Kitabı oku: «Weißes Rauschen oder Die sieben Tage von Bardorf», sayfa 4

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Dienstag


Hätte Ota Kregel ihr Leben in Häufchen aufgeteilt, dann wäre der weitaus größte Teil ein Berg Buntwäsche aus pflegeleichter Faser, der Haufen Kochwäsche mit echten Flecken würde deutlich kleiner ausfallen und das Flatterhafte für die Handwäsche käme mit weniger als einer halben Wäscheleine aus. Ota Kregel stand auf der Waage und starrte auf die Zahl. Es drohte ein ungerader Tag zu werden. Sie streifte den Slip ab und blickte erneut an sich herunter, über ihre Schamhaare hinweg, die sie stolz war zu sehen, und wofür sie auch einiges tat. Denn sie stutzte diese regelmäßig, und dennoch ermöglichte ihr trainierter Bauch einen freien Blick auf die gekräuselten Spitzen. Dort wo das schwarze Gewölle zu einer kleinen Düne zusammenlief, ragte die rote Nadel der Waage vor. Es blieb bei dem ungeraden Tag. Das war kein guter Start, zumal heute der Präsident sich zur Sitzung angemeldet hatte. Ota Kregel verfügte über ein gesundes Selbstbewusstsein und ließ sich für gewöhnlich von der Anwesenheit ranghöherer Kollegen nicht beeindrucken. Doch in diesem Fall war die Situation eine spezielle. Denn der Polizeipräsident war bis vor Kurzem noch Dozent an der Polizeihochschule gewesen, jene Einrichtung, an der Ota Kregel einen Riesensatz gemacht hatte, und seitdem als Anwärterin für die höhere polizeiliche Verwendung gehandelt wurde. Leider nur ließ sich das Beförderungsrecht nicht so leicht überspringen wie die Mindestweite beim sogenannten Standsprung. Mit zwei Metern dreiundvierzig erreichte sie das beste Ergebnis, das jemals eine Frau bei diesem Eignungstest der Hochschule vorgelegt hatte. Allerdings war Ota Kregel mit ihrer Körpergröße von einem Meter achtundachtzig auch deutlich im Vorteil. Zur Weitenmessung abkommandiert an diesem Tag war Sebastian Kleinjung, Volljurist, wie er später den Studenten am ersten Vorlesungstag mitzuteilen sich beeilte, und seit jenem Riesensatz von Ota Kregel ein Förderer der jungen Frau, die nicht nur wegen ihrer Schuhgröße siebenundvierzig, zunächst in der Ausbildung, später aber auch im Dienstalltag, mit einigen Problemen zu kämpfen hatte. Seit ihrer Versetzung zur Kriminalpolizei war sie allerdings das leidige Uniformproblem los. Nur noch zu offiziellen Anlässen musste sie sich in die olivgrüne Montur quälen, die sie wegen des unmöglichen Schnitts wie eine Birne aussehen ließ. Einen Auftritt in einem polizeilichen Badeanzug hätte sie deshalb bevorzugt, nur leider gab es weder einen solchen, noch einen Anlass, einen solchen zu tragen. Drei Handvoll Müsli und ein Viertelliter Milch genügten, um Ota Kregel morgens fit und bis zum Mittag durchhalten zu lassen, und weil sie gerne in der Stadt lebte, kam sie jeden Morgen mit dem Fahrrad zum Dienst, und war damit schneller als all ihre Kollegen, die sich mit Autos, in Bussen und Straßenbahnen oder selbst mit dem Moped, wie Kollege Frohrieb, durch die Stadt quälten. Heute war es wohl wieder besonders schlimm, denn als Ota Kregel ihr Rad anschloss, hatte sie den Eindruck, die Erste zu sein. Noch aber waren zehn Minuten Zeit bis zum Beginn der Sitzung.

Das Polizeirevier war zu einer Zeit gebaut worden, als staatlichen Ordnungshütern noch so etwas wie eine natürliche Autorität zugebilligt wurde, ein gelber Klinkerbau, der sich wie eine Festung am nördlichen Rand des Stadtzentrums über ein ganzes Karree zog. Die gelben Klinker waren im Laufe der Jahrzehnte erheblich nachgedunkelt und wie bei einem alten Gießereimantel hatte sich eine Schicht aus Ruß, Industriestäuben und zweitaktigen Abgasen über die porösen Steine gelegt. Bislang hatte es kein Innenminister geschafft, bei seinen Kabinettskollegen wenigstens das Geld für eine Fassadenreinigung einzuwerben, was aus Sicht der Polizisten auch ein bezeichnendes Bild auf den Verfall der natürlichen Autorität ihres Berufsstandes warf, zumal in den letzten Jahren nahezu alle Gefängnisse aufwendig saniert worden waren. Vor allem die älteren Polizisten machten für diesen Umstand die Einführung der Neuen Geschäftsgrundlagen verantwortlich. Dass die Arrestzellen besser ausgestattet waren als die Dienstzimmer, das hatte es früher jedenfalls nicht gegeben.

„Wanderbaustelle“ – mit diesem Begriff stürmte Frank Schneider jetzt in den Besprechungsraum und traf dort zu seiner Verwunderung nur auf Ota Kregel, die in der dünnen Ermittlungsakte blätterte.

„Sie ist von rechts nach links gewandert. Über Nacht. Diese Baustelle.“

„So ist das eben, wenn eine große Koalition regiert.“

Ota Kregel grinste und schob die Akte beiseite.

„Ohne einen pathologischen Befund kommen wir sowieso nicht weiter.“

Frank Schneider wusste, dass Ota Kregel morgens nie Radio hörte und deshalb zum Dienstbeginn häufig schlecht informiert war, zumal sie als Radfahrerin noch nicht einmal von den Gesprächen der Mitreisenden in Bus oder Bahn profitieren konnte.

„Am Vormittag hat Kleinjung zu einer Pressekonferenz geladen.“

Unter den Kollegen der Polizeidirektion war für gewöhnlich vom Präser die Rede, wenn Kleinjung gemeint war. Da Schneider aber um die besonderen Verhältnisse zwischen Ota Kregel und dem Präsidenten wusste, hielt er sich zurück.

„Da reicht aber das hier nicht aus“, sagte Ota Kregel und tippte auf die Akte.

„Die grillen uns sowieso. Immerhin ist das Opfer einer von denen.“

„Warum eigentlich? Warum wird ein Journalist umgebracht und dann noch im Funkhaus? Das ist doch eigentlich selten, oder? Wieso ist das im Funkhaus passiert? Das müssen wir uns doch eigentlich fragen, oder ist das Ganze nur Zufall?“

„Warum sollte das nicht passieren? Immerhin sterben jährlich über hundert Journalisten im Dienst. Das haben die heute im Radio gesagt.“

„Das trifft aber sicherlich nicht für Mitteleuropa zu. Hier wird niemand erschossen, weil er einen kritischen Artikel schreibt. Außerdem steht noch gar nicht fest, dass Wilkhahn im Dienst gestorben ist. Bislang wissen wir nur, dass er in einem Dienstzimmer gefunden wurde.“

„Du hast recht. Aber wer so tötet, der tut dies nicht aus Leidenschaft. Das Ganze sieht doch eher kaltblütig aus.“

„Oder soll Kaltblütigkeit vortäuschen. Immerhin brauchte das Ganze doch eine ziemliche Vorbereitung.“

„Vorgetäuschte Kaltblütigkeit. Ist das eine Art kalte Leidenschaft? Das würde auf eine Frau hinweisen.“

„Ich habe gewusst, dass du das jetzt sagst. Aber mal ehrlich, welche Frau hinterlässt an der Tatwaffe eine Unmenge von Fingerabdrücken?“

„An den Tonbändern sind Fingerabdrücke?“

„Das jedenfalls hat Kollege Frohrieb hier vermerkt. Davon wusste dein Radio nichts oder?“

Schneider wollte gerade antworten, als sich plötzlich der Raum zu füllen begann. Es war beinahe acht Uhr.

„Vier Container auf der Stadtautobahn. Totale Blockade. Der Staatsschutz ermittelt. Idioten alle. Und das an dem heutigen Tag. Gleich zwei Themen für die Presse. Scheiße aber auch.“

Sebastian Kleinjung knöpfte seinen Mantel auf. Darunter trug er heute einen dreiteiligen Anzug, kariert und mit einem roten Einstecktuch über seinem Herzen, das natürlich nur eine Fortführung des schmalen roten Schlipses war, der sich leicht über dem Ausschnitt der Weste verdreht hatte. Schneider fragte sich, welches Signal der Präser zur Pressekonferenz aussenden wollte. Kleinjung knallte seine Tasche auf den Tisch.

„Und dann diese blöden Buchstaben.“

Er sprang erneut auf und schrieb sie jetzt mit einem roten Filzstift an das Board: AYCB.

Schneider fiel ein, dass er vergessen hatte, seiner Frau die Karte mit genau diesem Aufdruck weiterzugeben.

„Hat das jemand schon mal gesehen?“

Niemand sagte etwas.

„Vielleicht eine ungewöhnliche Werbeidee“, warf Schneider ein.

Kleinjung starrte ihn an.

„Mensch, das war eine Vollsperrung der Autobahn. So etwas ist immer politisch. Oder was sagen Sie, Frau Kregel?“

Ota Kregel erinnerte sich, dass am Morgen die Nadel der Waage sich vor einer ungeraden Zahl eingependelt hatte. Sie blickte an Kleinjung vorbei. Dann sagte sie: „So was kann natürlich immer politisch sein. Heutzutage ist es ja auch politisch, wenn die Leute Fleisch essen. Oder eben auch kein Fleisch. Da ist so eine Autobahnnummer natürlich auch politisch.“

Einige Kollegen grinsten jetzt, was Ota Kregel wunderte. Kleinjung strich seinen Schlips glatt, dann sagte er: „Schauen wir jetzt doch mal auf unseren toten Moderator. Da haben sich doch sicherlich die Spekulationen von gestern zu einem Sachstand verdichtet.“

Für einen Moment schien es so, als ob alle im Raum den Präsidenten in dieser Fehleinschätzung verharren lassen wollten.


Kevin Sparenke war schlecht gelaunt. Diese sogenannten Weiterbildungen begannen immer frühmorgens, und zwar nicht in dem neuen Stadion von Wacker Schwarz-Weiß, sondern auf den Übungsplätzen dahinter, dort wo eigentlich die Spieler der Nachwuchsmannschaft herumtollten, die jetzt freilich die Schulbank drückten, damit sie später vielleicht mal nicht nur vom Fußball leben mussten, wie die meisten hier in der gegenwärtigen ersten Mannschaft. Diese zeigte ein desaströses Bild. Wie ein versprengter Söldnerhaufen zogen die Spieler ihre Bahnen auf dem Schotter, der das Rasenfeld begrenzte, mit dem Blick auf die aufragenden Tribünen des neuen Stadions, das vor drei Jahren mit der Hoffnung auf höherklassigen Fußball errichtet worden war. Doch statt nach oben sauste die Mannschaft weiter nach unten, und immer wenn es in der Stadt hieß, schlimmer könne es ja nicht mehr kommen, die Fans vor Wut die Fahnen des eigenen Klubs verbrannten oder den Spielern mit Prügel drohten und selbst die treuesten Zuschauer den Spielen fernblieben, dann fiel die Mannschaft noch eine Spielklasse tiefer. Inzwischen liefen die schwarz-weißen Spieler in derselben Liga auf wie der FC Bardorf, eine Schmach für den Klub, der einst in europäischen Arenen durchaus selbstbewusst aufgetreten war. Kevin Sparenke, der mit etwas Abstand hinter den anderen hertrabte, war der Neuzugang, auf dem nun alle Hoffnungen des Vereins ruhten, herausgekauft aus einer höheren Spielklasse, in der er zunächst hoffnungsvoll gestartet war, dann aber nachgelassen hatte und nach einer Verletzung nicht mehr in die erste Mannschaft zurückgefunden hatte. Die Schwarz-Weißen hatten ihm überraschend viel Geld geboten, und obwohl er nicht genau wusste, was die anderen monatlich verdienten, so ging er schon davon aus, der derzeit bestbezahlte Mann auf dem Platz zu sein. Und damit das so blieb, drehte er klaglos seine Runden auf dem Schotter und hatte in den ersten vier Pflichtspielen mit immerhin drei Toren den wenigen Fans, aber vor allem auch der Klubführung deutlich gemacht, eine gute Investition zu sein. Schade war nur, dass Schwarz-Weiß keines dieser Spiele gewonnen hatte. Und das war eben auch der Grund für die schlechte Stimmung, denn wenn auch den Spielern des Klubs mitunter ein verengter geistiger Horizont unterstellt wurde, die grundsätzlichen Zusammenhänge ihres Tuns hatten sie schon verstanden, und dazu zählte eben auch die Vermutung, dass ein leeres Stadion kein Geld einspielte. Und deshalb ging es am Wochenende um die Ehre, was aber eigentlich nicht stimmte, denn tatsächlich ging es ums Geld. Dass der Klub fast pleite war, galt als ziemlich sicher und auch nachdem der Sport- und Innenminister sich zum Präsidenten hatte wählen lassen, gab es Monate, in denen die Schwarz-Weißen ihr Geld bar und in Raten erhielten, zugesteckt vom Trainer, in braunen Umschlägen. Bei den meisten Spielern passte der Umschlag gefaltet in die Tasche ihrer Trainingshose, ohne dass diese ausbeulte.

„Wir sollen nicht alleine laufen. Hat der Trainer gesagt.“

Ausgerechnet der vertrottelte Rafael Meyer hatte sich zurückfallen lassen, ein talentfreier Mittelfeldaußen, der Sparenke bislang noch keinen einzigen erreichbaren Pass zugespielt hatte. Meist rutschten Meyer die Bälle über seine riesigen Füße, auf denen er schwerfällig das Spielfeld durchpflügte, und sollte er ein Zuspiel doch mal ohne zu stolpern weitergeben, dann landeten seine Schüsse meistens hinter der Seitenlinie.

„Wir sollen mehr Teamgeist zeigen, sagt der Trainer.“

Sparenke trabte wortlos weiter. Im schwarz-weißen Dress auflaufen zu müssen war an sich schon eine Zumutung, doch nun auch noch von Rafael Meyer vollgequatscht zu werden, war eigentlich durch den monatlichen Scheck des Vereins nicht mehr gedeckt.

„Am Sonnabend werden wir es allen zeigen“, schnaufte Rafael Meyer nun. Ob es an seinen großen Füßen lag oder an dem leicht gebeugten Oberkörper, mochte Sparenke in diesem Moment nicht entscheiden, fest stand jedenfalls nur, dass der trottelige Rafael mehr zu tapsen als zu laufen schien.

„In jedem Fall werden wir beide die wichtige Spielachse sein. Die Achse des Sieges sozusagen.“

Kevin Sparenke sagte noch immer nichts. Sie waren jetzt etwas schneller geworden und hatten die übrigen Spieler beinahe eingeholt, aus deren Gruppe der schwarze Schädel von Ademola Sangu herausragte. Der trabte mit jener Lässigkeit, die er auch auf dem Spielfeld zeigte, und um die ihn Sparenke insgeheim beneidete, ganz im Gegensatz zu den Tätowierungen, Ritzungen und Narben, die den Rücken des Afrikaners zierten wie Zeichen einer Geheimschrift. Sparenke hatte den Verdacht, dass er in irgendeinem vergessenen afrikanischen Winkel als Kindersoldat durch den Dschungel gezogen war. Spielerisch war Sangu jedoch sicherlich das größte Talent in dem armseligen schwarz-weißen Haufen.

„Ran jetzt hier. Wir stellen uns im Kreis auf.“

Trainer Klaus Grollmann versuchte seit einem halben Jahr, die Mannschaft zumindest wieder in das Mittelfeld der Liga zu führen, doch aktuell stand der Verein nur knapp über einem Abstiegsplatz, und, was noch viel schlimmer war, drei Zähler hinter den Kickern aus Bardorf.

„Okay. Jetzt lassen wir die verstockten Energien raus. Schreittanz.“ Die Spieler warfen nun ihre Beine im Exerzierschritt hoch, schlugen gleichzeitig die Arme vor und zurück und sprangen bei jedem dritten Schritt in die Höhe. Alle Übungen hatte der Trainer selbst entwickelt, der als ein Anhänger von Feng-Shui galt.

„Jetzt lockern, dann machen wir das Yang.“

Die Spieler fielen in den Liegestütz und bewegten dann die Beine langsam zu sich heran, bis ihr Gesäß eine Art Dach bildete. Diese Übung war äußerst unbeliebt, zumal Fans einer gegnerischen Mannschaft sie bei diesem Tun heimlich fotografiert und die Bilder zum Jubel der Liga ins Netz gestellt hatten. Schwuchtelbrüder war noch die freundlichste Formulierung, als die Aufregung im Netz hochkochte.

„Und nun das Yin.“

Die Spieler legten sich nun in einen großen Kreis. Da die Stadt keinen Fluss hatte, mussten sie sich nicht nach ihren Positionen sortieren, was der Trainer üblicherweise forderte, denn nach seinen Erfahrungen durften die Füße der Stürmer nicht zum Wasser zeigen. Nachdem sie sich ausgerichtet hatten, schritt der Trainer den Kreis ab und korrigierte mit seinem Fuß die eine oder andere Position. Dann stellte er sich in die Mitte und stieß einen kurzen Pfiff aus seiner Trillerpfeife. Die rechten Arme der Männer flogen hoch. Der Trainer pfiff erneut. Nun folgten die linken Füße. In einer einstudierten Choreografie bewegten sich die Körper wie beim Synchronschwimmen. Der Trainer hatte viele Stunden darauf verwandt, die Mannschaft auf diese perfekte Leistung auszurichten und insgeheim überlegt, das System zu einer ganzheitlichen Trainingsschule aufzubauen, als ein neues Standbein, denn das Vertrauen in die Zukunft von Wacker Schwarz-Weiß hatte er verloren. Mit drei Pfiffen beendete er die Übung.


„Halt Stopp. Das Licht auf vier blendet.“

Klaus Friedberg hasste es, wenn die Techniker erst behaupteten, eine Stunde länger als geplant für die Einrichtung des Studios zu brauchen und dann trotzdem noch schlampige Arbeit ablieferten. Der Hubwagen fuhr nun also mindestens zum sechsten Mal nach oben, um einen der Scheinwerfer nachzujustieren. Häufig schon hatte Friedberg den Wechsel vom Trickfilm in das Unterhaltungsfach bereut, denn der Umgang mit künstlichen Lebewesen erschien ihm um vieles einfacher zu sein, als sich mit echten Menschen auseinanderzusetzen. Hinzu kam, dass seine spezielle Klientel, überwiegend Schlagersänger und Volksmusikanten, einen unglaublichen Eigensinn zu entwickeln pflegte, was im krassen Widerspruch stand zur Alltäglichkeit ihrer Musik, ein Umstand, den Friedberg auch nach vielen Jahren Berufserfahrung noch immer merkwürdig fand. Der Hubwagen war inzwischen wieder aus der Kulisse herausgerollt, als plötzlich die Ratte hinter ihm stand. Die Ratte hieß eigentlich Udo Malchwitz, war etwa halb so alt wie Friedberg, trug aber als Geschäftsführer sicherlich doppelt so viel Geld aus dem Funkhaus.

„Wir müssen reden.“

„Nicht jetzt. Wir zeichnen gleich auf.“

„Darum geht es ja gerade. Wir gehen in mein Büro.“

Malchwitz hatte den Vormittag damit verbracht, sein Büro neu zu ordnen. An der Wand schichtete sich jetzt jenes Papier, das sich in den letzten Monaten wie Geschiebemergel auf seinen Schreibtischen angesammelt hatte. Die Stapel wirkten allerdings wahllos aufgeschichtet und manche auch nicht sehr standsicher, da nicht selten die schweren Magazinhefte oben auflagen, während sich darunter überwiegend loses Blattwerk befand. Auf den Schreibtischen lagen nun aber sorgfältig wie in einer Auslage die wichtigsten Tageszeitungen des Landes.

„Wir haben einen echten Hit gesetzt.“

Malchwitz zog den wichtigsten der Boulevardtitel hervor. Der Aufmacher zog sich über die gesamte Zeitungsbreite:

Manne Wilkhahn

Weiße Schrift auf schwarzem Fond, daneben ein schlichtes Kreuz. „Ich habe nachgemessen, sieben Zentimeter. So große Schlagzeilen hatten wir noch nie.“

Malchwitz zog weitere Zeitungen hervor:

– Tod eines Fernsehstars, unser Manne – unsere Trauer

– Schunkelkönig tot

– Ein Leben für die Musik

– Der letzte Jodler

– Wenn die Trachten Trauer tragen

So unterschiedlich die Schlagzeilen auch waren, bei den Bildern schienen sich alle auf ältere Motive geeinigt zu haben, die einen wohl zwanzig Kilo leichteren Moderator zeigten.

„Die sind freundlich zu uns. Das müssen wir nutzen.“

Malchwitz hatte entgegen seiner üblichen Gepflogenheiten nicht hinter seinem Schreibtisch Platz genommen, sondern ging vor dem großen Panoramafenster auf und ab.

„Ich möchte, dass wir eine Sondersendung vorbereiten. Für den Sonntag, nach dem Fußballspiel. Wir holen ein paar Weggefährten ins Studio – live, keine Aufzeichnung. Das Konzept will ich bis heute Abend.“

Friedberg war überrascht. Eigentlich hätte der Auftrag von der Fernsehchefin kommen müssen, denn als Geschäftsführer oblag es Malchwitz nicht, in die einzelnen Sendeachsen hinein zu planen, schließlich war er kein Journalist, sondern Verwaltungswirt und ganz bewusst von der Holding als ein solcher auch eingestellt worden.

„Und was habe ich davon?“

Malchwitz lächelte.

„Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Wenn an der Wilkhahn-Story irgendetwas klebt, und davon gehe ich aus, dass sie klebrig ist, dann fällt auch der Unterstrolch.“

Der Unterstrolch war der nom de guerre von Karin Untersilch-Teetmann, jener Fernsehchefin, die aufgrund einer besonderen politischen Konstellation in der Landesregierung zu diesem Posten gekommen war, nach der letzten Wahl diese Unterstützung jedoch verloren hatte, da die kleine Partei, deren Mitglied sie zwar nicht war, aber aus bestimmten Gründen heraus deren Kostgängerin, unter ziemlich unrühmlichen Umständen den Landtag verlassen hatte.

„Wir sollten mit Blick auf die Zukunft enger zusammenarbeiten.“ Malchwitz hatte sich jetzt in seinen Verwaltungssessel gefläzt und drehte ihn so, dass die Stadt sich ihm öffnete. Er griff in seinen Schreibtisch und zog ein Bündel Möhrenstifte hervor. Der Flurfunk des Hauses glaubte zu wissen, dass Malchwitz allein lebte.

Wer seine Möhren schälte, das war hingegen unbekannt.

„Was halten Sie von dieser Idee?“

Friedberg hatte sich nun auch gesetzt.

„Soll denn das Format fortgeführt werden? Ich dachte, wir steigen aus diesem Segment aus. Oder haben wir neue Werbepartner?“

„Sie wissen, dass ich darüber nichts sagen darf. Vielleicht können wir das Format weiterentwickeln, verjüngen, aber so, dass der Markenkern erhalten bleibt.“

„Da müssten wir in jedem Fall unsere Zielgruppen neu definieren. Und so ein Relaunch kostet Geld, viel Geld. Und wir brauchen einen neuen Moderator.“

„Das mit dem Geld können Sie ruhig mir überlassen. Ihr Job wäre das neue Konzept. Und über die Moderation reden wir dann. Vielleicht kann es ja auch eine Frau sein.“

„Davor möchte ich warnen. Moderierende Frauen sind in dieser Zielgruppe ein Risiko. Es sei denn, sie haben einen väterlichen Auftritt.“

„Wir werden das zu gegebener Zeit noch mal diskutieren. Jetzt kommt es erst mal drauf an, das Ganze konzeptionell zu überdenken. Ich erwarte ein Grobkonzept bis Ende nächster Woche. Und kein Wort zum Unterstrolch.

„Okay. Ich melde mich.“

Als Friedberg aufstand, hatte Malchwitz seinen Sessel in Richtung Stadt gedreht. In seiner Hand hielt er noch einen letzten Möhrenstift, mit dem er sich versonnen über die Stirn fuhr.

Im großen Sendestudio wurde das Publikum auf die vier Sitzblöcke verteilt, was immer mit einer gewissen Unruhe verbunden war. Friedberg nickte den drei Kameraleuten zu, dann ging er hinüber zu dem Regiepult, an welchem die Assistentin schon auf ihn wartete und er war sich nicht sicher, sie schon einmal gesehen zu haben.

„Okay. Volles Licht, wir machen jetzt den Check.“

Friedberg hatte sich angewöhnt, im Studio grundsätzlich laut und langsam zu sprechen, denn er hatte den Eindruck, es häufig mit Hörgeschädigten zu tun zu haben.

„Okay, hier vorne die Rollstühle. Ich würde gerne die Frau auswechseln, eine Blonde bitte.“

Die Dunkelhaarige stand auf und die Assistentin winkte eine Blonde heraus.

„Bleiben Sie sitzen, zu jung. Wer will schon so ein junges Ding im Rollstuhl sehen?“

Friedberg fand schließlich eine passende Kandidatin im äußersten rechten Block.

„Wer ist denn das da mit der Mütze?“

„Das soll ein Pole sein.“

Die Assistentin klang verunsichert.

„Was denn für ein Pole?“

„Wegen der Zuwanderungsquote.“

„Mütze ab. Ich will keine Polen. Ich will schwarze, gelbe, grüne, blaue Zuwanderer. Wir machen hier Farbfernsehen.“

Die Assistentin sprach nun noch leiser.

„Aber der Ministerpräsident ist doch gerade zu Besuch in Polen.“

„Das ist mir doch egal, wo der ist. Wir zeichnen auf. Gesendet wird in vierzehn Tagen. Dann ist der vielleicht in Honolulu oder sonst wo. Vielleicht ist er dann auch nicht mehr im Amt. Verdammte Scheiße.“

Friedberg merkte, wie sein Puls Fahrt aufnahm. Er ignorierte das Grinsen der Kameraleute, den hämischen Blick aus der Lichtregie, die Grimassen der Tontechniker und das Getuschel all jener, die als Aufnahmeleiter, Maskenbildner, Requisiteure, Studiobauer, Elektriker, Sanitäter, Hausmeister, Gästebetreuer, Klofrauen und -männer, Lampenputzer, Schweißabwischer oder Witzerfinder für die Show tätig waren.

„Machen Sie weiter“, sagte er zu der Assistentin. Die stellte sich jetzt in die Studiomitte und las von einem Zettel.

„Während der Aufzeichnung ist es verboten, ohne Aufforderung zu klatschen oder zu lachen. Sollten Sie ihre Handys nicht abgeschaltet haben, machen wir Regressforderungen geltend. Ebenfalls ist es streng untersagt zu winken. Die von der Arbeitsagentur geschickt wurden, bekommen nach der Aufzeichnung ihre Weiterbildung bestätigt. Der Essenbon für alle anderen wird ebenfalls nach der Show ausgereicht. Er kann nicht zum Einlösen alkoholischer Getränke verwendet werden.“

Es kam nun zu einer gewissen Unruhe im Studio, zumal Friedberg aufgeregt telefonierte.

„Es ist mir egal, ob die Studenten Prüfungen haben oder nicht. Das Publikum ist zehn Jahre zu alt. Demografischer Faktor, davon solltest du schon mal gehört haben. Das ziehe ich von deinem Honorar ab.“

Als hätte die Aufnahmeleiterin nur gewartet, dass Friedberg das Gespräch beendete, ließ sie den Trailer abfahren. Mehrere Spots kreisten über der Showtreppe, das Publikum klatschte, Kamera drei schwenkte über die vorderen Reihen, während die anderen beiden auf den ersten Showact warteten. Das Licht wurde etwas dunkler, dann traten drei Männer, die kein Alter zu haben schienen, in braunen Lederhosen und grünen Jacken in das Licht an der Rampe, warteten auf den Musikeinsatz, der erneut von Klatschen begleitet wurde. Dann bewegten sie ihre Münder.

Friedberg merkte, dass er allmählich ruhiger wurde.


„Keine Familie, keine Angehörigen. Nicht mal Freunde scheint es zu geben.“

Frank Schneider hatte das Auto weiter unten geparkt, dort wo die Hauptstraße eine Knick machte und sich teilte, als kleinere Zufahrt in die Siedlung und als breitere Straße weiter aus der Stadt hinaus. Schneider ging gerne zu Fuß, insbesondere wenn es sich um Orte handelte, die irgendwie mit den Fällen verbunden waren. Während Frank Schneider überrascht die ersten Pfingstrosen in den Vorgärten entdeckte, kümmerte sich Ota Kregel um den Weg. „Wir müssen jetzt nach rechts in die Motorenstraße.“

Als Urväter der Siedlung galten ein hugenottischer Tuchhändler und ein zugewanderter englischer Ingenieur, der eigentlich ein Schotte war. Sie hatten zweimal Napoleons Truppen an sich vorbeiziehen sehen, erst auf dem Weg nach Moskau, und dann wieder auf dem Weg zurück. Und da sie glaubten, nun alles erlebt zu haben, gründeten sie eine Fabrik. Dort stellten sie her, was die Bauern im Umland so brauchten. Wäre die Stadt an Ufer eines Flusses errichtet worden, so hätten sie wohl Dampfschiffe produziert. Stattdessen stellten sie Dampfmaschinen her. Und als dann die Schienen der Eisenbahn die Stadt erreichten, wuchteten sie die Dampfmaschinen auf Räder. Das Werk wuchs, und weil die Lokomotiven immer weiterrollten, wurden sie für das Militär interessant. Jetzt bauten die Arbeiter in dem Werk gepanzerte Lokomotiven und Geschütze, und als das Militär immer mehr davon brauchte, wurde für die Arbeiter eine kleine Stadt neben der Fabrik errichtet. Wer Geschütze baut, kann auch Granaten drehen und wer Panzerzüge schweißt, weiß auch Tanks zu konstruieren. Und deshalb wurde die Konstrukteurssiedlung gebaut. Im Motorenweg wohnten die Motorspezialisten, im Gießereiweg die Gussexperten oder im Lafettenweg die Lafettenbauer. In den großen Kriegen pfiffen die Granaten aus den Tanks und Kanonen über die Schützengräben nahezu jeder europäischen Armee, bis nach dem letzten Krieg nichts mehr übrig blieb von dem Werk, außer dieser Siedlung und zwei Texttafeln im städtischen Museum.

„Wir müssen uns links halten. In den Kokillenweg.“

Selbst achtzig Jahre später wirkten die Siedlungshäuser ungewöhnlich großzügig, doch die Gegend für einen Fernsehstar war es nicht. „Walzweg. Hier sind wir richtig.“

Ota Kregel schob die Wegbeschreibung in ihre Tasche und beschleunigte ihren Schritt.

„17a – vielleicht ein Neubau?“

Bis zur Nummer 12 konnten sie nichts sehen, doch dann endeten die Häuser plötzlich an einem kleinen Park oder Grünstreifen. Das Eckhaus stand zurückgesetzt, am Briefkasten stand: Walzweg 17a. Sonst nichts. Ota Kregel drückte den Klingelknopf, doch nichts passierte. Sie versuchte es ein zweites Mal, während Frank Schneider die umliegenden Häuser beobachtete.

„Watt wollnse denn? Da is sowieso keena da.“

Die Stimme kam durch eine mannshohe Hecke, die selbst Ota Kregel überragte. Schneider glaubte, durch das Geäst die bunten Farben einer Kittelschürze auszumachen.

„Woher wissen Sie denn das?“, rief Schneider jetzt in die Hecke.

„Weil da nie Licht brennt.“

„Aber wer holt denn die Zeitung raus?“

„Die haben keene abonniert. Könnse die Postfrau fraren.“

„Danke“, rief Schneider in die Hecke, ging aber davon aus, dass sie weiter beobachtet würden. Ota Kregel hatte inzwischen den Briefkasten und die Gartentür untersucht.

„Keine auffälligen Spuren“, sagte sie.

Sie nahm den Schlüssel, der in Wilkhahns Manteltasche gefunden worden war, und öffnete den Briefkasten. Er war leer. Etwa zwanzig Meter waren es bis zur Haustür, ein Kiesweg, der einen gepflegten Eindruck machte. Gleiches galt für die Rabatten. Nur standen die Pfingstrosen zu schattig, wie Schneider fand. Die Haustür war geschlossen und zeigte ebenfalls keinerlei Einbruchsspuren. Ota Kregel klingelte noch einmal, dann schob sie den Schlüssel ins Schloss. Sie standen in einem kleinen Vorraum, weiß und kahl, bis auf eine kleine Grafik, deren Sinn sich ihnen nicht erschloss.

„Hallo“, rief Frank Schneider, dann öffnete er die Flurtür. Vor ihnen erstreckte sich eine riesige Wohnfläche. Selbst im Präsidium hatten sie keinen Besprechungsraum in dieser Größe. In der Mitte stand ein großer Flügel, und zwar so, dass man beim Spielen in den Garten schauen konnte, durch eine Glasfront, welche den Wohnraum von der Terrasse trennte. Rechter Hand war eine kleine Kochnische, und als Schneider sich umdrehte, konnte er in die obere Etage blicken, die sich hinter einer Balustrade um den großen Raum zog. Bei den Umbauarbeiten war offensichtlich nur die Fassade stehen geblieben.

„Junge, Junge. Das ist echtes Understatement“, sagte Ota Kregel und ging vorsichtig zum Flügel, wobei sie sich ihre Gummihandschuhe überstreifte.

Interessiert schaute sie auf die aufgeschlagenen Noten, da sie diese aber nicht lesen konnte, blickte sie auf den Umschlag:

„Leosch Janahdscheck“, buchstabierte sie mühsam.

„Leoš Janáček, kein leichter Stoff.“

Scheider war inzwischen zur Küche gegangen und öffnete den Kühlschrank. Er war leer bis auf eine Schachtel Schokoladenkekse. Ebenso leer waren die Spülmaschine, der Mülleimer, der Gefrierschrank und ein Flaschenkorb. Keine Gewürze, kein Mehl, kein Zucker, nicht einmal eine Tütensuppe oder eine Packung Salzstangen konnte Schneider entdecken. In der nächsten Stunde durchsuchten sie das gesamte Haus. Sie öffneten Schränke ohne Inhalt, blickten unter leere Regale, suchten hinter Vorhängen, unter Teppichen, in Spülkästen und unter Matratzen, sie untersuchten die Terrasse, die Rollläden und den Sonnenschirm und fanden nichts. Fast schien es so, als ob hier nie ein Mensch gelebt hatte.