihm dort eine wirklich winzige und zudem unsanierte Einzimmerwohnung in einem schmalen Hinterhofhaus. Die war zwar sehr dunkel und besaß nicht einmal einen gegenüberliegenden Friseursalon, doch immerhin war sie »Hartz 4«-fähig. Valentin verdingte sich nach halbwegs erreichter Gesundung in allen möglichen Aushilfejobs, meist im marktführenden Fast-Food-Restaurant, wo er mit Cap und Schürze Toilettenfliesen zu reinigen hatte, auf denen sich ganze Kindergeburtstagskinderbanden nach übermäßigem Burgergenuss übergeben hatten.

Zwar gönnte die gesetzliche Krankenkasse dem noch immer leidenden Mann einige Massagen, doch die Besuche im Massagesalon waren für Valentin nicht unbedingt von positiven Erfahrungen gekrönt, wie dieses Beispiel zeigen sollte:

Drei junge, hübsche, schlanke Masseurinnen standen an einer Massageliege, auf der Jonny – ein braungebrannter, äußerst muskulöser, in den Augen von Frauen zweifelsfrei attraktiver Mann – lag. Sie massierten diesen Gigolo abwechselnd oder gleichzeitig und kicherten dabei. Hinter einer weißen, spanischen Wand saß derweil Valentin auf einem unbequemen Holzstuhl und wartete gelangweilt. Er trug an diesem Tag eine pinkfarbene und mit kleinen Schweinchen gemusterte Unterhose, die ihm augenscheinlich etwas zu groß, dafür im Duzend ausgesprochen billig gewesen war. Aus dem Zimmer hörte er das laute Kichern der drei Masseurinnen und die männlich markante Stimme von Jonny: »Oh ... ja! Das ist gut so! Ja! Mehr! Oh! Oh! ...«

Valentin erhob sich neugierig von seinem Holzstuhl und versuchte links an der spanischen Wand vorbeizuschauen, doch ein weißer Schrank versperrte ihm die Sicht. Er ging zur rechten Seite, doch von dort konnte er unmöglich den Behandlungsbereich einsehen. Also nahm er den Stuhl, rückte ihn an die spanische Wand heran und kletterte auf die Sitzfläche. Er sah noch immer nichts, stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte endlich hinüberschauen. Für einen Moment erkannte Valentin, dass die drei Masseurinnen diesem arrogant wirkenden Jonny auf der Massageliege gleichzeitig genüsslich Bauch, Beine, Brust und Oberarme massierten. In diesem Moment verlor der auf dem Stuhl Stehende Gleichgewicht und Orientierungssinn, für einen Moment sah der mit einem leicht erigierten Jonny auf der Massageliege liegende Jonny voller Erstaunen Valentins Hände über der spanischen Wand, die geradezu ins Leere griffen, um sich am Nirgendwo festzuhalten. Kurz darauf war ein deftiges Poltern und Stöhnen zu hören.

Valentin saß hinter der spanischen Wand und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hüfte. Da erschien ihm eine attraktive junge Masseurin und sprach: »Na, Herr Valentin, Ihnen geht es ja tatsächlich ziemlich schlecht. Dann kommen Sie mal mit, wir werden Sie schon wieder einrenken.«

»Karl.« Valentin erhob sich und versuchte zu lächeln. »Mein Nachname ist Karl. Sie können aber gern Valentin zu mir sagen. Ich meine, ohne das ›Herr‹.« Sein Blick erhaschte die wahnsinnig schlanken und wohlgeformten Beine der Masseurin, die eine reizende kurze Kittelschürze trug. Jonny und die beiden anderen Masseurinnen hatten derweil das Behandlungszimmer verlassen.

»Na gut, Herr Karl.« Die junge Masseurin kicherte. »Legen Sie sich bittschön bequem hin. Auf den Bauch und durch das Loch in der Liege gucken.«

Valentin stieg hinauf und wäre auf der anderen Seite fast wieder heruntergefallen. Schließlich drehte er sich mit einem erschaudernden Stöhnen auf den Bauch und sah den Parkettfußboden durch das Loch in der Liege.

»Privat oder gesetzlich?«, fragte die Masseurin.

Karl hob den Kopf ein wenig an. »Gesetzlich.«

Daraufhin vernahm er ein bedauerndes: »Schade für Sie.«

Die junge, hübsche Masseurin verließ den Behandlungsraum, Valentins Blicke folgten ihren Beinen durch das Liegenloch und er hörte ihr zartes Stimmlein rufen: »Momentchen noch.«

Die Tür fiel ins Schloss und öffnete sich kurz darauf wieder. Valentin erblickte nun zwei kräftige, kurze Beine mit vielen Krampfadern und unzähligen schwarzen Haaren. Zunächst dachte er, ein Bär wäre in das Behandlungszimmer eingedrungen, doch dann nahm Valentin zur Kenntnis: Eine dicke, alte Masseurin stand an seiner Massageliege und sagte mit einer astreinen Männerstimme: »Na, dann wollen wir mal! Sie müssen wirklich keine Angst haben, Herr Valentin. Die meisten Patienten haben meine Behandlung überlebt.«

Valentin flehte: »Bitte sagen Sie Karl zu mir. Valentin ist mein Vorname.«

Die Masseurin begann seine Schultern hart durchzukneten. »Aber sicher, Valentin.«

Valentin schrie stöhnend auf. »Bitte! Töten Sie mich nicht!«

Sie schlug ihm kräftig auf den Hintern und sagte im Takt ihrer Strafen: »Sie sind ja völlig verspannt, Valentin. Bleiben Sie mal schön locker. Sie werden sehen, wenn ich erst mit Ihnen fertig bin, dann wissen Sie gar nicht mehr, wie Ihr Vorname ist.« Mit allen Mitteln traktierte sie sein unwilliges Fleisch. »Muntert Sie vielleicht ein guter Witz auf? Zum Beispiel, was eine Gans im Massagesalon will?«

»Wahr-schein-lich ei-ne Gans-körper-massa-ge!«, röchelte Valentin mit dem Gesicht im Loch und spürte das Klatschen eines festen Handschlages auf seinem entblößten Hintern, rhythmisch – versteht sich – zu den Lachattacken der Masseurin.

Nur wenige Stunden nach der körperverletzenden Stippvisite in diesem mittelklassigen Massagesalon in der Randzone der bayerischen Landeshauptstadt sollte sich Valentin Karls Leben schlagartig verändern.

Der schmutzige Mann

Valentin betrat seine Wohnung. Über der Schulter trug er eine hässliche graue Reisetasche, die lediglich dem Transport seines Frotteehandtuchs und seiner Badelatschen für den Massagetermin gedient hatte. Im Zimmer sah es wie immer sehr unordentlich aus, überall lagen Sachen und Bücher herum. Valentin stellte die Tasche ab und stöhnte dabei. Die Massage steckte ihm tief in den Knochen und die Schmerzen waren schlimmer als zuvor. Er streckte sich mühsam. Das Wohnzimmer war zum Teil auch Küche. Dort hinein ging Valentin und nahm eine Tasse, in der noch etwas Kaffee und ein Metalllöffel waren, stellte die Tasse in die Mikrowelle und schaltete diese ein. Ein starkes Knistern ermahnte Valentin, die Mikrowelle eiligst wieder auszuschalten. Er nahm die Tasse heraus und verbrannte sich die Finger an dem metallenen Löffel. Im gleichen Moment klingelte überraschend sein Telefon. Die Tasse fiel als Ergebnis einer heftigen Bewegung um und der heiße Kaffee lief vorn über Valentins Hose. Valentin brüllte bestialisch laut auf, sprang trotz der Massageschmerzen wie ein angestochener Stier umher und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den annähernd gargekochten Penis.

»Wo ist nur dieses gottverfluchte Telefon?«

Stöhnend und jammernd, mit einer Faust zwischen den Beinen, suchte er nach dem Telefon. Er schlug die Decke seiner Schlafstätte zurück, fand jedoch nur ein abgenutztes, klebriges Pornoheft. Valentin leckte sich kurzzeitig die Lippen, zu mehr war gerade keine Gelegenheit, denn das Telefon klingelte noch immer. Valentin betrat die zwei Quadratmeter großen Feuchtgebiete seines Hartz-IV-Appartements. Neben seiner Gummi-Ente lag das quäkende Telefon auf der Klosettspüle. Sogleich nahm Valentin das Mobilteil in die Hand, setzte sich stöhnend auf die Toilette und genehmigte die Annahme des Anrufes.

Am anderen Ende meldete sich der Immobilienbesitzer und -händler Dr. Baumann, Valentins Vermieter, ein äußerst vornehmer, arroganter und reicher alter Herr, der von einem ordentlichen Büro aus anrief.

Valentin erklärte derweil: »Hallo Mutti, dein Anruf kommt gerade sehr ungelegen, ich bin extrem beschäftigt.«

Worauf Dr. Baumann erbost fragte: »Was erzählen Sie da, Karl? Sie hören doch, hier ist Baumann! Host mi? Dr. Baumann! Sie ahnen zweifelsohne, warum ich anrufe?«

Der Mieter verzog sein Gesicht. Er schuldete Baumann zwei Mietraten! Doch wovon sollte Valentin die bezahlen? »Hallo? Wer ist da?«, fragte er deshalb erneut. »Hallo? Ich versteh Sie nämlich ganz schlecht! Es knirscht und kratzt, die NSA hört wahrscheinlich mit, ha, ha ...« Valentin lehnte sich resignierend an und betätigte dabei versehentlich die Klospülung, die lautstark gurgelnd losrauschte, worauf der geplagte Mann hochschreckte.

»Verarschen Sie mich nicht, Karl! Host mi?«, wetterte Baumann derweil am anderen Ende. »Sie sind raus! Host mi? Ein für alle Mal! Host mi? Seit sechs Monaten renn ich der Miete hinterher! Host mi? Ich lass mich nicht zum Affen machen! Host mi? Nicht von Ihnen! Host mi? Und verbrauchen Sie nicht noch mehr von meinem Wasser! Host mi?«

»Es sind doch nur zwei Monate, Herr Dr. Baumann, wer wird denn so kleinlich ...«

Der Vermieter unterbrach Valentin scharf: »Halten Sie Ihre Klappe, Karl! Host mi? Morgen früh schicke ich die Müllabfuhr vorbei! Host mi? Dann sind Sie verschwunden! Host mi? Mit all Ihrem Dreckszeug! Host mi? Und dann ... dann will ich Ihr verdammtes hässliches Gesicht nie wieder in einem meiner Häuser sehen, ansonsten werden Sie sich daran gewöhnen müssen, Ihre Mahlzeiten mit einer Schnabeltasse einzunehmen! Host mi? Haben wir uns verstanden? Host mi? Morgen früh um acht Uhr sind Sie Luft für mich! Host mi? Und keine Sekunde bleiben Sie länger in meiner Wohnung! Host mi?«

Valentin zuckte am ganzen Körper. »Aber Herr Dr. Baumann ... ich ... ich habe im Moment keine Arbeit. Ich ...«

Am anderen Ende zeterte Dr. Baumann: »Das interessiert mich einen Scheiß, was Sie haben und was nicht! Host mi? Verschwinden Sie in eine andere Stadt! Host mi? In ein anderes Land! Host mi? Auf einen anderen Kontinent! Host mi? Wohin, ist mir völlig egal! Host mi? Von mir aus auf einen anderen Planeten! Host mi? Schröpfen Sie einen anderen Vermieter! Host mi? Morgen früh Punkt acht Uhr haben Sie sich in Luft aufgelöst!«

Valentin hörte das Freizeichen. »Host mi?«, plapperte er Baumann nach und saß eine mittlere Ewigkeit regungslos auf dem Klo. Minuten später erhob er sich, ging ins Wohnzimmer und schaute sich um. Er suchte und fand eine noch fest verschlossene Flasche Whisky, eine, die er einst zum Geburtstag bekommen, jedoch nie angerührt hatte, weil er Alkohol nicht wirklich mochte. In Trance drehte er den Verschluss ab, setzte die Flasche an die Lippen und trank sie komplett leer. Sein Kehlkopf hüpfte dabei wie wild. Dann stand Valentin kerzengerade und regungslos da und starrte wie ein Toter vor sich hin. Irgendwann rutschte ihm die Flasche aus den Fingern, Valentin Karl verleierte die Augen, fiel einfach so um und lag straff, erstarrt und still auf dem Boden.

Der nächste Morgen wurde zu einem Albtraum.

Valentin lag noch immer starr, regungslos und wie tot auf dem durchgewetzten Billiglinoleum, während eine Putzfrau den Boden wischte und Valentin den saftigen, mit Reinigungs- und Desinfektionsmitteln getränkten Scheuerlappen ins Gesicht klatschte. Valentin erwachte schlagartig und sah sich ungläubig um. Die Wohnung war völlig leer und öde. Die türkische Putzfrau warf ihm die Jacke und seine Brieftasche zu und zeigte zur Tür.

»Çık dışarı!«, zischte sie. »Isch haben hier meine Job zu machen!«

Valentin, ein immerhin neununddreißigjähriger Mann, rutschte wie ein acht Monate altes Baby auf den Knien rückwärts zur Tür und hatte nur die Jacke und seine leere Brieftasche bei sich. An der Tür erhob er sich schwerfällig und schaute noch einmal zurück. Die Putzfrau drohte ihm zum Abschied mit dem Schrubber. »Çık dışarı!«, zischelte sie erneut.

Valentin verließ seine vorübergehende Bleibe. Kurz darauf blickte er wieder zur Wohnungstür herein.

»Ne oldu? Was willst du?«, fragte die Putzfrau mit bösem Blick und drohte mit dem Schrubber, als hätte sie ein Laserschwert in den Händen.

Valentin kicherte und fragte: »Wissen Sie, was auf dem Grabstein einer alten Jungfer, wie Sie es sind, stehen wird? – Ungeöffnet zurück!«

Feixend verschwand Valentin im Treppenhaus, während hinter ihm die Einschläge einer türkisch-verbalen Schimpfkanonade niedergingen.

Das Feixen wich sogleich aus Valentins Gesicht, als er das Dach über dem Kopf verloren sah. Der zerstörte Gentleman schlich auf einem bestens gepflasterten Gehweg entlang. Wie es in jedem guten Drehbuch geschrieben steht, begann es unmittelbar und ausgerechnet in diesem Moment Bindfäden zu regnen. Was wäre dieses Buch sonst wert? Valentin schaute zum Himmel, an dem er eine einzige schwarze, aufgeplusterte Wolke sah. Er zog die Jacke bis über den Kopf, lief von Haustür zu Haustür und zitterte am ganzen Körper, als wäre er ein wandelnder Espenlaubbaum.

Der Regen nahm zu. Valentin rannte durch die Straßen und verlor alsbald die Orientierung. Einer jener bei gutem Wetter wunderschönen Stadtparks öffnete sich vor ihm. Durch diesen schlich er bald darauf auf der Suche nach Ruhe und menschlicher Abstinenz, erreichte eine Parkbank und ließ sich kraftlos darauf nieder, wie einst der Vater im Erlkönig, ihm grauset’s so sehr, doch kein Kind in seinen Armen ächzte, sondern nur der arme Kerl selbst. Doch kaum spürte Valentin die kriechende Nässe der Parkbanklatten auf seinem Hosenboden, da näherte sich gleich einem Orkan ein heruntergekommener Obdachloser mit einem Einkaufswagen voller Müll. Eben dieser Einkaufswagen fuhr Valentin in diesem Moment mit voller Wucht in die geplagten Beine.

»Verpiss dich, du stinkender Penner!«, zischte das zahnlose, zerfurchte, zerknitterte, runzelige Stoppelbartgesicht des Penners, der zudem auf den Stadtparkweg rotzte, als wäre er ein Fußballnationalspieler vor laufender Kamera. »Das ist meine Bleibe! Such du dir gefälligst eine eigene Wohnung!«

»Wohnung?« Valentin stand auf und schlich weiter, während sich der andere Obdachlose auf die Parkbank legte und sich grunzend mit einem aufgeklappten Pappkarton zudeckte.

Plötzlich aber drehte sich Valentin um und lief zurück. Er stand zitternd vor der Bank, und obwohl sich sein Kontrahent schlafend stellte, bewegte er zunächst nur die Lippen. Das Regenwasser schwemmte Valentin regelrecht auf und lief in einem Rinnsaal von seinem Kinn.

»Ich muss dir was erzählen«, sagte er. »Da kommt ein Penner wie du zur Arbeitsagentur und sagt zu der Beraterin: ›Guten Tag. Ich habe beschlossen, in Zukunft durch redliche Arbeit Geld zu verdienen, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen.‹ Daraufhin spricht die Beraterin lächelnd: ›Da haben Sie aber wirklich Glück, dass Sie gerade heute kommen. Ich habe hier das Angebot eines verdammt reichen Mannes, der sucht einen Leibwächter für seine wunderschöne achtzehnjährige Tochter. Sie müssten zudem seinen Mercedes fahren. Arbeitskleidung – Anzüge, Hemden, Krawatten und so weiter – wird Ihnen gestellt. Sie bekommen außerdem eine Wohnung im Haus des reichen Herrn und Ihre Mahlzeiten werden auch bezahlt. Die junge Dame müssten Sie allerdings oft auf ihren Reisen um die ganze Welt begleiten. Ihr Grundgehalt liegt bei etwa 240.000 Euro brutto jährlich.‹ Daraufhin sagt der Obdachlose: ›Jetzt verarschen Sie mich aber!‹ Und weißt du, was die Beraterin erwidert? Sie sagt: ›Wer hat denn mit der Verarsche angefangen?‹«

Valentin kicherte, gebärdete sich wie verrückt und schüttelte leicht den Kopf. »Der ist gut, oder? Und er passt irgendwie zu dir.«

Der Obdachlose auf der Bank drehte sich stöhnend um und streckte Valentin einen stinkenden Finger entgegen. Valentin hingegen patschte lachend und kopfschüttelnd durch den Matsch davon.

Bereits nach wenigen Schritten ging sein Lachen jedoch in ein kindliches, völlig verzweifeltes Heulen über.

Valentins neue Heimat wurde ein vier Quadratmeter großer Flecken unter einem Brückenbogen in einem anderen Park in München. Der war Teil eines Viaduktes, das einen Fluss überspannte. Ein paar Wochen mochten vergangen sein, vielleicht sogar Monate, was an Valentins üppigem Bartwuchs zu erkennen war. Valentin war bemüht, irgendwo einen Job zu finden, doch selbst sein Fast-Food-Restaurant wollte ihn wegen angeblichen Gestankes nicht mehr einstellen. Zur Agentur wollte Valentin nicht, dort würde ihm eh niemand helfen. Also gab er sich dem Schicksal hin, wurde ein Eremit inmitten der prächtigen Landeshauptstadt eines prächtigen Freistaates in einem der prächtigsten Länder Europas, wenn nicht sogar der ganzen Welt.

Was dann kam, war ungewöhnlich. Valentin saß eines Vormittags wie so oft auf einer Pappe, die einst einen Bürodrehstuhl geschützt hatte, vor einem ausgedienten Blecheimer, in dem am Abend vorher ein kleines Feuer gelodert hatte. Er sah völlig verwahrlost aus. Seine Kleidung war noch die des ersten Tages im Freien. Um ihn herum standen einige fast leere Bierbecher, aus denen er nacheinander die Regenwasserneigen trank. Auf einem Pappteller lagen zwei noch in Silberpapier eingepackte Frühstücksbrote, von denen eines nur ein wenig angebissen war. Valentin schaute nach dem Belag, freute sich über die ungarische Salami und wollte schon fast mit seiner Brotzeit beginnen. Doch während sich der Speichel im Mund sammelte, entschloss er sich zu einem kleinen Stoßgebet.

»Ich danke einer unbekannten Mutter für diese leckeren Frühstücksbrote, die sie erst heute Morgen ihrem Kind geschmiert hat. Und ich danke herzlich dem unbekannten Kind, dass es diese Frühstücksstullen verschmäht und weggeworfen hat. – Amen.« Dann schaute er zwei Minuten lang in den blauen Himmel und raunte: »Vergiss es, dir danke ich nicht!« Er biss herzhaft in die Brote und nahm sich viel Zeit für die mit großer Sicherheit einzige Mahlzeit an diesem Tag. Als er schließlich fertig war, rülpste und kicherte Valentin, leckte sich nacheinander die Fingerkuppen ab und machte es sich auf dem Pappkarton bequem.

Dann plötzlich schien es ihm, als wenn es regnen würde. Das war sehr merkwürdig, denn der Himmel zeigte sich an diesem Tag völlig wolkenlos und auch einen Regenbogen entdeckte er nicht. Valentin erhob sich, hielt die rechte Hand in den Regen, trat ein paar Schritte vor und schaut hinauf zur Brücke. Oben standen zwei Jugendliche und pinkelten von der Brücke auf ihn herab. Als die jungen Leute den Obdachlosen entdeckten, lachten sie laut und brüllten böse Schimpfworte, die aber nicht dem verfassungswidrigen rechtsradikalen Milieu zuzuordnen waren.

Valentin schüttelte sich angeekelt, ging zum Ufer des Flusses, zog sein beschmutztes Hemd aus und begann sich in der Flussbrühe zu waschen. Er genoss die innerstädtische Idylle, beobachtete tote Fische, die geräuschlos an ihm vorüberschwammen und denen es offenbar noch schlechter ergangen war als Valentin, der sich in diesem Moment erstaunt umdrehte.

Welch schöner Klang! Ein deutliches Kinderlachen war zu hören! Das gefiel dem Mann, der doch so gern Vater eigener Kinder gewesen wäre, was ihm jedoch nie vergönnt gewesen war.

Noch vor dem Fluss kniend schaute Valentin sich um. Auf seiner Wiese ganz in seiner Nähe sah er zwei Fußball spielende Jungen, die um die zwölf Jahre alt sein mochten.

Einer der beiden, der jedoch nicht zwölf, sondern bereits dreizehn Jahre alt war, stieß derb an den Ball, der in Richtung Fluss zu Valentin flog.

Der andere Junge rief: »Pass doch auf! Du schießt den Ball ja ins Wasser!«

Und der Schütze brüllte: »Dann lauf, Oskar! Lauf! Den kriegst du bestimmt noch!«

Oskar, übrigens im aktuellen Löwen-Trikot, rannte tatsächlich wie ein Blitz.

Direkt am Ufer und weit vor Oskar stoppte jedoch Valentin geschickt den Ball mit seinem rechten Fuß und begann damit, ihn gekonnt hochzuhalten. Er ließ den Ball von den Füßen zum Kopf, in den Nacken, auf die Hacken und wieder zu den Füßen tropfen. Die Ablenkung bereitete ihm große Freude, augenblicklich erinnerte er sich an seine Jugendsportzeit beim Grün-Blau Kleinfingerrodaer 1864 e. V. und an die vielen geschossenen Tore.

Jedenfalls wäre der wunderbare Lederball ins Wasser gerollt und vom Fluss hinweggetragen worden, hätte Valentin nicht geistesgegenwärtig eingegriffen.

Der Junge Oskar blieb wie angewurzelt in unmittelbarer Nähe stehen und stierte den schmuddeligen Valentin betroffen und sichtlich geschockt an, denn ihm gefiel es so gar nicht, was der schrecklich verwahrloste Typ mit seinem herrlichen Fußball anstellte. Und das recht gekonnt.

Valentin ahnte, was im Kopf des Jungen vor sich ging. Und während er den Ball hochhielt, rief er: »Als ich so alt war wie du, hatte ich drei Leidenschaften. Und eine davon war Fußball.«

Oskar trat von einem Fuß auf den anderen. »Na und? Gib mir gefälligst meinen Ball zurück, du blöder Penner!«

»Er wäre ins Wasser gefallen, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte. Du musst dich erst bei mir bedanken«, rief Valentin und ließ den Ball noch immer fleißig wandern, ohne dass er auch nur ein einziges Mal den Boden berührt hätte.

Oskar, ein schlanker Junge mit modisch langen, dunklen Haaren, dachte nicht mal im Entferntesten daran, Danke zu sagen. Im Gegenteil, er drohte! Denn hierarchisch gesehen stand ein Obdachloser weit, weit unter einem Realschüler oder gar einem Ausländer. »He, fick dich, Alter! Gib mir sofort meinen Fußball zurück! Oder ich ruf die Polizei und behaupte, dass du mich angefasst hast! Und der da wird es bezeugen!« Er zeigte zu seinem Kumpel.

»Soll ich dir was sagen, Oskar?«, fragte Valentin, kein bisschen außer Atem. »Oskar ist doch dein Name, oder? Ich mag ja momentan nicht so ausschauen, doch ein paar Dinge habe ich in meinem Leben bereits mehr gelernt als du. Und eines davon ist, dass ein größenwahnsinniger Zahnstocher niemals ein Speer sein wird.« Valentin fühlte sich zutiefst getroffen. »Wie ein Dank klingt das jedenfalls nicht, was du gesagt hast. Doch auf eine Enttäuschung mehr oder weniger kommt es in meinem Leben wahrlich nicht an. Hier, nimm deinen Ball und übe weiter, vielleicht wirst du eines Tages ein guter Fußballer, wie ich es bin.« Er warf dem Kind einen enttäuschten Blick zu. Es war jener Blick, den Valentin einst einzusetzen gelernt hatte, wenn man ihm in seiner Kindheit versprochene Dinge vorenthalten hatte, was sehr oft der Fall gewesen war.

Einen Moment lang überlegte er, ob er den Ball in den Fluss schießen sollte. Das brachte er jedoch nicht übers Herz und so gab er resignierend auf. Der Fußball konnte schließlich nichts für die schlechte Erziehung seines Herrn und Besitzers. Valentin beendete das gekonnte Spiel mit dem Ball und schoss diesen volley zu dem anderen Jungen.

Der rannte dem Schuss entgegen und rief: »Oskar, was will denn der Penner von dir?«

Oskar gönnte Valentin gleichfalls einen Blick. Keinen der Enttäuschung, sondern einen des Ekels, der Abscheu und der Verachtung. Er rief noch ein Wort aus seinem gängigen Vokabular: »Volltrottel!« Dann rannte der Junge blitzschnell zu seinem Freund zurück und kurze Zeit später verschwanden beide Knaben von der Bildfläche.

Diese Begegnung wirkte in dem Jungen Oskar nicht nach. Ein Penner war eben nur ein Penner. Mehr nicht. Doch in Valentin, der den verbleibenden Tag mit selbstmitleidvollen, ständig aufkeimenden Heulkrämpfen und nichtstuendem Insichgekehrtsein verstreichen ließ, wirkte die Begegnung. Valentin war in seinem Innersten ein Kind geblieben. Und dieses Kind sehnte sich nach Spaß und Zuwendung. Das Merkwürdigste an der Begegnung jedoch war, dass dieser wildfremde Junge Oskar den älteren Valentin an den zwölfjährigen Valentin erinnert hatte. Warum auch immer ...

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
141 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783954889839
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