Kitabı oku: «Unheilige Narren», sayfa 3
Durchbruch verspäteter Spätgotik
Girolamo Savonarola – Bußprediger, Bilderstürmer, Theokrat (1452–1498)
Er trat die Laufbahn eines Arztes an und plötzlich dem dominikanischen Kampfbund gegen Ketzer bei. Düstere Prophezeiungen gingen gespenstisch in Erfüllung, sogar der Blitzschlag in den Dom anno 1492. Aus der Hydra zumeist ziemlich windiger, verpönter Bußprediger, allen voran der haßvolle Bernhardino da Siena, wuchs in Savonarola ein Haupt nach, das mit noch lauterer Stimme von den üblichen Mahnungen und Drohungen kaum abwich: Um seine Donnerworte zu hören – Schwerter, die durch die Seele bohrten – drängten 16.000 Seelen in den Dom. Obwohl Konkurrenzpropheten wie Fra Mariano da Genazzano viel stilvoller und kunstreicher predigten als er, und obwohl Domenico da Ponzo noch viel frappantere Voraussagen losließ, erwies Savonarola sich als durchschlagender und magnetischer. Sein Ziel: der Kurie ihre frühere Macht zurückgeben. Wortgewaltig wetterte er gegen den Jahrmarkt der Vanagloria (Eitelkeit), Sinnlichkeit, Weltzugewandtheit, Putzsucht, Zinswucher, Hochzeitsprunk, Zuchtlosigkeit, Ausschweifung. Wissenschaft wurde von Fra Girolamo als schädlich eingestuft; Ragioni naturali (Vernunftgründe) standen dem Glauben unerfreulich im Weg. Klassische Lektüre lehnte er nicht in Bausch und Bogen ab, wollte sie aber auf Homer, Vergil, Cicero beschränkt sehen, unter Ausschluß von Ovid, Catull, Tibull, Terenz u. a. Den „Heiden Aristoteles“ zitierte er als Eidhelfer seiner Ansicht, man solle keine unpassenden Bilder dulden. Frauen empfahl er, ihre Kinder nicht von Ammen stillen zu lassen, um sie vor deren geringem Geist zu bewahren, der in der Muttermilch stecke (abergläubisch wie Dr. Rudolf Steiner, der Schwangere davor warnte, „Neger“ anzuschauen). Ständig kam er auf den Zorn Gottes zu sprechen, der offenbar in genau demselben Grad zu wecken war wie bei ihm selber. Den Prediger, also sich selbst, setzte er in der Hierarchie der Geister unmittelbar unter den untersten der Engel. Damit ihm aber seine Erfolge als Redner nicht zu Kopf stiegen, nahm er oft einen winzigen Totenkopf aus Elfenbein zur Hand und besah ihn sinnend. Als er auf dem Weg in eine Savonarolianische Theokratie im Herzog Ercole einen glühenden Traumverwirklicher seiner Ideen fand, bestärkte er ihn darin, Ferrara von schlechten Menschen zu reinigen. Er inaugurierte eine Kinderpolizei, die an Engelknaben erinnern sollte: Sie zerfiel in Friedensstifter, Mahner, Schnüffler, Petzer, Einsammler von sog. „Eitelkeiten“ und in Übermaler der Graffiti Andersdenkender. Sobald man den minderjährigen Kontrolleuren, Eintreibern, Beschlagnahmern nicht gehorchte, bekamen sie volljährige Verstärkung. Das Fegefeuer der Eitelkeiten, das anstelle des Karnevals stattfand, auf der Piazza della Signoria: Kunststickerei, Büsten und Gemälde schöner Florentinerinnen, Spieltische, Würfel, Karten, kostbare elfenbeinerne Schachfiguren, Trionfi, Liederbücher, Harfen, Lauten, Cembali, Dudelsäcke, Duftflaschen, Kunsthaar, Tricktracks, Schleier, Salbentöpfe, Spiegel, Puder, Kämme, Larven, Kunstbärte, Karnevalskostüme, Bücher, Pergamentdrucke von Boccacchio, Petrarca: alles bei Glockenklang auf baumförmigen Stufenpyramiden geschichtet (statt christliches Vorbild: Rogus, wo römische Imperatorenleichen verbrannt wurden), ging in Flammen auf. Priester erschienen olivenkranzgeschmückt, also ausgerechnet antik staffiert. (Spätere Parallele: USA-hassende Taliban, die gern Cola trinken.) Gotteslästerern wollte er die Zunge durchbohren, Spielsüchtige lebendig verbrennen. Eiskalt und knallhart forderte er für noch geringere Vergehen die Todesstrafe. Dienern und Sklavinnen, die ihre würfelnden und kartenspielenden Herren denunzierten, versprach er Freiheit und Lohn, was sich als undurchführbar erwies. Gleichwie es der Kirche nie gelungen war, überbordenden Karneval einzudämmen, gelang es Savonarola nicht, der Buhlerei und käuflichen Liebe Herr zu werden. Die in Florenz verbreitete Knabenliebe bekämpfte Savonarola als Sodomie. Die Diktatur der Guten gefiel nicht jedem: Florenz polarisierte sich in Arribiati (Wüteriche), die Unterschriftenlisten kreisen ließen und diese contra Savonarola in Rom einreichten, in Bigi (die Grauen), Tiepidi (Laue) und u. a. in Compagnacci (Kumpane), die seine Kanzel mit Unrat besudelten, so daß diese vor Benutzung erst abgehobelt werden mußte, seine Predigten mit stinkend geschwenkten Eselfellen (Vorform späterer Stinkbomben) und Knüttellärm auf Kästchen störten (wie später Adornos Studenten Vorlesungsboykott betrieben), und in Piagnoni und Frateschi, die gleichfalls Unterschriften sammelten, um seine einzigartige Frömmigkeit zu rühmen und zu bitten, ihn vor Exkommunikation zu bewahren. Hochfinanz, Stadtväter, Obrigkeiten, Zünfte zerrissen sich im aufgepeitschten Hexenkessel und Kompetenzgerangel die Mäuler über den Einpeitscher und Unruhestifter. Eine Einladung des Papstes, scheinbar überfreundlich, sagte er ab, aus gesundheitlichen Gründen, die ihn auch am Predigen hinderten; als er wieder zu predigen anhub, verbot der Papst ihm dies, offiziell aus Sorge um dessen Gesundheit. Er wiederum bezichtigte den Papst, durch die Todsünde der Simonie auf den Stuhl Petri gekommen zu sein und nicht an Gott zu glauben – starker Tobak. Der unerbittliche Ketzerjäger wurde dann selbst genauso unerbittlich als Ketzer widerrechtlich zum Tod verurteilt und auf derselben Piazza hingerichtet, auf der er die Bücher-usw.-Verbrennung inszeniert hatte.
In Savonarola focht späte Goldgrund-Gotik gegen die Farbenpracht der Renaissance – Florenz als Reich Gottes auf Erden, Enklave in allzu verweltlichter Gesamtlandschaft. Bloß elf Jahre später wuchs der unerbittlichen Hydra ein Haupt in Johannes Calvin nach. Geistesgeschichtlich stand Savonarola zwischen Mose, der den unausrottbaren Tanz ums Goldene Kalb zu unterbinden versuchte, und den Talibankämpfern, die das unislamische Goldene Kalb der afghanischen Buddhas von Bamiyan sprengten und gleich denen er für bedeckte Häupter und verhüllte Angesichter votierte und in Predigten vor Frauen sogar aufforderte, Ehrbarkeit bei schwarzverhüllten Türkinnen zu lernen; auch er trug eine tschadorfarbene Kutte. Nach 1989 nannte man Savonarola den „Ajatollah Chomeini der Renaissance“ und Chomeini den iranischen Savonarola. Im Rückblick erinnerte die Kindleinarmee, die er zu sich kommen ließ, eher an Kinderkreuzzug, Roßbuben, Hitlerjugend, Luftwaffenhelfer, FDJ, Rote Garde, Kindersoldaten in Sierra Leone, Liberia, Uganda, Burma. Alle obsessiven oder auch gemäßigten Persönlichkeiten, die man später inflationär als „charismatisch“ rühmte, nahmen Maß am Charisma Savonarolas. In jedem Hardliner und Fundamentalisten stand Savonarola erneut auf, kaum abgepuffert durch komplementär bzw. karmisch beigegebene Softies wie Filippo Neri. Als Abschreckungsbeispiel und Prototyp des Fanatikers blieben Savonarola und Calvin auf stets wieder verblüffende, allzu naheliegende Weise beklemmend hochaktuell, zwischen Morgenthau-Plan und Öko-Diktatur. Selbst noch in Karnevalsverboten bei Golfkriegen oder in Parolen wie „Schluß mit Lustig!“ von z. B. Peter Hahne blieb ein lendenlahm gezähmter Savonarola spürbar.
Worte von Savonarola: Betet für die Stadt und sorgt dafür, daß die Frauen von den Männern getrennt sind, wie wir es das letzte Mal gemacht haben. – Mütter führen ihre unverheirateten Töchter gleich Nymphen schamlos entblößt zur Kathedrale wie zur Schaustellung. – Ein altes Weib weiß mehr vom Glauben als Platon. Es wäre gut für den Glauben, wenn viele sonst nützlich scheinende Bücher vernichtet würden. – In der Urkirche waren die Kelche von Holz und die Prälaten von Gold, jetzt aber sind die Kelche von Gold und die Prälaten von Holz. – Ich bezeuge hiermit im Namen Gottes, daß dieser Alexander kein Papst ist und es auch nicht sein kann. – Macht ein Feuer, das ganz Italien ergreift!
Savonarola über sich selbst: Es ist mir nie in den Sinn gekommen, die Dichtkunst zu verdammen, sondern nur den Mißbrauch, den viele mit ihr treiben. –
Andere über Savonarola: – ein giftmischerisches Monstrum, geboren zum Verderben des Volkes. (Marsilio Ficino) – ein fratzenhaftes, phantastisches Ungeheuer (Goethe) – Er möchte gern verbieten, was sonst nicht zu beseitigen ist. Überhaupt war er nichts weniger als liberal; gegen gottlose Astrologen z. B. hält er denselben Scheiterhaufen in Bereitschaft, auf welchem er hernach selbst gestorben ist. Wie gewaltig muß die Seele gewesen sein, die bei diesem engen Geiste wohnte! (Jacob Burckhardt) – Der antike Mythos war ein Unterhaltungsstoff, ein allegorisches Spiel; durch seine dünnen Schleier hindurch sah man den wirklichen, den gotischen, nicht minder scharf. Als Savonarola auftrat, verschwand das antike Getändel sofort von der Oberfläche des florentinischen Lebens. (Oswald Spengler, 1916) – Er hatte die Gottlosigkeit seiner Zeitgenossen gut erkannt, die nur darüber uneinig waren, ob Gott schlafe oder gar nicht existiere (chi Te nega, chi dice che Tu sogni); er war kein praktischer, d. h. schlauer Politiker wie Luther, aber eine noch leidenschaftlichere Natur. (Fritz Mauthner, 1920)

Savonarola – hingerichtet am Tatort seiner Vanitas-Bekämpfung
Meilenfern von Winnetou – ein Taliban im Wilden Westen
Tenskwatawa – Prophet, Wiedergeborener, Eiferer (ca. 1771–1834)
Als Kind des Shawnee-Kriegers Puckeshinewa (Puckeshinwha) und der Methoataske, einer Creek, erblindete er auf einem Auge. Am Little Turtle War (1790–1795) in Ohio/Indiana zwischen Generalmajor Wayne und den hundert Häuptlingen der vereinigten Nordwestindianer nahmen auch sein Bruder Tecumseh (der zum Sprung sich duckende Berglöwe), der nachmals weltberühmte Kriegshäuptling, und seine drei Brüder im Vortrupp teil, die Drillinge Sauwauseekau, Kumskaka (auch Kumskaukau) und Lalawethika, wie er zunächst hieß (Loud Voice/Lärmmacher, weil er laut herumzuprahlen pflegte). Nach der militärischen Niederlage begann er wie viele Schicksalgenossen, verstärkt Feuerwasser zu konsumieren, sich zugleich vom Stammesschamanen Change of Feathers in Heilkunde und Sagenkreise einweihen zu lassen, bei dessen baldigem Tod er für ihn einsprang, dies sogar recht überzeugend, denn seine Austreibung krankmachender Geister fiel mit einer abebbenden Seuche ungefähr zeitgleich zusammen, also kausal, was einigen imponierte. 1796 wirkte Lalawethika in einer Lokalgruppe unter Tecumseh am Great-Miami mit, 1798 in neuem Siedlungsgebiet am White River in Zentralostindiana. Statt beim Maisanbau ordentlich mitzuhelfen, durchstreifte er unablässig die Gegend, brachte aber als miserabler Jäger nie erstaunliche Jagdbeute mit. Ein Traum teilte ihm mit, der Große Geist sei mit seiner Lebensweise nicht einverstanden, und schon ließ er – erwachend – tatsächlich vom Branntwein ab, bekam es hin, rührte keinen Fusel mehr an und forderte alle auf, es ihm gleichzutun. 1805 fiel er um, entweder in Trance oder ins Koma; man glaubte bereits, er fände nicht mehr zurück, und versammelte sich zu seiner Beerdigung. Da erwachte er im richtigen Augenblick (Hermokritos von Klazomenai, der genau an dieser Stelle nicht erwachte, wurde scheintot, d. h. lebendig, bestattet) und behauptete plötzlich, aus dem Geisterland zurückzukommen, also gestorben zu sein, die Türen von Vergangenheit und Zukunft offen stehend gesehen zu haben, jetzt wiedergeboren, also ab sofort Prophet, genau wie Neolin, der Prophet der Delaware, zu sein. Und Lalawethika nannte sich ab sofort Tenskwatawa (Offene Tür). In seine feurigen Ansprachen übernahm er halb instinktiv, halb absichtlich jene charismatypischen Gestikulationen von Shakermissionaren, die er in Greenville beobachtet hatte, ohne deren englische Predigten zu verstehen. Er predigte, produzierte große Gebärden, votierte mit weithin vernehmbarer Stimme für größeren Respekt vor Sippenältesten, sozusagen contra Werteverfall, brach mitten in der Ansprache in Tränen aus, überzeugte also sehr, riß mit, redete vom „Herrn des Lebens“. Oft zog er sich in die Wälder zurück, um Manitu zu Rate zu ziehen (wie Mose auf den Berg). Er schwärmte von besseren früheren Zeiten und Überlieferungen, die er zu rekonstruieren versprach. Er stellte auch die Rückkunft gefallener und gestorbener Freunde und Familienmitglieder in Aussicht. Sogar verschwundene Tiere würde man alsbald wiedersehen dürfen, sobald man seine Gesetze befolge. Als er merkte, wie sehr er als Redner in Bann schlagen konnte, brachte er immer gewagtere Inhalte, steigerte seine Polemik gegen die Bleichgesichter und ihre Lebensweise. Sein Ruf sprach sich herum; x benachbarte Stammesvertreter reisten an, um den einäugigen Eiferer und Propheten predigen zu hören. Er forderte auf, zur Erde zu beten, daß sie fruchtbringend sei, zum Fisch zu beten, daß er zahlreich sei, zu Feuer und Sonne zu beten; er führte Vergnügungstänze ein. Daß er sich in seinen Offenbarungen, die direkt aus der Geisterwelt kamen, in Widersprüche verwickelte, fiel kaum auf: Einerseits plädierte er als Urkommunist contra Besitzgier und pro Gütergemeinschaft, andererseits peilte er als Animist magische Unverwundbarkeit gegenüber den Gewehrkugeln der Weißen an. Er forderte den Zusammenschluß auch verfeindeter Stämme, als Panindianismus-Visionär, und bot zugleich abstruse Kosmogonie, worin die Shawnee primärer, günstiger, quasi arischer dastanden als andere Algokin (genau wie bei den Black Muslims). Einerseits dürfe man Franzosen, Briten und Spanier als Freunde behandeln, Amerikaner aber keineswegs, andererseits beschimpfte Gesetzgeber Tenskwatawa die Weißen summarisch als „große Schlange“ und forderte die Shawnee, also Angehörige der fünffach zersträhnten und zerstrittenen Algonkin-Sprachgruppe, auf, nicht mit ihnen zu verhandeln und übernommene Speisen und Hüte dem erstbesten Bleichgesicht, das man träfe, zurückzugeben. Er focht für Unabhängigkeit von den Weißen (wie Mahatma Gandhi), aber im Drohton von Altem Testament oder Koran. Jede Abweichung von seinen Gesetzen, rief er, beleidige den Großen Geist. Nun blieben weiße Händler tatsächlich weitgehend auf ihrem Schnaps und sonstiger Krämerware sitzen. Wer seine Lehren und Doktrin annahm, schmückte sich fortan mit Tenskwatawas Wampum-Gürtel. Dörfer, die sich ungegürtelt der Stimme des Großen Geistes entzögen, wie sie quer durch Tenswatawa tönte, würden vom Antlitz der Erde getilgt werden, donnerte es durch alle erreichbaren Landstriche. In seinem „Gesetz des Propheten“ votierte er gegen die indianische Polygamie (und gegen Mischehen), so als kopiere er nicht nur christliche Charisma-Pantominen, sondern auch unspendabel monogame Ermahnungen. Tecumseh fand, trotz offenen Ohrs für die Tiraden seines Bruders, diese Entwicklung denn doch bedenklich und übertrieben, sah die Wundersucht seines Bruders ohnedies viel nüchterner. Kaum lösten besonders eifrige Anhänger Tenskwatawas eine Hexenjagd gegen solche Stammesmitglieder aus, die nicht sogleich vollauf mitzogen, wurden erste Abweichler hingerichtet, woraufhin sich sofort die Weißen einmischten und sozusagen auf Einhaltung der Menschenrechte drangen (auf der Basis derselben Doppelmoral, mit der 2005 f. Präsident George W. Bush China an internationale Rechtsverstöße zu erinnern sich erdreistete). Vom Gouvernment abgelistete Landabtretungen führten dem listigen Propheten weitere unzufriedene Leute zu. Bei den Kickapoo und den Potawatomi-Kriegern von West-Michigan, Illinois und Wisconsin rannte offene Türen ein. Buschtrommeln und Lauffeuer erreichten bald auch die Sauk, Winnebagoe, Menominee, den Ottwao, Chippewa, Assiniboin, Potawatomi. Weiterer Flächenbrand drohte. Tenskwatawa prophezeite einen apokalyptischen Weltbrand, aus dem einzig die Indianer gerettet werden würden. Im hereinbrechenden Dunkel würde der Meister des Lebens Tenskwatawa und seinen engsten Kreis mit Licht versorgen, nahe bei Greenville; folglich gab’s auch damals schon Zeugen Jehovas. Gleichwie die Shawnee-Religion immer ausuferndere Jahresringe warf, so zogen immer entferntere Pilgerströme immer engere Kreise um das Zentrum der Verkündigung, zur immer hysterischeren Beunruhigung weißhäutiger Bundesbeamter. In den letzten zwanzig Lebensjahren nach 1811, seit der unrühmlichen Schlacht von Tippecanoe, verlor Tenskwatawa schlagartig sein Ansehen als Religionsführer und hatte den Rest seiner Jahre als fehlbarer Wahrsager entthrohnt zu verbringen, entmachtet, entlarvt, durchschaut, unbeliebt.

Tenskwatawa – kein edler Wilder
Worte von Tenskwatawa: Der Große Geist hat mir ferner mitgeteilt: Jeder Indianer, der nicht die Finger vom Feuerwasser der Bleichgesichter läßt, wird nach seinem Tod mit Feuer gequält. – Alle Indianer, die sich diesen Regeln widersetzen, sind schlechte Leute und nicht wert zu leben. Sie müssen getötet werden.
Andere über Tenskwatawa: Warum soll der Große Geist einen solchen Scharlatan ausgewählt haben, so eine Botschaft seinen indianischen Kindern zu bringen!? (Gouverneur William H. Harrison in Vincennes 1806 brieflich an die Delaware) – Dieser Wabash Prophet ist nur ein vereinzelter Narr, wenn ein Dümmling zu sein nicht die größte aller Narrheiten ist. (Präsident Jefferson an seinen Amtsvorgänger John Adams, 1806)
Wandermönch unter Kronleuchtern
Grigori Jefimowitsch Rasputin – Bauerntölpel, Zarenberater, Einflüsterer (1865–1916)
Mit acht stürzte der sibirische Bauernsohn aus Pokrowskoje im Gouvernement Tobolsk – weit hinten am Ural – in den eiskalten Fluß Tura, samt Bruder, der hierbei starb; Grischa bekam im Fieberwahn von der Mutter Gottes den Befehl, weiterzuleben, und nannte im Delirium den Namen eines gesuchten Pferdediebs. Schon mit siebzehn wurde der arbeitsscheue Muschik (Bäuerlein), Viehhüter, Tunichtgut und Pferdeflüsterer wegen unsittlicher Übergriffe angezeigt, und plötzlich dann auch wegen Pferdediebstahls. Sein Lebenswandel (Rasputin hieß zufällig „Wüstling“, „liederlich“ – welch Omen!) wuchs mit inbrünstiger Religiosität um die Wette. Mal betete der Gottesdiener, den man Zuchthäuslersohn und Drecksbauer schalt, nächtelang durch, mal befand er sich, der als Jung-Ehemann inzwischen Kinder namens Dimitrij, Matrjona und Warwara gezeugt hatte, zehn Jahre auf Pilgerreise, auch auf die Männerinsel Athos. Klosterleben behagte ihm wenig, wegen der vielen dicken und faulen Mönche. In der Extremsekte der Chlysti versorgte er sich rauschhaft mit Ideen, Heiligkeit durchs Gegenteil von Askese zu steigern. Andachtskeller gingen in Schwitzhütten über. Beim berühmtesten Heiler Rußlands, dem Beichtvater des Zaren, Johann von Kronstadt, lernte der Nachwuchsheiler einiges dazu, in Sankt Petersburg. Bei Rückkünften in die Heimat irritierte er durch zielloses Singen und unerbetene Ausspendung abweichender Lehrmeinungen. Daß er sich Lesen und Schreiben im hohen Alter von 34 selber beibrachte, erzeugte hinterher Bewunderung; andere behaupteten, daß er beides kaum könne. Dorfpfarrer Pjotr Ostroumow verklagte ihn 1901 beim Bischof Antonij von Tobolsk wegen Sektengründung und Schmähung der wahren Kirche (Querbezug zu Emanuel Quint). Seine Tieraugen, unschön eng beieinander, hingen gierig an Zuhörerreaktionen, schossen hypernervös unkoordiniert hin und her und wollten sich kaum zum stechenden Glanzblick zusammentun. Solch windigen Gesellen durfte der Ehrentitel „Starez“ eigentlich nicht beigelegt werden; andererseits sahen zahlreiche Zare, Rabbis, Scheiche, Gurus, Doktoren, Direktoren, Muftis, Maulanas, Hodschas, Bonzen, Eminenzen, Exzellenzen immer wieder erfreulich unseriös, dubios und suspekt aus. Körperliche Ungepflegtheit fiel außerhalb des Zarenhofs nicht weiter auf. Als der bäuerliche Fremdkörper das Parkett betrat, kreischten die höheren Töchter und Hofdamen lautlos auf. Wer ihn nicht enttäuschend fand, fand ihn unheimlich, oder widerlich, teils reizvoll, teils eklig. Im Kontrast zu höfischer Politur und Etikette, der er sich textil einigermaßen anglich, wirkten Fettsträhnen und Bartgewuschel irreparabel deplaziert. Bei Tisch fraß er entsetzlich, Fleischbatzen manuell auseinanderreißend, bestecklos, schmatzend und brechreizauslösend wie die germanischen Kreuzfahrer 1096 am Hofe des edlen Sultan Saladin. Ins Bad ging er weniger aus Reinlichkeitsberdüfnis als um dort fremde Nacktheit zu ergattern. Aber daß vorausgesagte Krankheiten und Ehekonflikte eintrafen, ließ seinen Ruf imposant hochschnellen. Die Bluterkrankheit des Thronerben Alexej bekamen die Hofärzte nicht in den Griff, Rasputin aber sofort, rätselhaft, denn Bluter sind eigentlich keine psychosomatischen Patienten. Geld nahm der Placebo-Beter gern, ohne es für sich zu behalten. Viele spürten zwei Seelen in seiner Brust. Aber nicht etwa mutierte plötzlich ein Dr. Jekyll zum fiesen Mr. Hyde, sondern aus einem anfangs unsympathischen Häßling schien auf einmal ein sanfter, echter, geradezu weiser Mönch hervorzusehen. Heiliger Teufel und unteuflischer Heiliger kippten uneindeutig und verwirrend ineinander um, je nach Sichtweise, Erwartung und Moment. Biedere Hofleute dämonisierten ihn so lange, bis er ein Dämon zu sein schien, aber sobald Frauen, die libidinös oder numinos aufschauerten, wenn er sie fixierte oder ihnen was raunte, seine Reden hinterher wörtlich aufschrieben, standen dann auf dem Papier bloß kraftlose, austauschbare, undämonische Wörter. Schreiben, diesseits jeglicher Interpunktion, konnte erst recht nicht als seine Stärke gelten. Alle geistlichen Verlautbarungen bewegten sich bloß auf dem schablonesken Niveau minderbegabter Durchschnittsgurus. Trotzdem schmolz Frauenwelt in Gegenwart des struppigen Faszinosums oder Numinosums weiterhin seltsam dahin, als wär er als Schauspieler oder Klaviervirtuose ein Ausnahmetalent. In etlichen, vor allem männlichen Augen schmolz sein Charisma bei Begegnungen gern restlos hinweg oder blieb von vornherein glanzlos, sodaß für sie nur ein legasthenischer Bauerntölpel ungehobelt herumpolterte, sinnfern hofiert im Zentrum glitzernder Macht, umso peinlicher für diese. Übler Leumund wuchs mit seinem zwiespältigen Nimbus um die Wette. Wer nicht dankbar erregt den Saum von „Väterchen Grigoris“ Tulupa küßte, nannte ihn übelriechend, Hypnotiseur und „wahnsinnigen Mönch“. Antisemiten schimpften ihn „Judenfreund“, weil sein Sekretär Aron Simanowitsch hieß. Kirchenführer erkühnten sich, ihn „lasterhaftes Scheusal“ und „Ausgeburt der Hölle“ zu nennen und fanden sich unversehens abgeschoben in einsame Winkel des Riesenreiches wieder. Fürst Jussupow simulierte Krankheit, um Rasputin als Kurpfuscher zu entlarven, und spürte sich traumhaft gelähmt von phosphorisierendem Schlangenblick in hypnotischem Dämmerschlaf hinwegsinken. Falls er wirklich hellsichtig und heilkräftig war, brach in seinem pseudoschamanistischen Hokuspokus ein echter sibirischer, wenn nicht tungusomandschurischer Schamane durch. Tagsüber am Hofe trug er ärmlich Tuchkaftan und Bauernstiefel; nachts aber im Nachtleben mit Weib, Wein und Gesang luxuriös schönfarbiges Seidenhemd, Lackstiefel, Pelz.
Als er nicht mehr dreimal die Woche Audienz bekam, sondern nur noch herbeitelegraphiert wurde, wenn der Sohn blutete, verstärkten sich wieder dessen Blutungen. Der vierschrötige Erdenkloß und der dekadente Zarewitsch bildeten ein ungleiches Duo ohnegleichen, oder wie der althebräische Schafhirt Jaakob (bzw. grobkernige Richard Wagner bzw. Auguste Rodin) und die überzart erkrankte Königliche Hoheit Echnaton aus Joseph und seine Brüder (bzw. Ludwig II. bzw. der junge Rilke). Bei allem mittelalterlichen Habitus und aller Suada: Rasputin hing öfters am Telephonapparat, ein Bild wie Mozart zu Pferd und Kafka auf dem Motorrad. 1910 versuchten fünf Fremde, Rasputin via Automobil zu überfahren. Die Ochrana, der zaristische KGB, SS, Stasi, CIA, überwachte ihn. Sodann, als man im Laternenlicht auf ihn mit Pistole schoß, hechtete der „Kaiserliche Lampenputzer“ mit Tigersprung zur Laterne, löschte sie aus und warf sich dann im Dunkeln auf seine fünf Attentäter. Feinere Methode und vage Fama: Etliche Rasputin-Skandale löste angeblich nicht er, sondern ein bezahlter, eingeschleuster Doppelgänger aus. Mönch Iliodor aus Zarizyn, durch Rasputins Einfluß auf der Karriereleiter zurückgesetzt, entwickelte sich unter etlichen Skeptikern, Gegnern, Verleumdern zum Hauptfeind, der briefliche Indizien unlauter als Druckmittel entwendete und strategisch im richtigsten, falschesten Moment einsetzte. Die Hofdame Sophija Tjutschewa brachte in Umlauf, die Zarentöchter, die er mit indezenten Fragen löcherte, würden ihm im Nachthemd Audienzen gewähren. Chionija Berladskaja (die damalige Monica Lewinsky) behauptete, Rasputin habe sie im Eisenbahncoupet – nach gemeinsamem Gebet – geschlechtlich mißbraucht. Da die Bluterkrankheit als Staatsgeheimnis gehandhabt wurde, bekam man Erklärungsnot, wieso Rasputin überhaupt am Hof zu weilen pflegte. Die Ehe der Zarin, die den Mönch auch aus religiösen Gründen schätzte, und des Zars, der ihn nur aus medizinischen Gründen in Kauf nahm, litt an der ungleichmäßigen Einschätzung. Der Zar hielt, weil ihm Rasputins Gebete einigermaßen halfen, weiter die Hand über ihn und verbot sogar Zeitungen, die ihn diffamierten. Medienrummel nahm überhand und veranlaßte tatsächlich Palastverbot, oder auch zeitweilige Abschiebung auf eine Pilgerreise nach Jerusalem. Als Ärzte den Blutersohn aufgaben und dem abwesenden Rasputin telegraphiert wurde, setzte er eine Fernheilung in Gang, ein Bet-Ritual, bei dem er selber in Mitleidenschaft gezogen wurde, schwächelte, erbleichte, schwitzte, zusammensank (Querbezug zu x Magiern, wie Ulla von Bernus). Die Hofgunst schoß nochmal hoch; als er aber in politischen Dingen mitsprach und mitmischte, wurden neue Mordkomplotte gegen ihn ausgearbeitet. 1914, verblüffend zeitgleich mit dem Schuß in Sarajewo, traf ihn der Dolch einer verletzten Liebhaberin in den Bauch; eine achtstündige Not-OP erfolgte. Aus seinem Klinikaufenthalt ließ er zwanzig warnende Antikriegstelegramme auf den Zaren los. Seine Warnung, Russland werde im eigenen Blut ertrinken, verstimmte den Zaren zunehmend. Der Bock im Lammfell wurde zunehmend zum Sündenbock gemacht. Finstere Mächte, die man spürte, schob man dem schillernden Mönch in die Schuhe. Man behandelte den Warner als Kriegstreiber, gab ihm Mitschuld oder Schuld an den pausenlosen Hiobsbotschaften, verheerenden Verlusten, vier Millionen Verletzten, zwei Millionen Toten. Gerüchte wußten, er verrate Kriegsgeheimnisse an Deutsche. Durchsickernde Mordpläne veranlaßten Leibwächterverdopplung. Kurz vor Weihnachten sah der unverwüstliche, angebliche Wüstling, der besoffen mit leichten Mädchen auf Tischen tanzte, seine Ermordung deutlich voraus, nicht aber, ob Bauern oder Adlige das erledigen würden. Für beide Varianten gab er im Abschiedsbrief an den Zaren Langzeit-Prognosen: „Wenn mir etwas zustößt, wirst du deine Krone verlieren.“ Behauptungen, er hätte Zyankali in seinem Lieblingsgetränk Madeira problemlos überlebt, wurden von der Obduktion nicht bestätigt, drängten aber expansiv ins Zentrum späterer Gerüchte, Darstellungen, Biographien und Filme, so als sei er wenigstens momentweise ein unverwüstlicher Wundermann oder Übermensch gewesen.
Nach seinem Tod versank ganz Rußland schnell in „Rasputiza“, in schlammiger Wegelosigkeit. Daß er erfundene Giftanschläge wundersam überlebte, machte ihn berühmter als seine tatsächlichen Bewandtnisse und Taten. Obwohl die Faktenlage in Biographien einwanderte, hielt sich im Volksmund und Medien die Fama, er hätte als mächtigster Mann Russlands das Zarenpaar fest im Griff gehabt. Wär dies der Fall gewesen, hätte er den Ersten Weltkrieg und damit auch Hitler verhindert. Jede der Zarentöchter trug ein Amulett mit Rasputin-Photographie. Seine Dämonie, auf die die Nachwelt nicht verzichten wollte, wäre ohne den krassen Kulturkontrast und Kulturschock – die Relation zu Glitzerwelt und Machtwelt – stark auf Normalmaß geschrumpft. Mit seinem chlystischen Orgiasmus – sündige Triebe ausleben zwecks religiöser Reinigungseffekte – stand er in einer orgiastischen Tradition, die von den gnostischen Sophisten, Kainiten, Adamiten, Karpokratianern, Judas-Verehrern, Anhängern gefallener Engel und Quasi-Teufel über tibetanische Tantra-Mönche (Drugpa Künleg) und Radikalpietisten (die Buttlarsche Rotte) bis hin zu Otto Mühls AAO-Kommune in Wien reichte. Vom Zuschnitt wetteiferte der Unhold in der Mönchskutte mit kernigen Berserkern à la Alexis Sorbas, mit viel heiligem Zorn nach dem Muster des Dichterfürsten in Bauerngewandung Leo Tolstoi und urwüchsiger Wahrheit auf ihrer Seite. Der keiner Klosterdisziplin unterworfene Wunderdoktor und Hochstapler glich, statusmäßig, den verrückten Wolken Japans, wie Ikkyu oder Ryokan Daigu, oder dem persisch-arabischen Qalandar (Wanderscheich), der sich außerhalb halbwegs unorganisierten Sufitums im Tanz drehte, z. B. dem zwielichtig verlotterten Provokateur Schamsuddin al-Täbrisi, der sich im ehrbaren Maulana-Rumi-Clan als einflußreicher Fremdkörper aufspielte, statt nach Sibirien und Jerusalem nach Damaskus abgeschoben und schließlich ermordet ward, im 13. Jahrhundert im Iran. Späteres Vokabularium hielt für Rasputin Termini wie ambivalente Persönlichkeit, Sektierer, Herätiker, Autodidakt, Erotomane, Sexmaniak, Geistheiler und Suggestopäde bereit. Rasputins „Persönlichkeitsausstrahlung“ funktionierte spiegelbildlich umgekehrt wie Jiddu Krishnamurtis Charisma: Sowohl platonische Schönlinge wie feurig guckende Widerlinge vermochten Frauen kirre zu machen. Vom Archetypus her trampelte Rasputin zügellos als Elefant im Porzellanladen bzw. warf als Wüstensohn im Tempel Tische um, der ewige Barbar, Clochard und Neandertaler, der in die künstlichen Welten höherer Organisation und Zivilisationsstufe vierschrötig einbricht, wie Franziskus von Assisi bei der Audienz im Vatikan vom Papst als „Schwein“ empfunden wurde, oder siehe dann später die Aquarius-Hippies im Musical Hair, die auf den kostbaren Büffet-Tischen Table Dancing übten. Seit ca. 1935 hagelte es Kolportage und Softpornos mit Titeln à la Orgien am Zarenhof, Gott und Satan, Dämon der Frauen. In der Walt-Disney-Produktion Anastasia ward Rasputin seiner weiterführenden, in Zwielicht getauchten Doppelschlächtigkeit entkleidet und eine absolut übernatürlich böse Achse aus ihm gemacht, so grundböse und urböse wie Dschaffar im Aladdin & Osama bin Laden.
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