Kitabı oku: «Januargier», sayfa 6
Kapitel 12
Die Wintersonne schien in feinen Streifen durch die leicht aufgezogenen Lamellen der grauen Jalousie, die das Büro von Doktor Manfred Rixinger abdunkelte. Im schräg einfallenden warmen Sonnenlicht schienen Staubkörner einen wilden Freudentanz aufzuführen. Herma hatte das Gefühl, dass die Zeichen auf Frühling standen. Sie freute sich auf immer länger werdende helle Tage, wollte die dunkle Jahreszeit hinter sich lassen.
Überall schossen Schneeglöckchen und Krokusse mit Macht aus der Erde, und die ersten Störche kehrten schon aus Afrika zurück. Dabei war es noch Januar – ein ungewöhnlich milder allerdings. Die Natur spielte verrückt. Als Herma am Morgen ihr kleines Haus am Deich verlassen hatte, um nach Oldenburg zu fahren, war ein Schwarm Kraniche in Keilformation über sie hinweggeflogen. Das laute Trompeten der großen grauen Vögel hatte sie verwundert aufhorchen lassen. Van Dyck konnte sich nicht daran erinnern, dass sie dieses Schauspiel schon jemals zuvor zu einem so frühen Zeitpunkt erlebt hatte. Dabei hatte sie ihre ganze Kindheit und Jugend an diesem Ort am Wattenmeer verbracht. Das kleine Fleckchen Erde vermittelte ihr noch heute ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit.
Mit ihrem schwarzen Škoda Yeti war die krankgeschriebene Mordermittlerin nach Oldenburg gefahren, wo sie einen Termin beim RMD hatte. Die drei Buchstaben standen für Regionalmedizinische Dienste. Der Medizinische Dienst der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen mit Sitz in der Landeshauptstadt Hannover war für alle 500 Polizeidienststellen im Land zuständig – es gab Standorte in Hannover, Göttingen, Braunschweig, Lüneburg, Osnabrück und in Oldenburg. Die jeweiligen medizinischen Einrichtungen waren modern ausgestattet. Speziell geschultes medizinisches Personal, darunter 16 Polizeiärzte und ein Psychologe, kümmerten sich um 23000 Beamte und Angestellte. Einer von ihnen war der Psychiater und Psychologe Doktor Manfred Rixinger. Der Medizinische Dienst verstand sich als Servicepartner der Polizei. Die Ärzte führten nicht nur Sehtests durch. Sie entschieden letztlich darüber, ob ein Bewerber polizeidiensttauglich oder ein Polizeibeamter wieder dienstfähig war.
Herma van Dyck hatte panische Angst davor, aufgrund der Kopfverletzungen, die ihr im Dienst von einem Serienmörder zugefügt worden waren, ausgemustert zu werden. Dass sie seitdem unter Migräne litt, verschwieg sie deshalb. Während sie auf Rixinger wartete, dachte die Kriminalistin an das Beamtenstatusgesetz. In Paragraf 26 ging es um Dienstunfähigkeit. Wie oft hatte Herma sich die Sätze, die im sperrigen Juristendeutsch verfasst worden waren, durchgelesen, wie oft hatte sie nachts wach gelegen und über deren Bedeutung nachgedacht. Besonders ein Absatz ließ sie nicht mehr ruhig schlafen. Die Worte machten sie kirre. „Zur Vermeidung der Versetzung in den Ruhestand kann der Beamtin oder dem Beamten unter Beibehaltung des übertragenen Amtes ohne Zustimmung auch eine geringerwertige Tätigkeit im Bereich desselben Dienstherrn übertragen werden, wenn eine anderweitige Verwendung nicht möglich ist und die Wahrnehmung der neuen Aufgabe unter Berücksichtigung der bisherigen Tätigkeit zumutbar ist.“ Was für ein Scheiß, dachte Herma van Dyck. Sie wollte Mordermittlerin bleiben, Schwerverbrechern das Handwerk legen und nicht an irgendeiner Straßenecke den Verkehr regeln.
Hinter ihr knarrte es. Die Tür ging auf. Rixinger betrat den Raum. Herma erhob sich blitzschnell aus dem Stuhl, ihr Herz pochte, so als habe der Seelenklempner sie bei etwas Verbotenem erwischt. Der hagere Polizeiarzt ging mit ausgestreckter Hand auf Herma van Dyck zu. „Hallöchen, na, wie geht’s uns denn heute?“, fragte der Mann mit der schiefen Pinocchio-Nase, griff blitzschnell nach der Hand seiner Patientin und drückte sie kräftig. Was für ein Blödmann, dachte Herma, quälte sich aber ein Lächeln heraus. „Danke, gut.“ Herma konnte Leute nicht leiden, die „uns“ sagten, wenn sie ihr Gegenüber meinten. Sie hatte schon einen flotten Spruch auf den Lippen, behielt ihn aber lieber für sich. Sie wusste, dass dieser Pinocchio Macht über sie hatte. Von diesem Mann hing es ab, ob die Kriminalhauptkommissarin schon bald wieder auf Mörderjagd gehen durfte – oder nicht. Also beschloss sie, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Rixinger schaute ihr sekundenlang in die Augen. Er hatte von Berufs wegen eine gute Beobachtungsgabe, wusste, dass die Augen der Spiegel der Seele waren. In ihnen konnte er lesen wie in einem Buch. Herma fühlte sich bei dieser Musterung unwohl, sie wechselte nervös von einem Fuß auf den anderen und brachte nur ein „Tja ...“ heraus. Wie ein Schulkind, das beim Abschreiben ertappt worden war, senkte van Dyck ihren Kopf und nahm wieder auf dem Stuhl Platz, der vor dem Schreibtisch des Psychologen stand. Mit ihren Händen umklammerte sie krampfhaft die Armlehnen, wodurch ihre Knöchel weiß hervortraten. Rixinger schwieg. Dem Polizeipsychologen war nicht entgangen, dass sich die Kommissarin nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
„Frau van Dyck, wie fühlen Sie sich?“, nahm der Psychologe den Gesprächsfaden auf.
„Gut, das sagte ich ja bereits“, blaffte Herma den Mann vom Medizinischen Dienst an. Die Ermittlerin lehnte sich zurück, presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne, die verdächtig knackte, und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Doktor Rixinger wertete das als Zeichen dafür, dass seine Patientin auf Distanz ging und vermutlich nicht ehrlich zu ihm sein würde. Er war gewarnt. Rixinger blätterte in seinen Notizen, raschelte mit den Papieren, die er vor sich ausgebreitet hatte.
„Hm ... Über Ihre Kindheit, Ihre verstorbenen Eltern, Ihre Laufbahn bei der Polizei und das, was Ihnen in Hameln zugestoßen ist, haben wir ja schon beim letzten Mal ausführlich gesprochen. Ähm ... Erzählen Sie mir doch bitte, wie es Ihnen in den vergangenen beiden Wochen so ergangen ist ... Was haben Sie so den lieben langen Tag gemacht? Wie gut haben Sie nachts geschlafen? Hatten Sie Albträume?“ Ein verächtliches Lächeln huschte über Hermas Gesicht. Rixinger verärgerte das. „Amüsiert Sie etwas, Frau van Dyck? Falls ja, verraten Sie mir doch bitte, welche meiner Fragen Sie gerade so erheitert hat ... Vielleicht können wir dann ja gemeinsam darüber lachen.“
Herma schniefte mit der Nase, hob abwehrend die Hände. „Ich habe mich nicht über Sie oder Ihre Fragen lustig gemacht, Herr Doktor Rixinger. Entschuldigen Sie bitte ... Glauben Sie mir, für mich ist das hier alles andere als witzig. Ich fand nur, dass Sie mir ganz schön viele Fragen auf einmal gestellt haben. Das ist schon
alles.“
Der Arzt und Diplom-Psychologe starrte Herma durch seine Nickelbrille an. Sein Blick war streng. Offenbar fühlte er sich nicht ernst genommen. „Und? Fühlen Sie sich in der Lage, meine Fragen zu beantworten?“
Herma beugte sich nach vorn. „Na klar doch ...“, sagte sie herausfordernd und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Sie wollte diesen für sie unangenehmen Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Wie es mir geht? Sie wollen wissen, wie ich mich fühle, ja? Okay. Beschissen ist geprahlt. Ich habe Angst, meinen Job beim FK1 zu verlieren. Ich fühle mich Ihnen ausgeliefert, weil ich nicht weiß, was Sie von mir erwarten, Herr Rixinger. Pardon, Herr Doktor Rixinger. So sieht’s aus.“
Der Polizeipsychologe nahm seine Brille ab, hielt sie in seiner rechten Hand und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand seine Nasenwurzel. Er atmete hörbar aus. „Ich schätze Ihre Ehrlichkeit, Frau Hauptkommissarin.“
Herma unterbrach ihn. „Woher wollen Sie wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe?“
Rixinger setzte wieder seine John-Lennon-Nickelbrille auf und musterte Herma von oben bis unten.
„Ich will es Ihnen verraten – aber nur, weil Sie es sind.“ Doktor Rixinger zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Wissen Sie, als Polizeipsychologe muss ich Körpersprache, Mimik und Mikrogestik beobachten und auswerten können. Schon Cicero hat gesagt: ,Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.‘ Und was soll ich sagen? Es stimmt. Wer Lügen erkennen will, braucht eine gute Beobachtungsgabe und gute Ohren, denn an optischen und akustischen Signalen, die mein Gegenüber unbewusst aussendet, kann ich vieles erkennen. Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen erläutern: Wenn wir lügen, wird unsere Stimmlage höher, reißen wir in bestimmten Situationen unsere Augen weit auf. Oder wir fuchteln mit unseren Händen wie wild in der Gegend herum. Wer zappelig ist – so wie Sie es vorhin waren – und weder still stehen noch sitzen kann, gibt sehr viel von sich preis – ohne es zu wollen und zu merken.“ Nach einer kurzen Sprechpause setzte er seinen Monolog fort: „Worte lassen sich leicht verbiegen, um die Wahrheit zum eigenen Vorteil zu verdrehen. Es ist aber beinahe unmöglich, das Gesagte auch mit den Augen wiederzugeben. Ihnen ist das auch nicht gelungen, als Sie mir gesagt haben, es gehe Ihnen gut. Das war geflunkert. Geben Sie es zu ...“
Herma van Dyck saß in leicht gebückter Haltung und mit geöffnetem Mund vor Rixinger und hörte ihm zu. Sie fühlte sich ertappt und gab die Empörte. „Ach, lassen Sie mich doch mit Ihrem albernen Cicero zufrieden. Wollen Sie mich etwa mit einem blöden Römer-Zitat beeindrucken?“ Herma war wütend. „Sie bezichtigten mich der Lüge. Das ist nicht in Ordnung – das ist einfach nicht fair. Wenn Sie jemand fragt, wie es Ihnen geht, sagen Sie doch auch: ,Gut‘ – oder etwa nicht? Das ist wie ein Reflex.“ Die Kommissarin senkte ihren Kopf, sie wollte nicht, dass Rixinger ihre feuchten Augen sah. „Okay ... Sie glauben mir nicht, dass ich fit bin für den Dienst“, sagte sie schulterzuckend. „Was soll ich jetzt tun, um Sie vom Gegenteil zu überzeugen? Purzelbäume schlagen, oder was?“, sagte sie.
Der Psychologe schluckte glucksend Speichel herunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. „Ich habe das Gefühl, dass sie mich als Ihren Feind ansehen. Das bin ich aber nicht. Ich stehe auf Ihrer Seite. Ich bin ein Freund. Meine Aufgabe ist es, festzustellen, ob Sie den auf Sie verübten Anschlag einigermaßen gut überstanden haben – physisch und insbesondere psychisch. Nicht mehr und nicht weniger. Denken Sie an Ihre Kollegen. Wenn Sie noch nicht so weit sind, ich Ihnen aber trotzdem Diensttauglichkeit attestiere, hat niemand etwas davon. In einer Extremsituation könnten Sie versagen. Das könnte Sie und Ihre Kollegen in ernste Gefahr bringen. Verstehen Sie das?“
„Ja, natürlich“, flüsterte Herma kleinlaut. Die psychologisch geschulte Vernehmungsspezialistin wechselte ihre Taktik. Sie hatte sich entschieden, an Rixingers Mitgefühl zu appellieren. „Aber es ist so: Ich möchte wieder beim Mord und Totschlag arbeiten – und ich fühle mich fit dafür.“
Der Polizeipsychologe schaute durch seine kreisrunden Brillengläser. Sein Blick war streng. „Sie haben wirklich keine Schmerzen mehr? Ihnen wird nicht plötzlich schwindelig? Sie wachen nicht nachts schweißgebadet auf, weil Sie das Gesicht des Täters gesehen haben?“
„Nein“, schrie Herma van Dyck. „Ich habe nur Angst vor Ihnen ...“ Doktor Manfred Rixinger holte tief Luft. Er fasste sich mit der flachen Hand an die Brust. „Vor mir?“, fragte er ungläubig. Seine Geste sah gespielt aus. Er neigte seinen Kopf zur Seite, was Herma als Sprechaufforderung deutete.
„Ja, genauer gesagt: Ich habe Angst vor den Sätzen, die in Ihrem Gutachten stehen werden. Für mich hängt sehr viel davon ab. Das können Sie mir glauben. Dieser Beruf ist für mich Berufung. Wenn ich ihn nicht mehr ausüben darf, hat mich dieser beschissene Mörder
de facto auf dem Gewissen. Sie fällen sozusagen ein Urteil.“ Ihre Worte klangen flehentlich, sie hatten aber auch etwas Kämpferisches.
Der Psychologe rieb sich das Kinn. „Na, na, na ... Wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen. Ich fälle keine Urteile, ich stelle Diagnosen. Ich muss gestehen ... Ihre direkte Art ist entwaffnend. Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine Mordermittlerin in Angst und Schrecken versetzen kann.“ Er lächelte. „Ja, es ist so ... Ich sehe Angst in Ihren Augen. Aber Sie haben nachvollziehbar dargelegt, was Sie quält.“ Der Polizeipsychologe musste niesen. Er fischte ein Papiertaschentuch aus einer Schublade und schnäuzte sich. „Diese verdammten Pollen. Ich bin Allergiker“, sagte er. Er klang verschnupft. Herma saß wie versteinert auf dem Patientenstuhl und dachte nach. „Nun, machen Sie sich mal keine allzu großen Sorgen.“ Wieder zwinkerte Rixinger Herma van Dyck zu. „Ich rate Ihnen als Mensch und als Ihr Arzt und Psychologe: Muten Sie sich nicht zu früh zu viel zu. Sie tun sich damit keinen Gefallen. Der Anschlag auf Sie ist erst ein paar Wochen her. Die Wunden an Ihrer Seele sind längst noch nicht verheilt. Ob Sie es nun glauben oder nicht. Auch wenn sich das jetzt für Sie nicht so anfühlt: Ich meine es wirklich gut mit Ihnen.“ Herma zog die Augenbrauen hoch. „Und was heißt das jetzt?“, wollte sie wissen. „Das heißt, dass wir für heute fertig sind und ich mir Gedanken über Ihre Polizeidiensttauglichkeit machen werde.“ Das Arzt-Patienten-Gespräch war beendet. Herma stand auf, reichte Rixinger ihre rechte Hand, drückte entschlossen zu und sah ihm dabei direkt in die Augen, die leicht zuckten. In einer Frauenzeitschrift hatte Herma gelesen, dass ein kurzer fester Händedruck ausschlaggebend darüber sein konnte, ob wir unser Gegenüber mögen oder nicht. Sie wollte, dass Doktor Rixinger sie sympathisch fand. „Wow, was für ein imposanter Händedruck. Das zeugt von Entschlossenheit und Willensstärke“, sagte der Psychologe. Herma freute sich – sie hatte dem Doc zum Abschluss ein perfektes, positives nonverbales Signal gesandt, das ihr – so hoffte sie zumindest – Sympathiehöchstwerte einbrachte. Psychologen konnte man mit so einem Psychoscheiß beeindrucken, dachte sie. Bei Pinocchio hatte es jedenfalls funktioniert. Herma van Dyck hatte ein Lächeln auf den Lippen, als sie den RMD West verließ, um in ihrem Yeti die Heimreise anzutreten. Rixinger hatte ihr Hoffnung gemacht.
Kapitel 13
Als Doktor Karl Mertens in den Sektionssaal zurückkehrte, hatte er ein triumphierendes Grinsen im Gesicht. Er hatte eben den Leiter des für Delikte gegen das Leben zuständigen 1. Fachkommissariats des Zentralen Kriminaldienstes in Hameln innerhalb weniger Minuten am Telefon glaubhaft machen können, dass der Fall Nadja Stern viel intensiver untersucht werden muss als sonst üblich. Der stellvertretende Chef des Instituts für Rechtsmedizin in Hannover hatte damit gerechnet, bei Kurt Brenner mehr Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Der Erste Kriminalhauptkommissar war ein vernünftiger Mann. Er neigte nicht dazu, überstürzte Entscheidungen zu fällen, wollte für gewöhnlich überzeugt werden. Diesmal hatte Brenner seine Meinung sofort geteilt. Mit wehendem Kittel eilte Mertens auf Assistenzarzt Martin und Präparator Schmidt zu. Schon aus der Ferne erkannte Doktor Martin, dass der Chef seinen Willen bekommen hatte. „Na, sieh mal einer an ...“, nuschelte der Gerichtsmediziner und drehte sich zu Präparator Schmidt um. „Der Alte ist sichtbar aus dem Häuschen. Hat wohl sein Ziel erreicht.“
Schnellen Schrittes näherte sich Doktor Mertens dem Seziertisch, auf der immer noch die Leiche der Toten aus Hameln lag. In der rasierten Kopfschwarte klaffte ein zwei mal zwei Zentimeter großes Loch. Es sah aus wie ausgestanzt und ließ den Blick frei auf den weiß-grauen Schädelknochen. Rechtsmediziner Doktor Martin hatte das Gewebe, in dessen Mitte sich ein winziges Loch befand, fein säuberlich präpariert und in einem kleinen Kunststoff-Fläschchen mit Schraubverschluss abgelegt. „Ah, ich sehe, du warst schon fleißig, Klaus“, sagte Mertens und warf seinem Assistenten einen erfreuten Blick zu. „Also, wir dürfen jetzt mit der forensischen Laboruntersuchung weitermachen. Ich bringe die Probe gleich selbst nach oben in unser Labor. Ist der Proben-Behälter schon beschriftet?“ Mertens sah abwechselnd Martin und Schmidt an. „Ja, klar“, meldete sich Doktor Martin und lehnte sich an der Fensterbank an. Er war genervt, hatte das Gefühl, dass sein Chef seine Arbeit argwöhnisch überwachte. „Na, das versteht sich doch von selbst, oder?“, antwortete der Rechtsmediziner. Doktor Mertens überhörte den Unterton seines Kollegen. „Fein, fein.“ Er streckte seinen rechten Arm aus, bewegte seine Finger und sagte fordernd: „Dann mal her mit der Probe.“ Martin stieß sich von der Fensterbank ab, ging zwei Schritte auf seinen Chef zu und stellte das Fläschchen wortlos auf seiner Handfläche ab. Mertens schloss seine Hand und ließ die Flasche mit der Gewebeprobe in seiner Kitteltasche verschwinden.
Der Anwalt der Toten machte auf dem Absatz kehrt und steuerte das Labor des Rechtsmedizinischen Instituts an. Noch im Weggehen drehte er sich zu Martin und Schmidt um. „Ach ja ... Herr Schmidt, die Leiche kann dann weg. Ähm ... Also, ich meine, sie kann wieder ins Kühlfach geschoben werden. In der Causa Freigabe der Leiche zur Bestattung nehme ich dann nachher selbst Kontakt mit der Staatsanwaltschaft auf. Wir haben ja jetzt alle Proben zusammen, oder?“ Doc Mertens blieb stehen und zählte an den Fingern seiner Hände ab: „Blut, Hirnkammerwasser, Urin, Mageninhalt, Gallenflüssigkeit, Gewebe ... Habe ich etwas vergessen?“ Martin und Schmidt schüttelten unisono den Kopf. „Gut, ich bin kurz im Labor. Ihr könntet schon mal die nächste Leiche auf den Tisch legen. Es gibt noch viel zu tun ... Wie heißt es so schön: Packen wir’s an.“
Mertens riss die Tür auf und verschwand.
Er nahm den Fahrstuhl. Bis zum institutseigenen Labor waren es dann nur noch wenige Schritte. Vor einer Aluminiumtür mit Milchglas-Einsatz blieb Mertens stehen. Auf der Scheibe stand in schwarzen Buchstaben „Forensische Toxikologie – Dr. Stefan Dehlius“. Der stellvertretende Institutsleiter drückte auf den Klingelknopf. Die Abteilung, die von Dehlius geleitet wurde, hatte die Aufgabe, Arzneimittel, Drogen und andere Giftstoffe in Körperflüssigkeiten, Gewebeproben und an Spurenträgern, die von der Kripo eingeschickt wurden, nachzuweisen. Das Labor verfügte auch über Hightech. Mit einem Massenspektrometer konnten die Laborärzte Verbindungen, die nur in Form von geladenen Molekülen vorlagen, qualitativ und quantitativ messen und bestimmen. Auf diese Weise waren die Spezialisten in der Lage, sowohl Rückschlüsse auf die Strukturformel als auch auf die Häufigkeit der einzelnen Analyt-Ionen zu ziehen. Es dauerte keine zehn Sekunden, da stand Doktor Dehlius in der geöffneten Tür. „Hallo, Karl ... Was verschafft mir die Ehre?“, wollte der sportlich wirkende Toxikologe mit dem kantigen Gesicht und den blonden Locken wissen. Bevor Mertens etwas erwidern konnte, schob der Toxikologe hinterher: „Kommt ja nicht alle Tage vor, dass du uns besuchst ...“ Karl Mertens fischte das Proben-Fläschchen aus seiner Kitteltasche. „Moin, Stefan, wie geht’s denn so?“, fragte Mertens und hielt die Gewebeprobe hoch. „Ich brauche von euch ganz schnell eine Analyse von dieser Probe. Ich habe da eine relativ junge Frau auf dem Tisch, der möglicherweise eine Substanz injiziert wurde. Subkutan in die Kopfhaut.“
Doktor Dehlius lächelte. „Und jetzt möchtest du von uns ein Screening, richtig?“ Mertens nickte. „Wie eilig ist es denn? Weißt du, wir ersticken gerade in Arbeit. Dir brauche ich es ja nicht zu sagen: Gestorben wird immer – und jeder möchte die Laborergebnisse sofort.“ Der Leitende Oberarzt presste seine Lippen aufeinander. „Na ja, so ist es auch in diesem Fall. Ist ’ne Eilsache. Die Ergebnisse bräuchte ich eigentlich schon gestern. Ich vermute, dass Nadja Stern, äh, so hieß die Frau, um die es geht, ermordet wurde. Um ein Haar hätten wir die Einstichstelle übersehen.“
Stefan Dehlius kratzte sich amüsiert an der rechten Schläfe. Mertens sah ihn fragend an. „Was ist denn jetzt so lustig daran?“ Der Laborarzt nahm ihm das Fläschchen aus der Hand, hielt es vor seine Augen und schaute auf das mit blasser Haut überzogene ausgefranste gelbe Fettgewebe.
„Nun, sagtest du nicht, diese Probe stamme vom Kopf der Toten? Da befinden sich für gewöhnlich sehr viele Haare. Kein Wunder also, dass du den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hast. So, nun komm erst mal rein ...“ Dehlius fasste seinen Kollegen an die Schulter, bugsierte ihn in einen hallenartigen Raum.
Mertens kannte natürlich das forensische Labor des Instituts. Häufig besuchte er allerdings nicht die Kollegen von der Toxikologie. Frauen und Männer in weißen Kitteln standen vor Geräten und Apparaturen. Einige trugen Mundschutz und Schutzbrillen. Eine attraktive Brünette, deren Name Mertens entfallen war, grüßte ihn freundlich. Sie saß vor einem Binokularmikroskop, hielt eine Pipette in der Hand und träufelte irgendeine Flüssigkeit auf einen gläsernen Objektträger. Mertens erinnerte sich nur noch daran, dass er im Herbst vergangenen Jahres mit der Laborantin im Stehen einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten getrunken hatte. Sie hatte ihn seinerzeit um einen Gefallen gebeten. Mertens erinnerte sich nicht mehr daran, um was es gegangen war. Er wusste aber noch sehr gut, dass er niemals zuvor einen schlechteren Cappuccino getrunken hatte. Das Gesicht der Frau, das einen eigenartigen Reiz auf ihn ausübte, war dem Rechtsmediziner allerdings im Gedächtnis geblieben.
Dehlius nahm Mertens mit in sein Büro und bot ihm mit einer einladenden Handbewegung einen Platz an.
„Magst du ein Glas Wasser, Karl? Vielleicht einen Kaffee oder ein Tässchen Tee?“
„Nein, danke. Ich habe es eilig. Es warten noch ein paar Leichen auf mich, denen ich ihr Geheimnis entlocken soll.“
„Hm ... Ja, natürlich. Verstehe ... Bei uns brummt’s auch. Dürfte dir aber bekannt sein. Ihr beschäftigt uns ja auch ganz gut.“ Dehlius lachte. „So, dann lass mal hören, Karl. Um was geht es konkret?“ Karl Mertens klärte den forensischen Toxikologen auf. Er schilderte ihm, was er und Doktor Martin herausgefunden und welche Gifte die Rechtsmediziner bereits anhand äußerer Merkmale ausgeschlossen hatten. Der Giftexperte hörte aufmerksam zu, nur dann und wann nickte er unmerklich. Als Mertens fertig war, schlug er zum Zeichen des Aufbruchs seine flachen Hände auf seine Oberschenkel und erhob sich von seinem Drehstuhl. „Gut, das scheint mir ein höchst interessanter Fall zu sein. Wir geben unser Bestes – wie immer. Heute Abend kannst du mit ersten Screening-Ergebnissen rechnen. Ich rufe dich an, sobald ich Näheres weiß. Wir machen auch eine Liquid-Chromatographie-Massenspektrometrie – die dauert freilich deutlich länger. Dehlius sah, dass Mertens seine Stirn in Falten gelegt hatte und es in dem Gerichtsmediziner arbeitete. „Du fragst dich jetzt: Warum, verdammt noch mal, dauert das nur so lange? Ich sehe es dir an der Nasenspitze an, mein Lieber.“ Mertens, der mit seinen Augen nachdenklich einen Locher fixiert hatte, der auf dem mit Akten beladenen Schreibtisch des Toxikologen stand, stemmte sich aus dem Besucherstuhl und schaute Dehlius in die Augen.
„Alles okay, Stefan. Ich weiß doch, dass ihr für die LC-MS-MS drei, vier Tage braucht, andererseits ist mir auch bekannt, dass ihr mit diesem Hightech-Verfahren in der Lage seid, Messungen innerhalb von Millisekunden zu machen“, antwortete Mertens und strich sich den Kittel glatt. „Ich bin leider ein ungeduldiger Mensch.“
Der Toxikologe rieb sich das rechte Ohrläppchen und holte tief Luft. „Ja, ja, Karl. Du bist für deine Ungeduld, aber auch für deine Perfektion bekannt. Aber mal im Ernst: Dieses hochmoderne Detektionsverfahren ist zwar leistungsstark, aber hexen kann der Computer bei der Spurenanalyse auch nicht. Ich will dir jetzt keinen Vortrag halten, nur so viel: Bei dieser Art von Spurenanalytik laufen mehrere Verfahren hintereinander ab. Und durch dieses Nacheinanderschalten von mehreren Massenspektrometer-Einheiten ergibt sich eine Kopplungsmöglichkeit. Wir sprechen von Tandem-MS oder auch MS/MS.“ Er winkte ab. „Musst du dir nicht merken. Dennoch sollst du wissen: Dieses Tandem wiederum ist an ein chromatographisches Trennsystem gekoppelt – bei uns im Institut ist das die Flüssigchromatographie. Und diese komplizierte, aber effektive Methode braucht halt ihre Zeit ...“
Mertens hatte bereits seine rechte Hand erhoben. „Mensch, Stefan. Das weiß ich doch alles. Ich kenne das Verfahren gut. Manchmal wünschte ich mir nur, dass ich die Ergebnisse schneller auf dem Tisch hätte – am liebsten sofort. Es geht ja auch darum, Mordermittlern rasch Hinweise und Erkenntnisse zu liefern, damit die einen Verbrecher, der da draußen rumläuft, fassen und überführen können. Da spielt der Faktor Zeit schon eine gewisse Rolle.“
„Das verstehe ich sehr gut.“ Dehlius zuckte mit den Schultern. „Aber wie schon gesagt: Zaubern können weder unsere Geräte noch meine Mitarbeiter. Du erwartest von uns schließlich eine exakte Identifizierung und Quantifizierung sowohl von reinen Substanzen als auch von Substanzgemischen. Das ist echte Detektivarbeit.“
Dehlius fasste Mertens an die Schulter und begleitete ihn zur Tür. „Euer Fall hat bei uns oberste Priorität. Du kannst dich darauf verlassen. Wir checken gleich mal auf alle gängigen Beruhigungs- und Betäubungsmittel, die allerneuesten psychoaktiven Substanzen und natürlich die üblichen Gifte. Wir können dann ja gleich auch auf Herzglykoside, also Digitoxin, Digoxin und Oleandrin, testen. Gaschromatographie auf Alkohol machen wir auch. Das volle Programm. Dann sehen wir weiter, okay?“
Mertens nickte. „Danke, Stefan. Äh ... Also, ich weiß das zu schätzen. Prio eins und so. Du hast einen gut bei mir.“ Der stellvertretende Institutsleiter drückte den Türgriff nach unten, verließ das Labor, drehte sich noch einmal um und schob seinen Kopf durch den Türspalt. „Eine Sache noch, Stefan. Geht bitte mit der Gewebeprobe sparsam um. Ich will ja den Teufel nicht an die Wand malen, aber: Vielleicht brauchen wir einen Teil davon noch für weitergehende Untersuchungen.“ Dehlius schwieg. Er hielt stattdessen den Daumen hoch.
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