Kitabı oku: «Mara und der Feuerbringer», sayfa 3
Kapitel 4
Es war Sonntag, als Mara wieder erwachte. Sie versuchte sich zu bewegen und stellte fest, dass jeder einzelne Körperteil außer ihrem Gehirn noch im Land der Träume weilte. Mara versuchte trotzdem, sich irgendwie von dem Stuhl zu erheben, und trat ein ins Haus der Schmerzen!
Kein Muskel, der sich nicht verkrampft hatte, kein Gelenk, das nicht über Nacht eingerostet war … Mara wäre fast ein drittes Mal in 24 Stunden vom Stuhl gefallen, als ihre tauben Beine den Dienst versagten. Doch sie konnte sich gerade noch an der Tischplatte festhalten. Nein, das war sicher nicht der richtige Platz, um sich nach einem anstrengenden Tag mal so richtig auszuschlafen! Es war ja nicht mal sonderlich bequem, hier zu sitzen …
Im selben Moment erinnerte sich Mara daran, was sie geträumt hatte. Im nächsten Moment sah sie den Zweig in seinem Wasserglas auf dem Schreibtisch und im direkt darauffolgenden dritten Moment wusste sie … ja, was eigentlich? Dass auf ihrem Tisch ein Zweig in einem Wasserglas schwamm. Mehr nicht. Da fiel ihr Blick auf die Schreibunterlage vor ihr und auf das Wort, das sie gestern in ihrem Traum hastig notiert hatte.
Spákona
Okay, selbst das konnte man zur Not noch erklären. Hab ich eben im Schlaf was aufgeschrieben, na und?, dachte Mara und zuckte dazu ganz besonders gleichgültig mit den Achseln. Andere Leute liefen auf Dächern herum oder fraßen den Kühlschrank leer, ohne sich am nächsten Tag daran zu erinnern! Dagegen war ein hingekritzeltes Fantasiewort doch echt harmlos …
Trotzdem. Mara musste sicher sein. Und der schnellste Weg, um herauszufinden, ob es so etwas wie eine Spákona wirklich gab, war: Mamas Laptop.
Sie fand das ramponierte Notebook im Wohnzimmer, halb vergraben unter Mamas Zeitschriften. Aber wo war das Kabel mit dem Netzteil? Der Akku war komplett leer.
Maras Mutter hatte den Laptop vor drei Jahren gekauft, um auch »drin« zu sein. Dann hatte sie aber schnell festgestellt, dass man sich dafür länger mit der Technik beschäftigen musste als ein paar Minuten, und nach einigen wirren Mausklicks hatte sie schlagartig das Interesse daran verloren.
Mara war darüber zuerst froh gewesen, weil sie sich natürlich Chancen auf das Gerät ausrechnete. Umso erstaunter war sie aber, als Mama ihr den Umgang mit dem Laptop strikt untersagte. »Finger weg von diesem Gerät, junge Frau! Das ist kein Spielzeug und am Ende lädst du dir noch irgend so ein Dings rein!«
Die Antwort, was für ein »Dings« sie eigentlich meinte und wo genau Mara es sich »reinladen« sollte, war Mama ihr schuldig geblieben.
Also konnte Mara den Computer nur dann benutzen, wenn Mama arbeitete, bei den Wiccas war, schlief oder meditierte. Kein Problem, denn einer dieser vier Fälle traf ja meistens zu.
Mara überlegte. Es war Sonntag und die Uhr zeigte 10:12. Das bedeutete, Mama war unterwegs zu ihrer Aura-Stunde. Also mindestens noch zwei Stunden Zeit. Sehr gut! Schließlich fand sie auch das Netzteil in der Schublade unter dem Fernseher und es konnte endlich losgehen.
Einschalten, ins WLAN ihres Nachbarn einwählen (er hatte ihr das Passwort gegeben und dabei verschwörerisch in Richtung von Maras Mutter gegrinst), Internet-Browser öffnen und im Suchfenster Spákona eingeben …
Mara musste ein bisschen herumprobieren, bis sie es geschafft hatte, dass das kleine Strichlein direkt über dem a erschien und nicht etwa davor oder dahinter. Ihr Finger zitterte ein wenig, als sie mit dem Touchpad den Cursor auf Suche starten bewegte. Sie atmete einmal tief ein, hielt die Luft an und klickte.
Am liebsten hätte sie gleich noch einmal eingeatmet, denn vor ihren Augen erschien tatsächlich eine Liste mit Treffern: über 10 000! Doch weil sie dann geplatzt wäre, atmete Mara erst einmal wieder aus.
Na gut, was heißt das schon?, dachte sie. Das Wort gibts also. Na und? Es gibt viele Wörter auf der Welt und zufällig eben auch das da.
Die Frage war doch, was es bedeutete! Und da wurde die ganze Sache schon kniffliger, denn die erste Seite der Treffer war voller Wörter in fremden Sprachen. Allerdings nicht ein bisschen fremd wie zum Beispiel Englisch, sondern fremd.
Mara musterte die ungewohnten Buchstaben und ihre Kombination mit wilden Häkchen, Strichlein und Kreuzchen: væri, góðri, LÆKNAMIÐILL, und es gab kaum Hinweise, aus welchem Land diese Texte stammten.
Liest sich eher wie ein IKEA-Katalog, murmelte Mara als sie mit zusammengekniffenen Augen weiter durch die Ergebnisse scrollte.
Doch dann endlich, ganz unten auf der Seite, stieß sie auf eine Website mit deutschen Übersetzungen alter isländischer Texte über die Wikinger!
Jetzt wird’s spannend, dachte Mara, als sie die Page aufrief und fand, was sie gehofft und gleichzeitig befürchtet hatte:
Eine Frau war da in der Siedlung namens Thorbjörg.
Sie war eine Seherin …
Und darunter stand das isländische Original:
Sú kona var þar í byggð, er Þorbjörg hét.
Hon var Spákona …
Mara verglich die beiden letzten Zeilen miteinander:
Hon var Spákona …
Sie war eine Seherin …
Verdammt.
Seltsamerweise dachte Mara nicht zuerst an die Konsequenzen, die das für sie selbst hatte, sondern lief zurück in ihr Zimmer zu dem Wasserglas. Dort fischte sie den Zweig vorsichtig aus dem trüben Wasser, wickelte ihn behutsam in eine rote Serviette und trug ihn dann hinaus ins Freie.
In dem kleinen Hinterhof, den sie von ihrem Fenster aus sehen konnte, grub sie mit den Händen ein kleines Loch in die Erde neben der großen Esche. Dort hinein legte sie den eingewickelten Zweig und deckte das Loch sorgfältig wieder zu. Sie gab sich Mühe, die Grasbüschel wieder so festzudrücken, dass man nicht mehr erkennen konnte, ob jemand hier etwas vergraben hatte. Man wusste ja nie …
Danach stand sie eine Weile vor dem unsichtbaren Grab und schwieg. Sie sah hinauf in die Blätter der Esche und irgendwie war ihr, als hörte sie ein leises, unglaublich tiefes Brummen. Melodisch irgendwie und auch beruhigend. Die Blätter raschelten leise im Wind, aber sie sprachen nicht mit ihr. Schließlich war dies ja auch ein Begräbnis und Mara war gerade nicht nach Konversation zumute. Sie hätte auch gar nicht sagen können, wie sie reagiert hätte, wenn die Äste ihr alle ihr Beileid ausgesprochen hätten.
Mara bemerkte, dass sie unbewusst die Hände gefaltet hatte, blieb aber noch ein paar Minuten genauso stehen und schwieg.
Erst als sich irgendwann ihr ewig schlecht gelaunter Nachbar Herr Dahnberger mit zwei Mülltüten aus der Tür schälte und dabei unterdrückt schimpfend versuchte, seinen Hausschlüssel für das Mülltonnenhäuschen aus der Hosentasche zu fischen, drehte sie sich um und ging zurück ins Haus.
Was schade war, denn so verpasste sie das Lied, das die Blätter der Esche genau in dem Moment anstimmten, als sich hinter Mara die Haustür schloss …
Eine Esche weiß ich,
heißt Yggdrasil,
den hohen Baum netzt
weißer Nebel;
davon kommt der Tau,
der in die Täler fällt.
Immergrün steht er
über Urds Bunnen.
Schon auf der Treppe prasselten all die Gedanken auf Mara ein, die sich durch ihre Entdeckung im Internet ergaben – und zwar mit einer solchen Wucht, dass sie weiche Knie bekam.
Sie brauchte Hilfe. Aber von wem? Und wenn sie diesen Jemand gefunden hatte, was zum Teufel sollte sie ihm denn sagen? Hallo, ein Zweig schickt mich und ich muss einen Typen in einer Höhle fesseln. Oder was?!
Okay, es war auf jeden Fall eine ganz schlechte Idee, ihrer Mutter von alldem zu erzählen, denn zwei Dinge konnten passieren: Entweder Mama glaubte ihr kein Wort und das Ganze wurde peinlich. Oder Mama glaubte ihr alles, beschloss zu helfen, das Ganze wurde noch peinlicher und ging fürchterlich schief.
Nein, Mara musste woanders nach Hilfe suchen und klemmte sich dafür noch einmal hinter Mamas Notebook. Über die Seite mit den Wikinger-Übersetzungen gelangte sie schnell zu einem Wikipedia-Eintrag, in dem von germanischer Mythologie die Rede war.
Den Begriff Mythologie kannte Mara. Den hatte sie schon mal gehört, als sie in der Schule die alten griechischen Sagen von Herkules und Göttern wie dem Blitzeschleuderer Zeus und seiner Frau Hera durchgenommen hatten. Und germanisch hatte sicherlich was mit Germany, also Deutschland, zu tun. Ja klar! Also war germanische Mythologie so etwas wie die Göttersagen ihrer Vorfahren. Davon hatte Mara bisher allerdings noch nie gehört oder zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Über den Griechen Herkules gab es ja immerhin schon mal einen Zeichentrickfilm, aber über germanische Götter?
Anscheinend sind diese Damen und Herren wohl ziemlich tief in der Versenkung verschwunden und haben heutzutage nichts mehr zu melden, dachte Mara. Doch wie um das Gegenteil zu beweisen, winkten ihr plötzlich zwei Wörter aus einer Liste mit germanischen Götternamen zu, die ihr wenigstens ein bisschen bekannt vorkamen: Odin und Thor.
Woher kenn ich das? Aus Asterix vielleicht? Nee, die sagen ja immer »beim Teutates«, überlegte Mara. Komisch, warum weiß ich mehr über die alten Götter der Gallier und Griechen als über die aus unserer Gegend?
Umso erstaunter war sie, als sie nur ein paar Mausklicks weiter erfuhr, dass diese alten Götter und ihre Kollegen auf jeden Fall vier bleibende Eindrücke hinterlassen hatten: Die Wochentage!
Genauer gesagt: die Namen der Wochentage. Wie Mara mit wachsendem Interesse lesen konnte, hieß der Donnerstag nicht etwa so wegen des schlechten Wetters, sondern wegen des Donnergottes Thor, auch Donar genannt. Eigentlich hieß es also Donars Tag! Oder im Englischen Thursday, also Thor’s Day!
Ein Gott namens Týr hatte wohl dem Týrsdag, dem Dienstag, seinen Namen gegeben. Dafür geht der englische Wednesday auf Wodan zurück, wie der Gott Odin auch genannt wird. Dessen Frau Frigg war wiederum Namensgeberin für den Freitag.
Wow!, dachte Mara erstaunt, warum sagt einem das eigentlich keiner? Kann mich nicht erinnern, das in der Schule mal von irgendeiner Overhead-Folie abgeschrieben zu haben.
Also hatte es wohl doch nichts damit zu tun, ob man am Dienstag Dienst oder am Freitag frei hatte. Und bedeutete dann wohl auch, dass am Samstag nicht das Sams kam. Eigentlich schade.
Auf jeden Fall wusste sie jetzt, dass sie nach den Begriffen germanisch, Mythologie und Seherin zu suchen hatte. Gedacht, getan, und so stieß sie ziemlich schnell auf einen Text, in dem von einer sogenannten Völva die Rede war. Okay, das war zwar erst einmal nur ein weiteres Wort für die Unbekannten-Liste, aber Mara spürte, dass sie auf der richtigen Spur war. Darunter standen gleich mehrere Bedeutungen: Schamanin, Zauberin, Prophetin, Wahrsagerin … und Hexe!
Hilfe! Was macht Mamas verrückte Frauengruppe in meinen Nachforschungen! Bitte sag, dass die nix mit mir zu tun haben!, dachte Mara, ohne zu wissen, an wen sie diese Bitte eigentlich gerade gerichtet hatte.
Wer-auch-immer war aber offensichtlich nicht bereit, Mara diesen Wunsch zu erfüllen. Denn etwas weiter unten in dem Text war doch tatsächlich von einer Spákona die Rede: Weit verbreitet war dagegen »die Frau, die sieht«, eine Seherin – die etwas schwächer begabte Spákona.
Eine Spákona war also so was wie eine Seherin und eine Art Vorfahrin der Hexen? Mara blickte von dem Bildschirm auf. Ihr Atem ging plötzlich schneller. Sie sollte eine Hexe sein? Gerade sie? Eine Hexe?
Bedeutete das, dass sie ab sofort mit ihrer Mutter ins Wicca-Café gehen, alberne Flatterklamotten tragen, Trommelstunden und Auren-Kurse durchleiden musste?
Mara stützte den Kopf auf beide Hände und stierte aus dem Fenster, während sie grübelte. Mamas Frauengruppe, die Wiccas von der Au, betonten immer wieder, dass die Hexen der sogenannten »alten Zeit« keine zauberkräftigen Schrumpelweiblein mit Hunger auf gemästete Hänsels gewesen seien, sondern weise Frauen, die sich auskannten mit Kräutern und Naturheilverfahren. Denen habe allerdings die Kirche aus Furcht vor Konkurrenz irgendwann allerlei Teufeleien angedichtet. Auch die schrecklichen Hexenverbrennungen im Mittelalter waren eine Folge davon.
Mara hatte sich anfangs auch für die Wiccas und ihre Geschichte interessiert. Doch dann hatte Mama sie mal zu einem der Treffen mitgenommen und ihr Interesse hatte sich schnell verwandelt in eine Art mitleidige Fassungslosigkeit.
Abgesehen von samstäglichen Hirni-Seminaren, montäglichem Chakra-Trommeln und diversen wöchentlichen Einzelkursen traf man sich nämlich auch noch jeden Donnerstagnachmittag im »Auer Wicca-Café«. Unter anderem, um sich dort von seltsamen Heinis für viel zu viel Geld irgendwelchen wertlosen Esoterik-Plunder andrehen zu lassen. Mara war auch hier gezwungenermaßen ein paarmal mit dabei gewesen. Für sie wirkte das Ganze wie eine Art Kaffeekränzchen mit Showeinlage und anschließendem Shoppingzwang: Jeden Donnerstag luden die Wiccas einen neuen Klangschalen-Schamanen, Wünschelrutengänger, Aus- oder Einpendler zu sich ins Café ein. Dem hörten sie dann eine Stunde lang mit aufgerissenen Augen andächtig zu. Sie saßen einfach nur da, tranken komischen Tee mit zu viel Schwebeteilchen und nickten wissend, während der Schwätzer der Woche seinen ganz speziellen Einblick in die Mechaniken des Multiversums mit ihnen teilte. Und ganz am Ende zauberte jeder dieser Laberkekse natürlich irgendein einzigartiges Kleinod aus seinem Koffer, das einem die gleiche Weisheit ermöglichen würde. Natürlich zum Vorzugspreis.
Mara war auch aufgefallen, dass es immer Männer waren, die da auftauchten und ihre fragwürdigen Waren feilboten – und das, obwohl die Wiccas von der Au doch ansonsten auf Männer gar nicht so gut zu sprechen waren, oder zumindest schien es Mara so.
Und was hatte sich Mama von diesen Typen nicht schon alles andrehen lassen! Die lächerliche Drahtpyramide zum energetischen Frischhalten von Obst hatte zum Beispiel irrsinnige 84 Euro gekostet! Und das war noch ein Schnäppchen gewesen im Vergleich zu der CD mit dem schlecht gemalten Dreieck darauf, die Mara eines Tages in ihrem Kopfkissenbezug gefunden hatte. Mama hatte ihr erklärt, es handle sich um eine sogenannte Celtic Energy Disc™ … Sie würde ihr helfen, traumatische Erlebnisse während des Schlafes besser zu verarbeiten. Ja, klar.
Mara wusste natürlich, dass das Mamas unbeholfene Art war, Hilfe anzubieten, weil Mara ihren Papa so schmerzlich vermisste.
Mara wusste aber auch, dass eine Celtic Energy Disc™ nur dann etwas bewirkte, wenn man ganz fest an sie glaubte und sich dabei nicht allzu blöd vorkam.
Mara wusste aber noch etwas, und zwar, dass sie ihre Mutter sehr traurig machen würde, wenn sie ihr erklärte, dass es sich bei den wahnsinnigen EINHUNDERTACHTUNDACHTZIG EURO für einen CD-Rohling mit draufgemaltem Dreieck um rausgeschmissenes Geld handelte …
Also steckte sie die Celtic Energy Disc™ wieder zurück in ihr Kopfkissen und bedankte sich bei ihrer Mutter so echt, wie es irgendwie ging, für das tolle Geschenk.
Nein, die kaufwütigen Tupper-Hühner vom Wicca-Café waren wirklich nicht die Art Hexen, die Mara jetzt weitergeholfen hätten.
Während sie so hin und her überlegte, hatte Mara gedankenverloren weiter nach unten gescrollt. Ohne wirklich zu wissen, warum, klickte sie nun auf einen Link zu einer Seite über Nordgermanische Religion und landete auf dem Wikipedia-Eintrag zu Germanischen Gottheiten.
Und dort fand sich etwas, das Mara auf eine Idee brachte: Namen! Aber nicht die irgendwelcher Wochentagspatrone, sondern die Namen von hundertprozentig real existierenden Personen, die sich mit diesem Thema beschäftigten! Deren Arbeiten hatten offensichtlich als Grundlage für die Online-Artikel gedient. Leute, die man fragen konnte! Natürlich, dachte Mara aufgeregt. Das ist doch viel besser, als wenn ich versuche, weiter das ganze Internet zu lesen! Ich frag’ einfach wen, der sich damit auskennt!
Doch Mara war etwas erstaunt, als sie den ersten Namen las: Jakob Grimm? Und tatsächlich: Nur einen Klick entfernt erfuhr sie, dass es sich tatsächlich um den »Märchen-Grimm« handelte, der zusammen mit seinem Bruder Wilhelm die berühmte Märchensammlung herausgegeben hatte. Und dieser Jakob Grimm hatte also ein Buch über deutsche Mythologie geschrieben? Interessant, aber im Moment nicht sonderlich hilfreich, denn Jakob Grimm war nicht nur eine ziemlich spannende Persönlichkeit, sondern leider auch ziemlich tot, und zwar seit knapp hundertfünfzig Jahren. Mist.
Der nächste Name auf der Liste lautete Karl Simrock. Immerhin erst seit hundertvierzig Jahren tot. Wir kommen der Sache schon näher, dachte Mara und scrollte durch die Liste, bis sie endlich auf einen Namen stieß, der zwar ein Geburtsdatum verzeichnet hatte, aber keinen Todestag! Dieser Professor Reinhold Weissinger war am 12. März 1954 geboren. Somit war er deutlich jünger als Jakob Grimm und allem Anschein nach auch deutlich weniger tot!
Maras Herz machte förmlich einen Sprung, als sie nur einen Mausklick später erfuhr, dass dieser Reinhold Weissinger Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München war!
Das ist ja nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt!, dachte Mara begeistert. Doch nun kämpfte sie sich erst einmal durch einen endlos scheinenden Kettensatz, in dem das Forschungsgebiet des Mannes beschrieben war: germanische Mythologie und Religion, mittelalterliche Sprachen und Kulturen Skandinaviens, Renaissance des 12. Jahrhunderts und ihre Literatur, religiöse, mystische und visionäre Texte des Hochmittelalters, volkssprachliche Wissenschaftstexte des Mittelalters mit besonderem Blick auf die Naturwissenschaften, spätmittelalterliche Reise- und autobiografische Literatur sowie Literatur in den geografischen Randgebieten des (heutigen) deutschen Sprachraums …
Puh. Na, wenn der nicht wusste, was man als frischgebackene Spákona so zu tun hatte und wie man dafür sorgte, dass ein mythologischer Halbgott gefälligst da blieb, wo er war – wer dann?
Mara fuhr den Laptop herunter, klappte ihn zu und deckte ihn wieder sorgsam mit den Zeitschriften ein. Dann verstaute sie auch das Netzteil wieder in dem ach so geheimen Versteck unter dem Fernseher. Und gerade als sie die Schublade zugeschoben hatte, hörte sie das bekannte Geräusch von Mamas Schlüssel an der Wohnungstür.
Einer Ahnung folgend verschwand Mara so schnell wie möglich in ihrem Zimmer und zog leise die Tür hinter sich zu. Kurz darauf hörte sie, wie ihre Mutter den Flur betrat. Was machte sie denn so früh wieder zu Hause?
Da klopfte es bereits an Maras Zimmertür, und ohne eine Antwort abzuwarten, steckte Mama auch schon ihren Kopf herein. So war sie eben.
»Mara? Maraschatz? Bist du wach?«
Mara drehte sich betont unschuldig auf ihrem Drehstuhl herum und klappte ein Heft zu. »Na klar, schon lange. Mach gerade Mathe«, sagte sie. »Wie war’s denn bei den Hexen?«
Dann stand sie auf und drängte sich an ihrer Mutter vorbei in den Flur, um davon abzulenken, dass außer dem Erdkundeheft auf ihrem Schreibtisch nichts lag als ein Bleistift und eine vollgemalte Schreibunterlage.
Mama setzte ein tadelndes Gesicht auf: »Nicht Hexen, Mara! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Das Wort Hexen ist ein dummes Schimpfwort von Leuten, die Angst vor Frauen haben, die mehr können als kochen, putzen und bügeln! Wir nennen uns Wiccas, und das weißt du ganz genau!«
»Hm. Aber jede Frau kann doch mehr als kochen, putzen und bügeln, oder? Sind dann alle Frauen Wiccas?«, fragte Mara so unschuldig wie sie nur konnte, während sie sich einen Apfel unter der Drahtpyramide herausfischte.
War Mama verwundert, dass ihre Tochter sich plötzlich für die Wiccas interessierte? Wenn ja, dann ließ sie es sich nicht anmerken.
»Nein, natürlich nicht!«, antwortete sie. »Eine Wicca ist man nur, wenn man besondere Fähigkeiten hat!«
Mara schnitt von dem Apfel die braune Druckstelle ab, die die Drahtpyramide darauf hinterlassen hatte, und versuchte, möglichst beiläufig zu klingen, als sie fragte: »Besondere Fähigkeiten? Was für Fähigkeiten denn?«
Anscheinend war diese Frage für Mama gar nicht so einfach zu beantworten, was aber nicht hieß, dass sie es nicht trotzdem versuchte: »Na ja … also … eine Wicca kann zum Beispiel … sie spürt, wenn … sie spürt eben mehr als … mehr als ein Mann zum Beispiel.«
Na hurra! Mama hatte es also mal wieder geschafft, ohne viele Umwege auf ihr Lieblingsthema zu kommen: Männer. Und wie so oft würde sie auch gleich eine Überleitung zu ihrem zweiten Lieblingsthema finden: Papa.
Mara seufzte tonlos, während Mama weitersprach: »Weißt du, Maraschatz, Männer spüren im Vergleich zu Frauen sowieso sehr wenig und sind auch nicht so empfänglich für … Dinge. Insgesamt. Und dadurch kann eine Wicca … also dadurch ist sie … einem Mann überlegen. In vielen Dingen. Das kannst du mir ruhig glauben, und vielleicht sagst du das deinem Vater auch mal, aber der ruft ja eh nicht mehr an!«
Mama hatte ganze vier Sätze gebraucht, um von Wiccas über Männer allgemein bei Papa zu landen, und ganz nebenbei hatte sie auch noch das ewige Streitthema mit dem Anrufen mit eingebaut. Nicht schlecht.
Mara schluckte eine direkte Antwort hinunter, denn sie wusste, wie empfindlich Mama war, wenn jemand Papa verteidigte.
»In was für Dingen sind die denn überlegen, die Wiccas?«, fragte sie stattdessen im Plauderton und biss in den Apfel.
»In … vielen Dingen eben!«, antwortete Mama. »Aber das kann ich dir nicht so einfach erklären. Dazu musst du noch ein bisschen älter werden. Nicht umsonst gibt es keine Wiccas unter … achtzehn Jahren.«
»Gibt es nicht?«, fragte Mara.
»Gibt es nicht«, sagte Mama.
»Aha«, sagte Mara.
»Jaja, so ist das eben«, sagte Mama.
Und dann wuschelte sie ihrer Tochter durch die Haare, wie sie es immer tat, wenn sie das Thema wechseln und Mara gleichzeitig darauf hinweisen wollte, dass sie dafür sowieso noch nicht alt genug war.
Ihr Blick fiel auf den Obstkorb. »Also, ich bin immer wieder begeistert, wie lange das Obst unter der Energy-Vital-Pyramide frisch bleibt. Hast du denn außer diesem Apfel schon etwas gegessen? Dein Schokomüsli?«
»Nein«, sagte Mara und log weiter: »Ich hab den ganzen Vormittag Hausaufgaben gemacht, aber dafür bin ich jetzt fast fertig.«
Mara schwindelte weder gerne noch besonders gut, aber in diesem Fall musste Mama vor der Wahrheit geschützt werden. Vor allem, wenn Mara selbst erst mal herausfinden musste, was eigentlich die Wahrheit war.
Aber irgendwie tat Mara das Gespräch mit ihrer Mutter gut: Es gab ihr auf eine ganz spezielle Art das sichere Gefühl, dass sie nicht verrückt war.
Diese verschwurbelten Erklärungen über die Wiccas, das Geschimpfe über Papa – das war die reale Welt.
Dummerweise ist zu der realen Welt noch was total unreal Reales dazugekommen, dachte Mara, als sie wieder in ihrem Zimmer war und die Tür hinter sich zuzog. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und sah aus dem Fenster, wo sie heute Morgen den Zweig vergraben hatte. Als sie daran dachte, was sie am Montag vorhatte, war ihr schon ein bisschen mulmig zumute, aber ihr Entschluss stand fest: Mara würde direkt nach der Schule zur Münchner Maximilians-Universität fahren.
Sie war zwar noch nie dort gewesen, aber sie wusste genau, wo auf dem U-Bahn-Plan die Haltestelle mit dem Namen Universität war. Schließlich verbrachte sie jeden Tag elfeinhalb Minuten damit, diesen Plan anzustarren. So lange brauchte die U-Bahn, um bis zur Haltestelle Giesing zu fahren, wo Mara zur Schule ging.
Sie starrte immer auf den Plan während der Fahrt, weil er ihr irgendwie interessanter erschien als alle ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Die Mädchen gackerten die ganze Zeit und schielten dabei laufend auf ihr eigenes Spiegelbild in den dunklen Fenstern. Und die Jungs führten sich jeden Tag gegenseitig aufs Neue vor, dass sie mit ihren Handys besonders blechern Musik hören und dabei mit den Händen täuschend echte Furzgeräusche produzieren konnten. Irgendwie hatte Mara das Gefühl, dass die Jungs ernsthaft darauf bauten, dass eins der Mädels sich mal umdrehte und sagte: »Hey, das klang ja wie ein echter Furz! Und fast im Rhythmus von dem Lärm aus deinem voll coolen Handy! Wahnsinn! Wer von euch Superhelden hat das denn gerade so toll hingekriegt und hat Lust, mit mir zu gehen?«
Andererseits, so doof konnten nicht mal Jungs sein, oder?
Oder?