Kitabı oku: «Gehen», sayfa 3

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Was schrieb D. H. Lawrence? »Die offene Straße. Die große Heimat der Seele ist die offene Straße. Nicht der Himmel, nicht das Paradies. Nichts ›darüber‹. Nicht einmal etwas ›darin‹. Die Seele liegt weder ›darüber‹ noch ›darin‹. Sie ist ein Wanderer auf der offenen Straße. Nicht durch Meditation. Nicht durch Fasten. Nicht indem sie einen inwendigen Himmel um den anderen erforscht, nach Art der großen Mystiker. Nicht durch Begeisterung. Nicht durch Ekstase. Auf keinem dieser Wege bekommt die Seele ihr angestammtes Recht.

Nur indem sie sich auf die offene Straße begibt.

Nicht durch Nächstenliebe. Nicht durch Opfermut. Nicht einmal durch Liebe. Nicht durch gute Werke. Auf diese Weise verwirklicht sich die Seele nicht. Nur auf der Reise entlang der offenen Straße.

Es ist die Reise selbst, entlang der offenen Straße. Für jede Berührung offen. Auf zwei langsamen Füßen. Allem begegnend, was auf der offenen Straße einherkommt. Gemeinsam mit jenen, die im selben Tempo auf derselben Straße dahintreiben. Ohne Ziel. Immer die offene Straße.«

Dieser höchst feierliche Lobgesang wird von der Philosophie bekräftigt. Søren Kierkegaard schrieb: »Vor allem, verliere nie die Lust zu gehen. Jeden Tag gehe ich mich in einen Zustand des Wohlbefindens, und gehe fort von jedweder Krankheit; ich bin zu meinen besten Gedanken gegangen, und ich kenne keinen Gedanken, der so bedrückend wäre, dass man ihn nicht gehend hinter sich lassen könnte. Aber indem man stillsitzt, kommt man dem Gefühl umso näher, krank zu sein.« Und Ludwig Wittgenstein notierte 1937 in seinem Tagebuch: »Das Christentum sagt: Du sollst hier (in dieser Welt) – sozusagen – nicht sitzen, sondern gehen. Du musst hier weg; & sollst nicht plötzlich weggerissen werden, sondern tod sein, wenn dein Körper stirbt. Die Frage ist: Wie gehst du durch dies Leben? – (Oder: Das sei deine Frage!) – Denn meine Arbeit, z. B., ist ja nur ein Sitzen in der Welt. Ich aber soll gehen & nicht bloss sitzen.«

Schon Aristoteles griff eine griechische Tradition auf, die Denken und Gehen vereinte. Aristoteles ging und dozierte in den Säulengängen im Lykeion, die Schüler dieser Schule wurden Peripatetiker genannt, vom griechischen Peripatos: Wandelgang. Die Sophisten gingen von Stadt zu Stadt und lehrten Rhetorik. Wir wissen von den Spaziergängen eines Sokrates, innerhalb und außerhalb der Stadtmauern, er liebte es, zu gehen und zu reden, zu flanieren und sich zu unterhalten, doch wenn er wirklich in Gedanken versank, hielt er inne, manchmal blieb er lange stehen, einmal rührte er sich eine ganze Nacht nicht von der Stelle. Die Stoiker erhielten ihren Namen nach einem Säulengang in Athen; die Stoa, ein Gehweg, auf dem sie promenierten und diskutierten. Die Verbindung von Denken und Gehen wurde also von der Philosophie etabliert: Immanuel Kant machte täglich nach dem Mittagessen einen Spaziergang durch Königsberg. Wir erinnern uns an Nietzsches Aussage, er setze wenig Vertrauen in die eigenen Gedanken, wenn sie nicht an frischer Luft, auf einem Spaziergang gedacht worden seien. Doch auch die Dichter gingen und schrieben über das Gehen, wir wissen, dass Dante in die Irre ging, Die göttliche Komödie ist eine Wanderung, eine christliche Fortsetzung von Orpheus’ Abstieg in die Unterwelt, ein Mythos, der wiederum bei den Poeten Widerhall fand. Gerade die Dichter haben sich häufig auf den Weg gemacht. Denken wir nur an Hölderlins Wanderungen, an Wordsworths und Coleridges Spaziergänge im Lake District und durch Europa, an Rimbauds frenetische Märsche fort von seinem Heimatdorf, an A. O. Vinjes zahlreiche Ausflüge ins Gebirge. Charles Baudelaire war ein Stadtwanderer, der Vater aller Flaneure (man erzählt sich, dass Baudelaire auf den Straßen in der Nähe des Mietshauses, in dem er wohnte, oft im Nachtgewand beobachtet wurde, er spazierte im Pyjama durch die Straßen und demonstrierte so, dass er draußen zu drinnen gemacht hatte; ihm muss der Gedanke gefallen haben, die Straßen sein Zuhause zu nennen. Zugleich wird berichtet, dass die Wohnung des Dichters den Anschein erweckte, außerhalb des Hauses zu liegen, Leute kamen und gingen, die Räume waren pausenlos von Freunden und Unbekannten bevölkert, Frauen und Männern, zu allen Tages- und Nachtzeiten, und Baudelaire muss der Gedanke gefallen haben, dass er seine Wohnung in eine Straße verwandelt hatte), und in unserer Zeit gibt es kaum einen Schriftsteller, der so viel und so weit gegangen ist wie Bruce Chatwin. Sein ganzes schreibendes Leben träumte er davon, ein Buch über die Nomaden zu schreiben, und in einer der Notizen zu seinem geplanten Hauptwerk weist Chatwin darauf hin, dass das englische Wort für reisen, to travel, gleichen Ursprungs ist wie das französische travail, also: Arbeit.

Ein Beruf. Endlich. Mit Bruce Chatwin ist das Gehen zu einer Arbeit geworden, denke ich; es erfordert keine Bewerbung, keine Zeugnisse, man macht sich einfach auf den Weg, zur Tür hinaus, jederzeit, geradeaus, in irgendeine Richtung, die offene Straße hinab, auf zwei langsamen Füßen. So einfach kann es doch nicht sein. O nein. Lasst mich von meinem ersten Zusammenbruch erzählen.

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Wales. Swansea. Sommer 98. Ich werde von Laugharne (wo ich das Bootshaus und die Schreibgarage von Dylan Thomas an der Mündung des Taf besucht habe; oh, die Reiher, die Rufe, die Pubs, die Lieder: »Die Dunkelheit ist ein Ort. Das Licht ist ein Weg.«) im Süden bis Conway im Norden gehen, mit anderen Worten The Cambrian Way nehmen, berechnet als eine dreißigtägige Tour, die von Wanderexperten zu den schönsten der Welt gezählt wird. Vorbereitungen: Ich habe mit einem Kameraden Spanien durchquert, unter freiem Himmel geschlafen, im Wald, am Wegrand und am Strand, habe mich darin geübt, mich an allen erdenklichen Orten hinzulegen und zu schlafen. Bin kreuz und quer durch Sogn und Fjordane gegangen, auf Asphalt und Kies und Gras getrottet, auf Waldwegen und Pfaden und Postrouten, habe so manchen Gipfel bestiegen, mich im Anzug zur Berghütte Skålatårnet hinaufgekämpft, habe in Doc Martens-Stiefeln Galdhøpiggen, den höchsten Berg Norwegens, bestiegen. Aber das sind alles Urlaubswanderungen gewesen. Jetzt wird es ernst. Ich bin allein, ohne Zeitplan, ein Monat, zwei Monate, es dauert, so lange es eben dauert, heimzugehen, weiter durch England, mit oder ohne Geld, vielleicht arbeite ich auf einem Hof, in einem Restaurant, was weiß ich, ich will die offene Straße einschlagen. Es regnet. Ich verlasse Laugharne bei Regen, habe den üblichen Anzug und die Doc Martens-Stiefel an, trage einen schwarzen Rucksack, Isomatte und Schlafsack und viel zu viele Bücher. Ich kaufe einen Regenüberzug, werfe ein paar Bücher und die Toilettenartikel weg; allen unnötigen Ballast, nach der Ausschlussmethode, bis nur noch das Allernötigste übrig ist und der Rucksack ein kaum noch spürbares Gewicht hat. Alles ist gut. Aber es regnet. Es regnet sechs Tage lang. Wales ist grün und nass und ich verfluche alles Grüne und Nasse. Der Anzug ist ruiniert, die Stiefel bekommen Risse, die Beine schmerzen, und ich verfluche das harte Vagabundenleben. Ich verfluche Bruce Chatwin, D. H. Lawrence, George Orwell, mich selbst und alle Anderen, die mich auf diese wahnwitzige Reise geschickt haben; gehöre ich nicht an den Schreibtisch? Sollte ich mich nicht am Schreibtisch festbeißen, wie Kafka empfiehlt, ist es nicht meine Bestimmung, Bücher zu schreiben? Habe ich nicht ein Heim und eine Art Familie? Vermisste ich nicht einen Beruf, etwas Sicheres und Normales, ein regelmäßiges Einkommen? Die Geschichte einer meiner Spinnereien. Ich gebe auf. Steige in den Bus nach Aberystwyth, nehme mir ein Zimmer in einem Hotel, finde einen trockenen, naturfreien, grünfreien Pub und trinke, bis ich vergessen habe, dass ich ein Wandersmann bin. Nein. Ich habe nicht die Absicht, aufzugeben. Je mehr ich trinke, desto wilder bin ich entschlossen, es nochmals zu versuchen. Aber nicht in Wales. Nicht hier, wo es unendlich grün ist und ewig regnet, sondern an einem anderen Ort, o ja. Lasst mich von meinem Versuch Nummer zwei erzählen.

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Deutschland. Staufen im Breisgau. Frühjahr 99. Ein Kamerad und ich werden durch den Schwarzwald wandern, von Staufen (wo Faust den Pakt mit Mephistopheles unterschrieben haben soll) im Westen bis Todtnauberg (wo Heideggers berühmte Berghütte liegt) im Osten. Ich habe mir einen neuen alten Anzug gekauft, einen Zigeuneranzug mit Bügelfalte an den Hosenbeinen, silberblauen Streifen im blauen Stoff, neue Doc Martens-Stiefel, eine Sonnenbrille sowie Verbandszeug und Pflaster; wir sind gut ausgerüstet, gut vorbereitet; zwei Flaschen trockener deutscher Wein gegen die Hitze, eine Flasche Schnaps für den Schlaf, ein Sortiment an Tabletten − gegen alles. Von dannen! Auf! Von Staufen aus bergauf bei dreiunddreißig Grad. Bis der Schweiß durch die Stofffasern dringt und wir Stoff nicht mehr von Haut unterscheiden können, bis die Füße eins sind mit den Stiefeln und dem Weg: Geh in den Wald, werde ein Teil von ihm, leere die Flaschen, fülle deine Sinne, lausche den Vögeln, erblicke die Schatten, rieche die Bäume, werde nichts und verlaufe dich!

Wir essen. Deutsche Würste und Bauernbrot. Trinken Wein aus den Flaschen, die in nasses Zeitungspapier eingeschlagen sind. Das gute Gespräch. Wir sprechen über Heidegger. Heidegger und seine Berghütte in Todtnauberg, in der Paul Celan und René Char zu Gast waren. Heidegger und der Nationalsozialismus. Ich sage: Sartre irrte sich links. Heidegger irrte sich rechts, was nicht heißt, dass wir uns die politischen Zwischenlösungen zu eigen machen sollten, wir werden Extremisten, Radikale sein, vor Ideologien müssen wir uns jedoch hüten. Ja. Aber wo sollen wir schlafen? Wir gehen weiter hinauf, erreichen den höchsten Punkt; Aussicht in alle Richtungen, der dunkle Wald, der See, die Wege, Deutschland, o Deutschland, wir rollen unsere Isomatten aus, kriechen in die Schlafsäcke, trinken Schnaps, reden, und gründen hier, im Herzen Europas, in der Höhe, die Partei der Langsamkeit. Wir sind gegen alles, was schnell geht. Wir sind gegen Flugzeuge, Autos, übereilte Gedanken, Rennboote und Schnellzüge. Wir sind für alles, was langsam geht, und nach einigen Schlucken Schnaps wird uns bewusst, wie radikal diese Partei in Wahrheit ist; wir formulieren ein Programm, erwählen die Schnecke zu unserem Emblem. Für die Langsamkeit und das Lachen. Gute Nacht.

Wir werden von Vögeln geweckt. Von der Wärme der aufgehenden Sonne. Wir frühstücken gut, gehen weiter, abwärts, und wieder aufwärts, zum Feldberg, auf dem uns die Karte eine Gaststätte verheißt. Wir folgen den Wegen, überqueren die Wiesen, die gelben Grasflächen, die Lichtungen im Wald und erhaschen einen flüchtigen Blick auf Hase und Reh. Wir reden und gehen, schweigen und gehen, denken und gehen, über Zäune, durch Tore, an Bächen entlang. Ein dreitägiger Marsch nach Todtnauberg. Wir erreichen das Bergdorf am Nachmittag, im Nebel, und geben den Plan auf, die Berghütte des Philosophen alleine finden zu wollen. Fragen zufällig vorbeikommende Passanten: Heidegger? Kenne ich nicht. Nie von ihm gehört. Sie haben noch nie von Deutschlands vielleicht wichtigstem Philosophen seit Kant und Nietzsche gehört. Wissen nicht, wer er war, hier in diesem Dorf, in dem er sich aufhielt, wenn er nicht in Freiburg lehrte. Martin Heidegger? Wir fragen die Wirtin der Pension, in der wir ein Zimmer genommen haben, um zu duschen und unseren Füßen etwas Ruhe zu gönnen. Ja, ja, der Martin, sagt sie, der hat meinem Vater mal eine Zigarette geschenkt, mein Vater war dreizehn. Möchten Sie meinen Vater sprechen? O ja, das wollen wir. Her mit einer Flasche Wein. Herein mit dem Vater. Er sagt: Die Berghütte steht leer, niemand nutzt sie. Vor ein paar Jahren war ein englisches Fernsehteam hier, seither ist es still geworden. Kein Mensch fragt mehr nach Martin Heidegger.

Am nächsten Morgen finden wir die Hütte. Sie liegt auf einer Hügelkuppe, zwischen Bäumen und Sträuchern versteckt, aber wir erkennen sie von den Fotografien. Zu unserer großen Überraschung sehen wir, dass die Fensterläden und die Tür offen stehen. Wir machen kehrt. Nein. Wir sind drei Tage gegangen und jetzt weniger als fünfzig Meter von der berühmten Berghütte entfernt. Wir steigen weiter hinauf, mein Kopf pocht wie ein Herz: Und wenn nun ein Verrückter herausstürmt und uns verjagt? Und ganz recht. Als wir uns der Hütte nähern, sehen wir eine Gestalt im Türrahmen. Ich rufe, dass wir aus Norwegen stammen und von Staufen kommend zu Fuß gegangen sind, dass ich Schriftsteller und Wandersmann bin. Die Gestalt tritt einen Schritt vor, streckt uns die Hand entgegen und sagt: Heidegger.

Es ist der Enkel. Wir stellen uns vor, werden zu einem Glas Wasser aus dem berühmten Bach eingeladen, setzen uns auf Steine, unterhalten uns über Norwegen und das Gehen; über die Spaziergänge des Großvaters, später auch über Philosophie und vor allem über Dichtkunst und Literatur. Aber ja, natürlich kennt er Safranskis Heidegger-Biographie. Er kennt Bernhards Beschimpfung Heideggers in Alte Meister. Diese Beschimpfung müssen wir als großes Kompliment betrachten, sagt er und beendet das Thema. Und wohin wollen Sie jetzt, fragt er. Wir wollen weiter, sage ich.

Weiter. Wir gehen weiter. Wie in einem Märchen. Aber die Beine tun weh, und es wird allmählich anstrengend, im Freien zu schlafen. Ich schlage vor, in einem Hotel zu übernachten. Mir fehlen Bett und Fernseher, Wände und Vorhänge; mir fehlt die Abwesenheit von Natur und Vögeln. Doch der Wandersmann vor mir, Narve, mein Kamerad, macht den Gegenvorschlag, auf Höhe der Dolomiten die Grenze nach Italien zu überschreiten. Er will in den Bergen wandern, die irrwitzigen Gebirgsformationen sehen, in der Höhe gehen, in der Höhe schlafen, endlich ernsthaft gehen. Wir streiten uns. Ich muss zugeben, dass ich erschöpft und längst noch kein richtiger Wandersmann bin, und dies ist mein zweiter Zusammenbruch. Es endet damit, dass wir den Zug über die Grenze nach Italien nehmen. Aber nach zwei Tagen Reglosigkeit in einem Hotel spüre ich die Unruhe und das Kribbeln; das Gehen ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, ich will wieder auf die Straße hinaus.

Jetzt aber weiß ich, dass es nicht im Handumdrehen getan ist, so zu leben, dass es nicht einfach ist, ein Wandersmann zu werden. Es erfordert Training und Mut, Gewöhnung und Zeit.

Wir gehen durch die Wälder nach Asolo, zu dem Haus, in dem ich zwei Monate bei meinem Freund Harold Costello wohnte, dem Schriftsteller, der niemals schrieb. In diesem Haus brachte ich Teile meines ersten Romans zu Papier, und während wir an Rebstöcken, Olivenbäumen, Bienenkörben und Weißdornhecken vorbei bergab gehen, denke ich: Der Kreis hat sich geschlossen. Der Kreis hat soeben begonnen. Das sind die ersten Schritte. Die ersten Schritte auf dem langen Weg, ein besserer Wandersmann zu werden.

12

Ich verlasse das Lokal, die Spelunke in Åsane, gehe zur Tür hinaus, in neuen Stiefeln der Marke Garmont, sie sind hellgrün und passen hervorragend zu meinem Anzug, einem dunkelblauen Anzug mit hellen Streifen und weiten Hosenbeinen. Ein neues weißes Hemd, und am auffallendsten, ein neuer Sportrucksack, orangefarben, er leuchtet. Ich bin zufrieden mit der Figur, die ich abgebe, gehe zielstrebig zur Kirche von Åsane hinauf, wo ich erneut auf den Postweg stoße. Es heißt, Rousseau habe bei seinen Ausflügen eine Art armenisches Gewand getragen; Pelzmütze und Pelzschal, einen Lodenpullover. Es gibt ein Porträt von ihm in diesem Aufzug, gemalt von Allan Ramsay. Die selbstbewusste Pose, die Verrücktheit, die man in seinem Blick erahnt, entspricht dem Selbstporträt, das er in der Einleitung zu seinen Bekenntnissen skizziert: »Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.«

Aber es ist nicht möglich, die Wahrheit über sich selbst zu schreiben.

Man schreibt und versteckt sich. Man kleidet sich in Sprache.

Was Maurice Blanchot über Kierkegaard schrieb, gilt auch für Rousseau: »Indem er bis zu einem gewissen Grad unaufhörlich über sich selbst spricht und die Begebenheiten in seinem Leben reflektiert, stellt Kierkegaard für sich selbst die Regel auf, nichts Wichtiges über sie auszusagen, und gründet seine Größe darauf, das Geheimnis zu bewahren. Er erklärt und verhüllt sich.«

Das armenische Gewand ist eine Verkleidung, und auf die gleiche Art schreibt Rousseau, um sich zu verbergen. Er sucht nicht Zuflucht in der Natur, sondern versteckt sich in der Literatur, hinter einem Wald aus Worten. Er dichtet sich und seine Umgebungen, und so muss es wohl auch sein. Rousseau ist nicht anders, er macht sich anders, der Schriftsteller, der uns glauben machen möchte, dass er ein Kind der Natur ist, entpuppt sich als der künstliche Held schlechthin; ein Provokateur, ein Flaneur, ein echter und wahrer Poseur: »Einzig und allein ich. Ich fühle mein Herz – und ich kenne die Menschen. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dass ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von allen, die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders. Ob die Natur gut oder übel daran getan hat, die Form zu zerbrechen, in der sie mich gestaltete, das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.«

Wenn man Rousseau dann gelesen hat, ist man voller Bewunderung für den Schriftsteller Jean-Jacques, der Mensch erscheint einem dagegen unzugänglicher, fast schon unsympathisch, aber es ist das Privileg des Lesers, seinem Schriftsteller niemals guten Tag sagen zu müssen: »So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft außer mir selbst.«

War es Rousseau, der die Einsamkeit erfand?

Man könnte den Eindruck gewinnen. Wie alle großen Einsamen träumt Rousseau von der Gemeinschaft, und je mehr er über diese Gemeinschaft nachsinnt und über sie schreibt, desto einsamer fühlt er sich. Das Schreiben trägt ihm Feinde ein, das Schreiben isoliert ihn und macht ihn einsam. Aber das Schreiben ist zugleich der Speer des Achilles, der die Wunde heilt, die er geschlagen hat; das Schreiben ermöglicht es Rousseau, seine Einsamkeit mit Lesern und Idioten zu bevölkern.

Rousseau tritt dem Leser mit der gleichen Überlegenheit und Gleichgültigkeit entgegen wie Montaigne in seinen Essais: »Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Sei gleich am Anfang gewarnt, dass ich mir damit kein anderes Ziel als ein rein häusliches und privates gesetzt habe […]. Ich selbst, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dass du deine Muße auf einen so unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest. Deshalb, lebe wohl!«

13

Ursprung der Einsamkeit muss die Sprache sein, denke ich und gehe durch das Gatter gleich bei den Höfen, an denen der Postweg die Steigung nach Mellingen hinaufführt. Es ist ein schöner Weg. Hier ist man also zu Fuß mit der Post gegangen. Ist der Brief nicht das Emblem für Einsamkeit? Der Schreibende. Allein an seinem Schreibtisch. Der Abschiedsbrief. Der Liebesbrief. Der gelbe Briefumschlag, den man sorgsam verschließt und seinem Schicksal überlässt. Man schreibt keine Briefe, um seine Einsamkeit aufzuheben, sondern um sie zu besiegeln.

Gedanken dieser Art kommen einem, wenn man allein auf einem Postweg geht. Ich muss an jenen Brief denken, den Hölderlin dem Dichter Casimir Ulrich Böhlendorff schrieb, kurz bevor er zu Fuß in die Alpen aufbrach, Richtung Schweiz und später Frankreich: »Und nun leb wohl, mein Teurer! Bis auf weiteres. Ich bin jetzt voll Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloss, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer.«

Hölderlin blieb dann doch nicht so lange fort. Im Jahr darauf kehrt er wieder zu seiner Mutter zurück, »leichenblass, abgemagert, mit tiefen, wirren Augen, langen Haaren und Bart, gekleidet wie ein Bettler«. Das viele Gehen hatte Hölderlin nicht gut getan, er treibt nun auf jenen Wahnsinn zu, den die Literaturgeschichte als eine lange Isolation beschreibt: »Er schloss sich in den sogenannten Hölderlinturm am Fluss Neckar in Tübingen ein. Hier verbrachte der rastlose, geistig umnachtete Dichter seine letzten sechsunddreißig Jahre. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang ging er hinaus, spazierte vier, fünf Stunden durch den Garten. Den Rest des Tages verbrachte er damit, in seinem Zimmer auf und ab zu gehen, in ein immerwährendes Gespräch mit sich selber vertieft.«

Hölderlin war ein Bewunderer Rousseaus, und in seiner Hymne »Der Rhein« taucht der Philosoph als zurückgezogener Weiser auf:

Wem aber, wie, Rousseau, dir

Unüberwindlich die Seele,

Die starkausdauernde, ward,

Und sicherer Sinn

Und süße Gabe zu hören

Na ja. Hölderlin standen eben nicht die Biografien zur Verfügung, die uns heute zugänglich sind. Außerdem gab es so viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden, dass sich der eine im anderen wiedererkannte. Bemerkenswert an Hölderlins Wanderungen ist, dass sie – im direkten Widerspruch zu Rousseaus Anmerkungen zur gesundheitsfördernden und gedankenschärfenden Wirkung des Fußmarsches – Hölderlin angreifen und seine geistige Gesundheit zerstören. Es mag daran liegen, dass Rousseau hauptsächlich kürzere Spaziergänge machte und Wandern mit Spazieren verwechselte, während Hölderlin, der weit ging, ausgezehrt und geprägt war von allem, was er im Laufe seiner Wanderungen erlebt hatte. Wir wissen es nicht. Sicher ist allerdings, dass langes Gehen anstrengend ist. Wer über Wanderer oder Vagabunden gelesen hat, der weiß: Das Leben als Streuner ist hart. Wer Fotografien und Bilder von Landstreichern betrachtet hat, sieht: Das Dasein eines Landstreichers kostet Kraft. Wer einige Monate unterwegs gewesen ist, der weiß: Das Wanderleben ist brutal und zerstörerisch.

Man ist ohne Heim. Man schläft im Freien. Man ist ein Fremder und erweckt Misstrauen. Man ist schmutzig und hungrig. Man ist allein, geht und geht, es regnet und stürmt, man schläft geduldet, in einer Scheune oder Pension; was man besitzt, trägt man auf dem Rücken, die Beine schmerzen, die Schultern schmerzen, der Körper schmerzt, man vermisst ein Bett und eine Geliebte.

Ich komme an zwei Bauernhöfen vorbei, trete wieder durch ein Gatter, folge einem Bach und gewinne nach und nach Aussicht auf den Stadtteil Bergens, den ich soeben verlassen habe. Åsane. Die eine Hälfte der Vorstadt prägen Autobahnen und Einkaufszentren, Neubauten und Wohnviertel; Reihenhäuser und Wohnblocks und Einfamilienhäuser, die aus der Ferne unbewohnbar wirken, dünn und flach, wie Kulissen. Noch schlimmer wird es, wenn man die Tür zu einem dieser Häuser öffnet und in ein Heim hineinschaut, das sich einzig und allein dadurch auszeichnet, den übrigen zu gleichen; das Wohnzimmer mit dem Fernsehapparat und den vielen Lampen, all das künstliche Licht, die unangenehme Wärme, die vielen überflüssigen Zimmer, die lebensfeindlichen Möbel, dieses halbtemperierte Interieur, das uns wissen lässt: Die Arbeit, die wir verrichten, ist verschwendet, das Geld, das wir verdienen, wird missbraucht, falsch verwendet, das Leben, das wir führen, ist uninteressant.

Die andere Hälfte Åsanes erstreckt sich bis zu Feldern und Bergrücken, alte Häuser und Höfe, Traktorstraßen und Feldwege, Bäume und Bäche, Blumen und Gras; langgestreckte, gewellte Flächen, die im Licht der Sonne glänzen. Die alte und die neue Zeit. Die alte Zeit war nicht besser als die neue. Die neue Zeit ist nicht besser als die alte. Man muss wählen, nach bestem Wissen und Gewissen, wie gut man leben will. Aber wie ist es möglich, dass so viel Geld, so viel Wohlstand, zu einer hässlicheren Landschaft, einer schlechteren Architektur geführt haben?

Wie ist es möglich, dass man billigere Lösungen, schnellere Lösungen wählt, dass man mit so viel Geld baut und erschafft und so schlecht denkt? Gedanken dieser Art bedrängen einen, wenn man auf dem alten Postweg in Åsane geht.

Ich will Briefe schreiben.

Ich bin voll Abschieds.

Ich gehe über die Hügelkuppen und zum Kreisgefängnis in Breistein hinunter; die hohen Mauern; ein Baum, der Schatten des Baums, der neben der Betonwand wächst. Zwei Pferde grasen vor der Mauer, als sollte uns all diese Freiheit außerhalb der Mauern, all diese Schönheit, davon künden, wie brutal es ist, auf der anderen Seite hinter Gittern zu sitzen.

Ich gehe vorbei am Gefängnis und am Asylantenheim, einem Kindergarten, Gärten und Häusern, einem angeleinten Hund, einem Gewächshaus; Blumen in Reihen, ein Mann in seiner Garage, im Auto, ich erblicke hier nichts als Unfreiheit, wo immer ich gehe, vorbeigehe, schneller jetzt, ich folge der asphaltierten Straße bis zum Kai und der Fähre, die mich nach Valestrand übersetzen soll. Auf dem Kai ziehe ich mich aus und springe ins Meer. Schwimme. Ich sehe die Fähre in der Mitte des Fjords.

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