Kitabı oku: «Schauer der Vorwelt»

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Table of Contents

Horror eBook Band 3

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Lovecraft und ich

Kadath

Der Hausvermesser

Ein sauberer Abgang

Der Handleser

Das grüne Licht im Giebelfenster

Der Brunnen

Kaleidoskop der Seele

Incunabula

Wanderer, kommst du nach Cat …

Grønn

Metamorphose

De Profundis

Ohne Ende

Danksagung

Quellenangaben

Der Autor

Literatur Guerillas


Horror eBook

Band 3

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne

Artwork: Erik R. Andara

Buchschmuck: Sascha Lubenow


Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.


ISBN: 978-3-96944-740-6


Lovecraft und ich

Ein Vorwort von Tobias P. M. Bachcraft

(Erstveröffentlichung, 2019)

Das erste Mal erfuhr ich von Lovecraft durch ein Schulreferat, das einer meiner Klassenkameraden über ihn hielt; und ich weiß noch, wie ich bei mir dachte: »Was für ein Scheiß.«

Dieses vorschnelle Urteil änderte sich jedoch grundlegend, als mir besagter Klassenkamerad (der zu einem späteren Zeitpunkt ein wichtiger, unersetzlicher Freund für mich wurde) ein Buch von ihm auslieh, wodurch ich mit dem Lovecraft-Virus infiziert wurde.

Zur damaligen Zeit (ich musste so um die 14 Jahre gewesen sein) schrieb ich bereits, orientierte mich jedoch überwiegend an E. A. Poe und Stephen King und machte erste Bekanntschaft mit Clive Barker. Außerdem lernte ich die Surrealitäten eines Kafka kennen und lieben. Und dann: Lovecraft.

Lovecraft änderte alles. Die Sichtweise auf das Universum, der Umgang mit Büchern, die Herangehensweise an die eigenen Texte. Er war mein Lehrer und ich wurde sein begieriger Schüler, was zunächst vor allem dadurch geschah, dass ich nach und nach alle bei Suhrkamp erschienenen Werke kaufte und buchstäblich verschlang. Als ich damit fertig war, begab ich mich auf die Suche nach mehr. Wir schrieben das Jahr 1996 und ich trat erstmalig in Kontakt mit Jörg Kleudgen, der mir im Laufe meines Lebens zum wichtigen literarischen Weggefährten und vor allem zum guten Freund wurde. Der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte.

Zu Beginn schrieb ich meine ersten Kurzgeschichten und Erzählungen auf einer Schreibmaschine. Die ersten Manuskripte, mit denen ich mich über Schülerzeitungen hinaus an die Öffentlichkeit wagen wollte, schickte ich Jörg mit der Post. Wenige Tage später erhielt ich sie handschriftlich korrigiert und mit unzähligen Anmerkungen versehen, zurück. So entstanden die Erzählungen des Bandes »Steine« (Goblin Press, 1998), nebst den Beiträgen für die beiden Goblin Press Anthologien »Liber XIII und andere unerwünschte Nachlässe« und »Arkham und andere Orte des Grauens«.

Durch das Nachahmen des großen Meisters Lovecraft, sowie das Einfühlen in sein Werk und das Herausarbeiten eigener Stoffe innerhalb des lovecraftschen Kosmos kristallisierte sich nach einigen Jahren etwas heraus, das man wohl als meinen eigenen Stil bezeichnen könnte. Dies gipfelte schließlich in dem Kurzroman »Dagons Erben« (Basilisk Verlag, 2009), der mir den Vincent Preis für den besten deutschsprachigen Horrorroman bescherte.

Seitdem versuche ich, mich primär auf eigene Stoffe zu konzentrieren. Das habe ich vorher zuweilen auch schon getan, nur habe ich erst mit »Dagons Erben« begriffen, wie man das macht: in dem man sich als Autor von seinen literarischen Ikonen losschreibt. Das heißt jedoch nicht, dass man sie verleugnet. Zumindest bei mir nicht. Eher im Gegenteil habe ich mitunter das Bedürfnis zurückzukehren. So wie man immer wieder mal zu seinen Eltern nach Hause kommt, sei es nur auf eine Tasse Kaffee oder gleich auf ein leckeres Abendessen. In diesem Buch habe ich die gelungensten dieser Besuche bei Papa Lovecraft zusammengestellt. Sie entstammen unterschiedlichsten literarischen Phasen und wurden zumeist für Genre-Anthologien geschrieben, die aber allesamt bereits vergriffen sind (darunter meine Beiträge für die begehrte Reiseführer-Reihe der Edition Arkham des Basilisk Verlages). Für mich war das Zusammensuchen der Texte wie das durchforsten alter Fotosammlungen für ein Sammelalbum, dass man zu einem Familientreffen mitbringt. Daher ist es mir eine Freude, die bislang verstreuten Geschichten hier noch einmal in dieser Form zur Verfügung zu stellen. Manches mag den Lesern bekannt sein, anderes vielleicht nicht. Gewiss schadet auch das erneute Lesen einer bereits vertrauten Geschichte nicht.

Nehmt Platz. Darf ich ein wenig Gebäck reichen? Das macht man doch bei einem Familienbesuch.

Ein gemeinsamer Urlaub mit Papa Lovecraft steht übrigens noch aus. Der wird dann geschehen, wenn ich meine schon oft angekündigte Rahmenhandlung um die Novelle »Dagons Erben« herumgeschrieben habe. Vielleicht habe ich mich dann endlich wirklich losgeschrieben von meinem Lehrmeister, mit dem ich zu Beginn nichts anzufangen wusste.

Bis dahin wünsche ich wohlige Unterhaltung bei den nun folgenden dreizehn Schauern der Vorwelt.


Kadath

(Kingsport – ein Reiseführer, 2014)

»Und Dämonen wie aus bösem Traume,

durchschleichen die verlass`ne Nacht«

- Samuel Taylor Coleridge: »Die Ballade vom alten Seemann« (1798) -

Die Dunkelheit kommt.

Ich sage dies, während es tiefe Nacht ist. Doch das lauernde Schmatzen ist nahe. Unentwegt kriecht es näher, und ich erwarte es. Nicht, weil es mein Wunsch ist, sondern da ich keine andere Chance habe.

Ich stehe inmitten des Zentrums einer Parkanlage, die im Herzen der Stadt Kingsport liegt. Ach wäre ich doch nie dem Ruf gefolgt, diesen schauderhaften Ort aufzusuchen. Doch war ich mir meiner intensiven Nachforschungen so sicher, dass ich überzeugt davon bin, das Richtige zu tun.

Nun: In Kürze werde ich Gewissheit haben.

Ich schließe die Augen und warte auf die Umarmung des Unnennbaren.

Werde ich sterben? Oder werde ich mich alsbald auf dem unbekannten Kadath wiederfinden, dort wo die menschlichen Götter hausen und vergeblich um seine Gunst buhlen?

Die Dunkelheit ist bereits spürbar, droht mich zu umfangen. Greifbar nahe höre ich das perverse Kichern. Das konstante Schmatzen und Kauen. Das schleimige Brodeln der sich rastlos näher tastenden Fühler.

Ich halte die Augen geschlossen, breite die Arme aus, und warte.

Und die Wartezeit versüße ich mir mit der Erinnerung, an jene Ereignisse, die mich zu meinem baldigen Ende geführt haben.

Eine folgenschwere Begegnung.

Ach, wäre die Dunkelheit doch schon da.


Das wimmelnde Chaos erschien in Gestalt dreier Kerle, von denen auf den ersten Blick keinerlei Bedrohung ausging. Doch als sie den Penner mit dem Einkaufswagen sahen, kamen sie über ihn, wie die apokalyptischen Reiter.

Zunächst rempelten sie ihn von der Seite an, sodass der Mann zu Fall gebracht wurde. Vermutlich war es ihre Absicht, ihm auf diese Weise den Einkaufswagen zu entreißen und so in ihren Besitz zu bringen. Doch der Mann ließ nicht los und der Wagen stürzte mit ihm um. Ein Großteil des Inventars ergoss sich dabei auf den Bürgersteig.

»Lass los, du Sackgesicht, oder muss ich dir die Hand abhacken?« Der Junge, der das Messer zückte, war höchstens siebzehn Jahre alt gewesen. Er schien der Anführer des Dreiergespanns zu sein.

»Ja, schneiden wir ihm die Hände ab«, sagten seine beiden, etwa gleichaltrigen Gefolgsleute im Chor. Das langte mir. Ich hatte genug gesehen. Ich wechselte die Straßenseite und rief irgendetwas, wie »Hey!« oder so, nur um die Aufmerksamkeit der drei Schläger auf mich zu lenken und dem Opfer so eine Verschnaufpause zu ermöglichen.

Die Jungs hielten inne und schenkten mir ihre Aufmerksamkeit.

»Was willst du, Opa?«, riefen sie provokativ.

»Opa?«, rutschte es aus mir raus.

Ich verglich im Geiste mein Erscheinungsbild, mit meinem tatsächlichen Alter von vierunddreißig Jahren.

»Verpiss dich«, sagte der Anführer, richtete das Messer auf mich und ließ sein Handgelenk kreisen. »Sonst schlitz ich dem alten Mann hier die Kehle auf.«

Bevor ich einen pädagogisch wertvollen Satz über meine Lippe brachte, ertönte von dem Mann auf dem Boden ein Lachen. Er lachte laut und schrill, während er sich aufrichtete.

»Was lachst du so, Alter?«, fragte der Jugendliche, der sich neben dem Messer seines Anführers positionierte.

Die Gruppe war irritiert. Immer wieder trafen sich ihre Blicke und jeder von ihnen versuchte, die Situation einzuschätzen.

Anstatt eines leichten Opfers, das am Boden lag, hatten sie zwei erwachsene Männer, die ihnen gegenüberstanden und von denen zumindest einer die Situation als ungemein komisch empfand. Entweder das, oder er war wahnsinnig. Nicht ganz sauber.

»Wieso lachst du?«, sagte der Junge mit dem Messer und fuchtelte damit bedrohlich nah vor dem bärtigen Gesicht des Mannes herum.

Sein Lachen verebbte, doch sein Gesichtsausdruck blieb grotesk.

»Ich habe die Stadt mit den goldenen Dächern im Schein des Sonnenuntergangs in meinen Träumen gesehen«, sagte er und lehnte sich wohlgefällig zurück, um außer Reichweite des Messers zu gelangen. »Ich habe die herrlichen Katzen von Ulthar gestreichelt und bin ihr Freund geworden.« Nun beugte er sich wieder vor. »Ich bin den beschwerlichen Weg zum Ngranek gegangen und habe ihn bestiegen, um das Antlitz der Götter zu erblicken.«

Er trat einen Schritt vor, dem Anführer der Jugendlichen entgegen, der trotz des Messers unweigerlich zurückwich.

»Ich trieb mich mit unnennbaren Kreaturen in der Unterwelt herum.« Ein fürchterliches Grinsen umspielte seine Lippen und formte sein Gesicht zu einem Abbild des Wahnsinns. »Und ich erreichte Kadath, wo mich der Unnennbare in Empfang nahm.« Seine Augen verengten sich zu messerscharfen Schlitzen und er fuhr flüsternd fort: »Und von wo aus ich schließlich zu ihr gelangte.«

»Ihr?«, fragte der Typ mit dem Messer in der Hand. Er hatte seine Waffe mittlerweile sinken lassen. Mit einer derart psychischen Gegenwehr hatte keiner der drei Kids gerechnet.

»Ihr!«, sprach er der Mann mit funkelnden Augen weiter, »Der Stadt meiner Träume, mit den goldenen Dächern im Schein des Sonnenuntergangs, die ich so lange gesucht und nun endlich gefunden hatte.«

Die Jugendlichen sagten nichts, doch das schien den Mann nicht zu stören. Stattdessen richtete er das erste Mal seinen Blick auf die Drei und es schien, als nehme er sie nun überhaupt erst bewusst war. »Und Ihr glaubt ernsthaft, dass ihr mich mit eurem Messerchen beeindrucken könntet?«, flüsterte er.

Doch sein Flüstern war eindringlicher, als hätte er lauthals nach der Polizei gerufen. Unverzüglich nahmen die Jugendlichen Reißaus. Zufrieden blickte er ihnen hinterher. Ebenso bei mir hinterließ sein Gerede einiges an Irritation. In den hintersten Windungen meines Hirns regte sich etwas. Doch war es nicht greifbar. Dafür verbreitete sich die Neugier. Neugierde und Faszination waren seit jeher meine liebsten Motive, wenn es darum ging, mich für einen Menschen oder eine Sache zu interessieren. Ich begab mich zum Einkaufswagen und griff mit einer Hand an das Gitter des Korbes und mit der anderen an den Schiebgriff. Der Mann gesellte sich zu mir.

»Sie brauchen mir nicht helfen«, sagte der schmuddelig wirkende Mann.

»Keine Ursache«, entgegnete ich.

Gemeinsam wuchteten wir den Einkaufswagen zurück auf seine Räder. Die herumliegenden Dinge waren das übliche Inventar solcher Einkaufswagen, die von Obdachlosen durch die Stadt geschoben wurden: Pfandflaschen, Essensreste, Kleidungsfetzen und dergleichen. Doch da waren noch andere Dinge, die der Mann mich nicht aufheben ließ. Es fiel auf, dass er sich auf manches der Sachen stürzte, bevor ich überhaupt in deren Nähe kam. Geschickt versperrte er mir die Sicht auf das, was ihm so wichtig war. Als wir fertig waren, reichte er mir die Hand.

»Danke«, sagte er.

»Darf ich Sie noch auf etwas einladen?«, fragte ich und meinte es aufrichtig. »Auf etwas zu Essen oder auf einen Drink?«

»Ich brauche keine Almosen«, zischte es aus seinem Bart und schob den Einkaufswagen in Richtung Stadtzentrum.

»Warten Sie doch, Herr … Herr … Wie heißen Sie eigentlich?«


Sein Name war Randolph Carter, und er war wahnsinnig. Er war von seinem Gesundheitszustand so überzeugt, wie es gesunde Menschen von dem ihrem waren. Weiterhin schlug Carter aus, mit mir ein Straßencafé aufzusuchen. Er wolle seinen Wagen nicht aus den Augen lassen und müsse nach Hause. Des Weiteren habe er wahrhaftig kein Interesse daran, von mir eingeladen zu werden. Als ich ihm daraufhin fragte, ob ich ihn begleiten dürfe, willigte er ein.

Es war eine lange Wegstrecke, die wir gemeinsam zurücklegten, ohne dass ich wusste oder überhaupt erahnte, was oder wo Carters Ziel sein würde. Als ich ihn danach fragte, kam unser Gespräch in Gang. Er behauptete, sein gesamtes Leben lang auf der Suche nach einer Stadt gewesen zu sein.

Eigenen Aussagen zufolge führte ihn diese vermeintliche Suche in eine Art Unterwelt, die mich, seinen Beschreibungen nach, an das altgriechische Totenreich Hades erinnerte. Als ich Carter darauf ansprach, offenbarte dieser mir seine arkadische Vision der Hölle, während wir bei strahlendem Sonnenschein den Stadtpark von Kingsport durchquerten.

Als nüchterner Zuhörer entging mir nicht, dass es sich um nichts weiter als eine Traumwelt handelte. In diesem Wahn flüchtete sich der hoffnungslose Carter vermutlich seit etlichen Zeiten. Gerne würde er dorthin zurückkehren, sagte er, doch habe er seinen Silberschlüssel verloren.

Dabei waren die Traumlande, die er als sein imaginäres Reiseziel bezeichnete, nichts weiter als eine Fantasiewelt. Seiner Meinung nach erreicht man sie nur, wenn man schläft oder träumt. Vorausgesetzt man träume richtig, wusste er. Nicht jeder Träumer sei dazu in der Lage, dorthin zu gelangen.

Immer wieder erwähnte Carter das Tor des Schlummers. Es war nur über einen Abstieg von siebenhundert Stufen zu erreichen.

»Es gibt auch physische Wege, die Traumlande zu besuchen«, sagte Carter. »Man muss sich nicht in die Arme des Schlafes begeben. Allerdings ...« Er hielt inne und sein Blick glitt in unbestimmte Ferne, bevor er fortfuhr: »Hierfür benötigt man besagten Silberschlüssel. Da mir dieser fehlt ist eine Rückkehr ins Reich der Träume für mich unmöglich.«

»Wieso suchen Sie nicht einfach den Schlaf des Gerechten?«, fragte ich ihn.

»Weil ich dann meinen Körper nicht mitnehmen kann«, lautete die lakonische Antwort.

Keine Frage, Carter war von seinem eigenen, trunkenen Geschwafel so überzeugt, wie ein gottesfürchtiger Fanatiker von seiner Religion.

Die Traumlande an sich sei eine Dimension, die der Erde gar nicht so unähnlich sei, wusste Carter zu berichten. Es gäbe Städte, Meere, Gebirge, Dörfer und verschiedenste Menschenvölker. Zudem lebten dort viele Katzen, deren Sprache man lernen könne, was für jeden nur von Vorteil sei. Seltsame Bestien bevölkerten indes den Mond. Zu diesem könne man mit einem Schiff segeln, wusste Carter, lenkte aber ein, dass dem nur möglich sei, würde man den Weg kennen. Es gab leichenfressende Ghoule, die unter der Erde lebten, sowie in einer kalten Einöde, die zum unbekannten Kadath führt: Ein Berg, auf dem die Erdengötter lebten.

Bei derart absurden Beschreibungen schüttelten die Leute nur die Köpfe. Die Überzeugung, Carter würde spinnen, war omnipräsent, sobald man mit ihm ins Gespräch kam. Vermutlich hatten die Leute mit ihren Vorurteilen sogar recht.

Bei mir hingegen war es anders; die Faszination seiner Erzählungen und Reisebeschreibungen, die er mir während unseres mehrstündigen Gewaltmarsches durch die Stadt anvertraute, nahm von meiner gesamten Existenz besitz. Bald schon war ich davon überzeugt, dass - wie so oft, bei derartigen Spinnereien - mehr dahintersteckte, als man gemeinhin glauben mochte. Zumal ich mich auf die Erforschung der phantastischen Literatur eines Autors spezialisiert hatte, dessen Stoff Carters Erzählungen ungemein ähnelten.

Dabei wirkte Carter nicht sonderlich belesen. Vielmehr gab er das Erscheinungsbild eines Obdachlosen. Er wirkte heruntergekommen und der Einkaufswagen, den er vor sich herschob und in dem er sein gesamtes Hab und Gut transportierte, trug nicht gerade zur Verbesserung dieses Eindrucks bei.

Doch Randolph Carter lebte in einer Wohnung. Er verfügte über ein festes Einkommen und war auch ansonsten an und für sich ein feiner Geselle. Ein alter Kauz war er, der gerne mal etwas trank und ab dem dritten Glas zu nuscheln anfing.

Irgendwann setzte die Dämmerung ein und Carter hatte seinen Spaziergang vor einem Plattenbaukomplex in den Randbezirken von Kingsport beendet. Ich fragte ihn, weshalb er seine so geliebten Traumlande überhaupt je verlassen habe.

»Ich kann es Ihnen erzählen«, sagte er. »Aber dazu müssen Sie noch mehr Zeit mitbringen, als Sie mir bereits jetzt geopfert haben.«

»Ich habe Zeit«, sagte ich.

»Dann kommen Sie und packen Sie schon mal mit an.«

Wir nahmen den Einkaufswagen und trugen ihn die Treppen hinauf, so wie Eltern es mit ihren Kinderwagen taten.

»Wohnen Sie hier?«, fragte ich.

»Vorübergehend«, antwortete er. »Eigentlich komme ich aus Boston.«

Carter kramte in seiner Jackentasche nach dem Türschlüssel. Ich beobachtete ihn dabei, um mich davon zu überzeugen, ob es sich bei dem Schlüssel nicht um ein silbernes Exemplar handelte.


Es war kein Silberschlüssel und wir gingen auch nicht durch die Tore des Silberschlüssels. Stattdessen betraten wir ein heruntergekommenes Treppenhaus, in dem sich auch ein Aufzug befand. Carter schob seinen Wagen hinein und wir beide quetschten uns in den nunmehr vollen Fahrstuhl.

»Es ist nicht groß und ohnehin nicht das, was Sie erwarten«, sagte er.

Ich entgegnete nichts, betrachtete mir nur die seltsame Gestalt, die ich den halben Tag quer durch Kingsport begleitet hatte, um ihr Geheimnis zu ergründen.

Doch war es das wirklich gewesen? Was war es, dass mich an Carters Erscheinung so gefangen nahm? War es der Wahnsinn in seinen Augen? Die Unlogik der Dinge, von denen er mit Überzeugung berichtete? Die scheinbare Singularität zu Lovecrafts Schriften? Oder war es mein eigener Irrsinn, dem ich schon lange erlegen war, ohne es bemerkt zu haben?

Wer war ich schon?

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Carter, als der Aufzug uns in ein verdrecktes, stinkiges Stockwerk entließ. Vom Treppenhaus aus gelangte man auf einen Gang, über den man insgesamt vier Wohnungen erreichen konnte.

Der Traumsucher schob seinen Einkaufswagen zur hintersten der vier Wohnungstüren, sperrte auf und verschwand im Inneren seiner Behausung.

Ich folgte ihm und ließ alle Hoffnungen fahren, als die Tür sich mit einem leichten Seufzen hinter mir schloss. Das Zentrum seines schwarz gestrichenen Appartements bildete ein götzengleicher Schreibtisch. Auf diesem befand sich neben einer alten Schreibmaschine ein Blätterbaum aus verschiedensten Manuskripten. Oder war es ein einziges Manuskript?

»Sie schreiben?«, fragte ich.

»Ja, doch finde ich die richtigen Worte nicht«, sagte er. Carter beschäftigte sich irgendwo hinter meinem Rücken in einem Nebenraum mit dem Inhalt seines Einkaufswagens.

Mein Blick schweifte weiter durch den Raum, der außer dem Schreibtisch und seinem Stuhl kein Möbelstück beherbergen wollte. Bücher stapelten sich in unterschiedlicher Höhe zu Türmen, die mit ihrem Einsturz drohten. Sicherlich waren sie nach einem bestimmten System geordnet, doch war es mir nicht möglich, dieses zu bestimmen, genauso wie ich kaum die Titel in Augenschein nehmen konnte, da es schlichtweg zu dunkel dafür war.

Selbst wenn draußen noch die Sonne geschienen hätte, so wäre sie nur schwerlich durch die schwarzen Vorhänge durchgedrungen. Und hätte ich dann noch den Mut gehabt, diese aufzuziehen, so würde die schwarze Wandfarbe das eintretende Licht schlicht und ergreifend verschlucken.

Eine einsame Kerze erhellte das Chaos auf dem Schreibtisch und sorgte dafür, dass mir das restliche Inventar des Zimmers nicht verborgen blieb.

»Haben Sie etwas gegen Licht?«

»Im Gegenteil«, drang Carters Stimme aus dem Hintergrund zu mir. »Licht ist wichtig und schön. Nur versuche ich, den Fokus auf eine Sache zu lenken. Ich möchte Ablenkung vermeiden. Daher die einsame Kerze.«

»Wo sind sie?« Ich drehte mich im Kreis und suchte meinen Gastgeber, konnte ihn aber nirgendwo im Dunkeln des Zimmers ausmachen.

»Hier«, sagte er.

»Wo?«

»Wollen Sie etwas trinken?«

»Gerne«, antwortete ich in die Schwärze hinein.

»Was halten Sie von Martini?«, schoss Carters Stimme von hinten an mich heran. »Während ich die Gläser fülle, können Sie ja mal zur Abwechslung etwas von sich erzählen.«

»Na schön«, sagte ich und fügte mich endgültig meinem Schicksal. »Ich möchte mich Ihnen kurz vorstellen, wobei mein Name nichts zur Sache trägt. Gerne würde ich anonym bleiben.«

»Anonym? Weshalb?«

»Das tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich einfach K.«

»Kaa?«

»Wie der Konsonant«, bestätigte ich. »Ich bin das, was man einen Literaturkritiker nennen könnte. Jedoch trifft es das nicht im geringsten. Ich selbst halte mich für einen Forscher. Mit Literaturkritik fing es lediglich an. Meine Forschungen haben ein zentrales Thema, wovon ein wichtiger Bestandteil die Entschlüsselung des lovecraftschen Codes ist. Ich bin überzeugt davon, dass seine Schriften eine geheime Botschaft vermitteln, und dies bringt mich unter anderem zu der Überzeugung von der Existenz gewisser Wesen oder parallelen Universen. Aus diesem Grund binich mir sicher, dass es sich bei Ihren Erzählungen über die Traumlande entweder um eine Lüge handeln muss, oder aber um die Bestätigung, dass Lovecrafts Fantastereien keine waren, sondern authentische Berichte einer sensiblen Seele. Ist Ihnen Lovecraft bekannt, Carter?«

»Ich kenne keinen Loveshaft oder wie Ihr Freund heißt«, schallte seine Stimme durch das Dunkel.

»Wissen Sie«, fuhr ich fort, »in einigen seiner Geschichten gibt es einen Protagonisten, der denselben Namen trägt, wie Sie. Glauben Sie an Zufälle?«

»Ich glaube an Traumbilder und deren Verkörperung in unserem Selbst. Die Niedertracht der Seele, wenn Sie so wollen. Ich glaube daran, dass die Welt vor die Hunde geht, weil wir es verlernt haben, zu träumen.«

»Ist es das, was Sie erforschen, Carter?«

Mein Gastgeber erschien unversehens neben mir und reichte mir ein vorbildlich gemixtes Glas Martini. Nachdem er sich mit seinem Glas und der Flasche mir gegenübergesetzt hatte, sagte er: »Ich erforsche das Konzept von Wissen und Macht, den magischen Strom, der - überwacht vom menschlichen Geist - jeden ihn umgebenden Partikel kontrolliert. Wie bei einem alchemistischen Labor, in dem die Substanzen fließen, sich trennen und in zehn Inkarnationen wiederkehren. Was auch immer geschieht, K., am Ende steht immer das Gold.«

»Sind Sie Alchemist?«

»Ich bin Träumer und Realist zugleich«, sagte er.

»Demnach ein Fantast?«

»Das könnte man meinen, ja. Meine Träume sind relativ zu sehen«, antwortete Carter.

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Relativ eben, wie Einsteins Theorie.«

»Was bitteschön mag die Relativitätstheorie mit Ihren Träumen zu tun haben?« Die Frage war ernst gemeint. Carter seufzte.

»Was heißt denn relativ?«, begann er. »Relativ gesehen zu Ihren Träumen mögen die meinigen regelrecht kosmisch anmuten. Meine Träume sind tiefer, als das dämmernde Etwas, das man Schlaf getauft hat. Ist das ein Vergleich, der Ihnen gelegen kommt, K.?«

Ich war mir nicht sicher, weswegen ich es vorzog, nichts zu sagen.

»Die Relativität ist ein Problem. Letztlich bezieht sich die Relativität immer auf irgendetwas - nur in unserem Fall ist der Traum relativ zum Erlebtem. Das macht die Sache kompliziert und führt letztlich zu der Erkenntnis, dass Einstein wohl oder übel doch nicht recht gehabt hat.«

Ich verstand kein Wort, willigte jedoch in Carters Ausführungen ein. »Da mögen Sie recht haben«, sagte ich und ärgerte mich zugleich über meine allumfassende Unkenntnis solcher Dinge betreffend.

»Es ist wie die Sache mit der Krähe«, fuhr er unbeeindruckt und mit monotoner Stimmlage fort. »Einerseits ist sie Symbol für Weisheit und Prophezeiungen. Ebenso symbolisieren sie jedoch das Böse, da Krähen bekannt dafür sind, Aas zu fressen. Sie warten auf den Tod des Gehenkten, um dann Fleischstücke aus dem Körper zu picken. Eine trostlose Vorstellung. Finden Sie nicht?«

Wortlos nippte ich von meinem Martini.

»Die Wahrheit aber ist«, führte Carter weiter aus, »dass ich gar nicht gerne von Träumen spreche. In Wirklichkeit ist es nämlich so, dass ich gar nicht träume.«

»Aber soeben sagten Sie doch … «

»Ganz recht«, unterbrach er mich. »Und natürlich treffen Sie mit Ihrem Einwand voll ins Schwarze. Aber bedenken Sie: Wenn ich einschlafe, träume ich mich in eine andere Welt. Diese ist real. Insofern kann von einem Traum nicht mehr die Rede sein.«


Auf diese Art und Weise füllten Carters Worte meinen Abend, der sich ansonsten wohl bedeutend langweiliger gestaltet hätte. Die philosophische Exegese des Traumreisenden zog mich in seinen Bann, dem ich mich alsbald nicht mehr entziehen konnte. Deutlicher Höhepunkt des Abends war das Fundstück, das er aus dem ihm nunmehr wohlbekannten Kadath mitgebracht hatte.

Zunächst erwähnte er es eher beiläufig, als er sich darüber erging, die Ebenen, die dem unbekannten Kadath vorausliegen, zu beschreiben.

»Ich stand also in dieser Einöde«, sagte er, »und sah in weiter Ferne jenen gewaltigen Koloss von Berg, der mich magisch zu sich rief. Immer näher eilte ich zu ihm, doch er schien unentwegt gleich weit entfernt zu sein. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Anhöhe stolperte und zu Boden fiel. Als ich nachforschte, was mich zu Fall gebracht hatte, entdeckte ich einen schwarzen Stein, den ich mitnahm. Ich rappelte mich wieder auf und lief weiter, dem unbekannten Kadath entgegen.«

»Ist dieser Stein noch in Ihrem Besitz?«, fragte ich.

Carter musterte mich sichtlich irritiert.

Lag es daran, dass ich mein Schweigen brach, oder hatte der alte Mann meine Gegenwart vergessen gehabt? Vielleicht ist er es gewohnt, sich selbst allabendlich dieselbe Geschichte zu erzählen und nun verstimmt ihn die Gegenwart eines physischen Zuhörers.

Forsch blickte er mich an.

»Sagte ich denn nicht, dass ich ihn mitnahm?«

Ich hatte kaum Gelegenheit zu antworten, da fuhr er mich an: »Selbstverständlich ist der Stein noch in meinem Besitz. Was denken Sie denn? Es ist mit das Wertvollste, das ich habe.«

»Möchten Sie ihn mir zeigen?«

Carters Augen wurden groß, so als wollten sie herausfallen. Wenn ich auch nicht viel sah, ob des schalen Kerzenlichtes, so reflektierte das Weiß in Carters Augen eben dieses auf nahezu erhellende Art.

Seufzend sagte er: »Ich bin mir nicht sicher. Was sollte es bringen, Ihnen den Stein zu zeigen?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich salopp. »Wirklich. Es war nur so ein Gedanke. Vielleicht hege ich die Hoffnung, auch einmal etwas aus dem Land der Träume erblicken zu können. Selbst werde ich doch nie dorthin gelangen.«

Carter nickte und dachte wohl über mein Ersuchen nach. Seine Stirn hatte sich in grüblerische Runzeln verformt.

Schwermütig trank er von seinem Martiniglas, leerte es und schenkte uns beiden nach.

»Also gut«, willigte er ein. »Ich zeige es Ihnen. Aber bedenken Sie, Fremder. Berühren Sie den Stein nicht. Ganz gleich, wie reizvoll Ihnen der Gedanke vorkommt. Fassen Sie ihn nicht an!«

»Damit habe ich kein Problem«, sagte ich. »Allerdings würde ich gerne über die Gründe Bescheidwissen.«

»Diese sind ganz einfach«, antwortete Carter. »Ich kann keine Garantie darüber erheben, was eine Berührung in Ihnen auslösen wird.«

»Was soll denn schon ausgelöst werden durch die alberne Berührung eines harmlosen Steines?«

»Harmlos?« Er lachte.

Ein bellendes, exzentrisches Lachen.

Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, erhob er sich wankend von seinem Stuhl und schlappte an mir vorüber.

»Dauert ’nen Augenblick«, hörte ich ihn murmeln, während er sich aus dem Raum entfernte und dorthin ging, wo er seinen Einkaufswagen aufbewahrte.

Wie aus weiter Ferne hörte ich es von dort rumpeln.

Einmal mehr blickte ich mich währenddessen in dem Raum um.

Der Schreibtisch vor mir, mit seinen unzähligen Manuskriptseiten, der Schreibmaschine, den Martini-Gläsern und der entsprechenden Flasche war jedoch das Einzige, was mir der Schein der Kerze preisgab.

Carter war noch immer im Hintergrund mit der Bergung seines wertvollsten Schatzes beschäftigt. Gleichzeitig konnte ich der Versuchung nicht widerstehen.

Vorsichtig erhob ich mich und nahm das oberste Blatt Papier von dem gut dreißig Zentimeter hohen Konvolut.

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