Kitabı oku: «Der Tod der Schlangenfrau», sayfa 2

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Der Page begrüßte Henrietta mit einer tiefen Verbeugung. »Mein Name ist Ndeschio Temba, guten Morgen, gnädige Frau.« Er sprach fast akzentfrei Deutsch.

»Henrietta Droydon-Jones. Enchantée!« Henrietta lächelte und streckte ihm die Hand zur Begrüßung hin.

Wenn das den jungen Afrikaner überraschte, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Gnädiges Fräulein …«

Auch Auguste reichte ihm die Hand. »Angenehm. Auguste Fuchs.«

»He! Edgar!«, brüllte Weinfurth in Richtung Paravent, »steck den hier fürs Erste in die Fächersklavenklamotten, ja?« Er dirigierte den Pagen unsanft in die improvisierte Umkleidekabine und wandte sich dann wieder den Damen zu. »Wie jesagt: Der sollte einspringen für der, wo jestern abgekratz…«, er korrigierte sich hastig, »… für den Neger, der wo jestern jestorben is. Der Kerl arbeitet drüben im Central-Hotel als Page, aber hält sisch anscheinend für wat Besseres.«

»Was Besseres als wer?«, fragte Auguste mit unschuldigem Augenaufschlag. Die Rolle der Naiven wollte allerdings nicht so recht zu ihrem souveränen Umgang mit Kameras, Stativen und hoch explosivem Blitzpulver passen. Trotz all seiner zur Schau getragenen Selbstsicherheit bemerkte Weinfurth den sarkastischen Unterton. »War nur so ’ne Redensart«, brummte er gereizt und rief nach Lina Kröschke, um sich auf Sultan, Pascha, Kalif oder Maharadscha schminken zu lassen; seine Kundschaft nahm es in diesen Dingen nicht so genau.

Ein gute halbe Stunde später steckten die Runtschen-Schwestern, tiefbraun geschminkt, in bunt bestickten Westen und gestreiften Pluderhosen, während Cornelius und Frans Morenga – Auguste hatte die beiden Darsteller kurzerhand nach ihren Namen gefragt – wie am Abend zuvor zwei »nubische Musikanten« gaben. Der dritte Afrikaner hatte mit Krummsäbel und Fez als wachhabender Eunuche zu fungieren. Er ging völlig in seiner Rolle auf und reagierte auf Augustes Frage nach seinem Namen wie die Bärenmützenträger vor dem Buckingham Palace: Er starrte stumm geradeaus und verzog keine Miene.

Schließlich trat Weinfurth mit »Taddah!« hinter dem Paravent hervor und begutachtete seine Verwandlung ausgiebig im Spiegel. Auch er trug Pluderhosen. Sein nackter, schwarz behaarter Oberkörper lugte aus einem verschlusslosen roten Mantel hervor, und seinen Kugelbauch zierte eine breite, leuchtend gelbe Schärpe. Auf dem Kopf trug er einen überdimensionalen, grün schillernden Turban mit goldener Zierspange. Während er sich – höchst zufrieden mit seinem Spiegelbild – zum Diwan hinüberbegab und sich dort behaglich ausstreckte, machte Auguste Notizen zu jedem einzelnen Detail seines Kostüms. Zwar waren der Fantasie der Lithografen keine Grenzen gesetzt, wenn sie die Aufnahmen später in Farbdrucke verwandelten, aber so hatten sie zumindest einen Anhaltspunkt für Weinfurths grellbunte Vision eines ägyptischen Frauengelasses. Während die beiden Bühnenarbeiter einen täuschend echt wirkenden Springbrunnen installierten, klingelte Henrietta zwei Etagen tiefer bei Hulda Preissing und bat sie, für die Pause ein paar kalten Platten, Tee und Limonade vorzubereiten.

Und Auguste fotografierte. Die Dekorationen und Kostüme wechselten, im Mittelpunkt stand jedoch stets Charlotte Paulus: mal als des Sultans Lieblingsfrau in wechselnden Gewändern aus Samt und goldglänzendem Brokat, mal Wasserpfeife rauchend auf den Diwan hingegossen in einem hauchzarten japanischen Kimono aus bemalter Seide, dessen Vorhandensein in einem ägyptischen Harem Henrietta mit einem indignierten Kopfschütteln quittierte. »Das glaubt einem doch endgültig kein Mensch!«

»Doch!«, Auguste grinste. »Ich glaube, je fremdländischer etwas daherkommt, desto begeisterter ist das Publikum. Aus dem Leben Gegriffenes haben sie schließlich genug zu Hause.«

Dem Kimono folgte ein Ensemble aus Pluderhosen und Perlen-Bustier, und Charlotte Paulus ließ sich zu Füßen des Sultans nieder, zu dessen Unterhaltung auf einer exotisch anmutenden, bauchigen Flöte spielend.

»Jambo nzuri ni kwamba huwezi kusikia muziki huu mbaya kwenye picha«, wisperte Ndeschio Temba, als sie dem Instrument versuchsweise ein paar Töne entlockte. Charlotte lächelte – zum ersten Mal an diesem Tag.

»Was hast du gesagt?«, fuhr Weinfurth Temba an.

Temba tat, als habe er die Frage nicht gehört.

»Er hat gesagt, es wär’ gut, dass man die Töne auf den Bildern nicht hört«, antwortete Charlotte Paulus an seiner Stelle. Sie lächelte noch immer.

»Aha«, grunzte Weinfurth. »Aber hier wird gefälligst Deutsch gesprochen, verstanden?«

Erstaunlich, dass sich einer, der dermaßen auf großer Impresario macht, von ein paar Worten, die er nicht versteht, dermaßen aus der Fassung bringen lässt, dachte Auguste, aber vielleicht rechnet er sich Chancen bei seiner Schlangenfrau aus und ist nur eifersüchtig auf den hübschen, jungen Afrikaner. Doch noch erstaunlicher erschien ihr die Tatsache, dass Charlotte Paulus die Übersetzung aus jener unbekannten Sprache so prompt von den Lippen gekommen war. Aber vielleicht hatte sie sich auch einfach nur irgendetwas ausgedacht. Andererseits …

Augustes Überlegungen wurden von Witwe Preissing unterbrochen, die mit einem voll beladenen Servierwagen ins Atelier platzte. »Schinken, Bouletten und Käsestullen!«, trompetete sie mitten in die Aufnahme hinein. Alle Köpfe flogen in Richtung Fahrstuhl. »Dazu Heringssalat, Gürkchen und Rote Bete! Und Soleier mit Mostrich gibt’s auch! Unser Dorchen hat sich mal wieder selbst übertroffen, also lassen Sie sich’s schmecken!«

Auguste fluchte leise. Das letzte Bild würde definitiv nicht zu gebrauchen sein. Andererseits war allen Beteiligten eine Pause zu gönnen, und ehe sie sich’s versah, waren sämtliche Sitzgelegenheiten des Ateliers mit herzhaft zulangenden Akteuren und Bühnenhelfern besetzt. Tante Hattie ließ es sich nicht nehmen, höchstpersönlich den Tee auszuschenken.

Auguste grinste. »Wenn das dein Butler wüsste …«

»Cedric?« Henrietta zog eine Grimasse und imitierte den nasalen Tonfall des Genannten, »But, Milady! I must insist on leaving this to me.«

Auguste konnte gut nachvollziehen, dass ihre Tante es genoss, jedes Jahr ein paar Wochen ohne Kammerzofe und Butler in Berlin zu verbringen. Sie hatte einen ausgeprägten Hang zur Bohème, dem sie in England – unter den Argusaugen ihrer angeheirateten Familie – nur selten frönen konnte. Im Atelier ihres Schwagers Julius hingegen war sie ganz in ihrem Element, nahm zwischen Weinfurths Angestellten Platz und langte bei Hulda Preissings Stullen kräftig zu. Die Afrikaner waren es ganz offensichtlich nicht gewöhnt, ihre Mahlzeiten gemeinsam mit ihren Arbeitgebern einzunehmen. Ndeschio Temba rührte denn auch keine der dargebotenen Köstlichkeiten an; er war nicht einmal dazu zu bewegen, eine Tasse Tee oder ein Glas Limonade zu trinken.

Eine zweite Kanne Tee wurde gebrüht, und Hulda Preissing musste mehrmals den Limonadenkrug auffüllen lassen, während sich die kalten Platten leerten.

»Och Liebelein«, tirilierte Weinfurth und machte, als sie mit einem weiteren Tablett voll Leckereien nach oben kam, eine beinahe höfische Verbeugung. »Isch bin zwar pickepacke satt, aber dat ein oder andere lecker Frikadellschen passt immer noch erein!«

Nachdem Auguste alle Beteiligten wieder in ihre Positionen gescheucht hatte, machten sich die vollen Mägen deutlich bemerkbar: Alles ging ein wenig langsamer vonstatten, und Juppi Weinfurth fiel – kaum hatte er sich auf dem Diwan niedergelassen – in Tiefschlaf. Auf diese Weise entging ihm der Aufruhr, den das Auftauchen eines weiteren Mitarbeiters verursachte. Zunächst erschien ein empörter Luis, der kategorisch erklärte, der Transport wilder Tiere gehöre eindeutig nicht zu den Aufgaben eines Liftboys. Kurz darauf kam ein Mann mit einem durchlöcherten Pappkarton unter dem Arm die Treppe heraufgehastet. »Mensch, Jungchen, stell dir nich so an!«, keuchte er. »Die tut keiner Seele wat zuleide!«

Der Karton in seinen Händen bewegte sich ohne sein Zutun, was zur Folge hatte, dass keiner es wagte, das Ding in Empfang zu nehmen. Als niemand sich rührte, warf Charlotte Paulus einen kurzen Seitenblick auf den schlafenden Weinfurth, seufzte ergeben und nahm die Lieferung an seiner Stelle in Empfang. »Danke, Emil. Ich denke, du kannst sie in ein, zwei Stunden wieder abholen.«

Auguste hatte den Flechtkorb, aus dem am Abend zuvor Samirahs Schlange emporgekrochen war, unter den Requisiten entdeckt und mit einiger Erleichterung festgestellt, dass er leer war. Jetzt schwante ihr Schreckliches. »Bitte, dürften wir vielleicht erfahren, was unseren Liftboy so aus der Fassung gebracht hat?«

»Nichts Schlimmes. Nur meine Bühnenpartnerin.« Charlotte Paulus nahm den Deckel der Pappschachtel behutsam ab, »Und keine Angst«, sie lächelte in die Runde, »die Gute frisst nur Mäuse und Kaninchen.«

Die Königspython schob den Kopf aus ihrem Gefängnis empor und inspizierte nervös züngelnd ihre neue Umgebung.

Lina Kröschke baute sich mit entschlossen vorgerecktem Kinn vor Auguste auf. »Entweder fünf Mark mehr oder ick bin weg«, fauchte sie, »mitsamt die Klamotten und die Schminke!«

»Na jaaa …«, Auguste zögerte, »eigentlich zahlt ja der Auftraggeber die Mitarbeiter …«

»’n Fünfer mehr, und zwar zack, zack!«

»Fräulein Kröschke, Sie haben vollkommen recht«, mischte sich Henrietta ein, »aber das Beherbergen wilder Tiere steht nicht in unserem Vertrag. Also wenn der Herr Sultan sein Mittagsschläfchen beendet hat, darf er gern für uns alle noch mal ein paar Mark drauflegen, oder?«

Wie aufs Stichwort gab Weinfurth eine Reihe schlaftrunkener Schmatzlaute von sich, öffnete die Augen und rappelte sich auf. »Geht’s weiter?«

»Ja, sofort«, versetzte Auguste. »Allerdings nur mit Gefahrenzulage für alle«, fügte sie nach einem Rippenstoß ihrer Tante hinzu.

Weinfurth ging widerwillig auf die Forderungen ein. Nachdem seine Mitwirkung als Sultan nicht weiter vonnöten war, ließ er sich von Lina Kröschke abschminken und verlangte anschließend – wieder in Zivilkleidung – nach einem bequemen Sessel, um bei den weiteren Aufnahmen Regie zu führen. Als Erstes galt es, eine dramatische Szenenfolge mit dem Titel »Das Geschenk der Rivalin« zu arrangieren.

Während die Runtschen-Schwestern – mit einer Laute und einem Tamburin in den Händen – auf zwei Samtkissen Platz nahmen, wurde Charlotte Paulus umgezogen. Als sie zurückkam, trug sie ein Flamencotuch aus besticktem Musselin um die Hüften und war bis zur Taille lediglich von ihren langen, rötlich braunen Haaren bedeckt. Ndeschio Temba trat – mit rotem Fez und gelbem Burnus farbenprächtig ausstaffiert – mit dem Schlangenkorb auf die drei Frauen zu. Er kniete nieder und wartete mit gesenktem Kopf, bis Weinfurth das Bild zu seiner Zufriedenheit arrangiert hatte. Auguste füllte das Blitzpulver ein und gab Temba das verabredete Zeichen. Der öffnete den Deckel, und die Python erhob sich langsam aus dem Korb. Die beiden Runtschen-Schwestern starrten wie hypnotisiert auf die Schlange – was ausnahmsweise zum Inhalt des Tableaus passte –, und Auguste betätigte Blitz und Auslöser. Als das Magnesium aufflammte, schrie Charlotte Paulus auf, und alle fuhren erschrocken zusammen.

»Liebe Leute, so wird das nichts!« Auguste rang in gespielter Verzweiflung die Hände. »Ihr müsst schon stillhalten, wenn ich …«

Bevor sie weitersprechen konnte, brach die Hölle los.

Hanna und Jenny Runtschen sprangen auf, ließen ihre Instrumente fallen und rannten schreiend ins Nebenzimmer, Weinfurth lief hinterher und brüllte irgendetwas Unverständliches, und die Bühnenarbeiter, die sich infolge Charlotte Paulus’ leichter Bekleidung als Zaungäste eingefunden hatten, machten Anstalten, das Haremstableau zu stürmen. Doch dann hielten sie erschrocken inne: Charlotte Paulus war mitten in der Bewegung erstarrt. Aus ihrem zarten, ohnehin blassen Gesicht war jede Farbe gewichen, und sie starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere. Sie griff an ihren Hals und bewegte ihre Lippen, als versuchte sie, etwas zu sagen. Dann sank sie wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hat, zu Boden.

»Nini kimetokea?« Ndeschio Temba sprang hinzu und richtete Charlottes Oberkörper auf, um ihr das Atmen zu erleichtern. »Mpendwa wangu, nini kilikutokea? Tafadhali, lazima upumue! Pumua! Pumua!«

Charlottes Augenlider flackerten, während sie verzweifelt nach Luft rang.

»Ich ruf einen Arzt!« Während Henrietta in Julius Fuchs’ Privatkontor hastete, riss Auguste eine der Samtportieren aus der Aufhängung und hüllte die halb nackte Charlotte Paulus darin ein. »Schnell! Sie braucht was zu trinken!«

Lina Kröschke rannte ins Nebenzimmer. Als sie mit einem Glas Wasser zurückkam, versuchte Ndeschio Temba, Charlotte ein paar Tropfen einzuflößen, doch sie stieß seine Hand beiseite und griff mit hektischen Bewegungen ins Leere. »Sie sind gekommen, mich zu holen«, brachte sie schließlich mühsam hervor. »Roho ya giza ya kifo! Yeye anakuja na ananichukua! Nenda mbali! Ich will nicht sterben!«

Temba stieß einen unterdrückten Klagelaut aus. » Hapana, hakuna roho mbaya! Na vizuka haziwezi kukuumiza! Nipo nawe! Je! Unasikia? Lazima upumue! Tafadhali kaa nami!«

Doch die schöne Schlangenfrau war bereits in einer anderen Welt; einer Welt, in der offenbar Entsetzliches vor sich ging. Sie stieß erstickte Schreie aus und schlug wild um sich, während Ndeschio Temba vergeblich versuchte, sie zu beruhigen.

Schließlich gab sie den Widerstand gegen ihre unsichtbaren Angreifer auf, und Temba wiegte sie in seinen Armen wie ein kleines Kind.

Nebenan warf Henrietta den Hörer auf die Gabel und stürmte zurück ins Atelier. »Doktor Goldstein ist unterwegs!«

»Du Dreckskerl!«, fauchte Lina Kröschke und zerrte Charlotte mithilfe eines der beiden Bühnenarbeiter aus Ndeschio Tembas Armen. »Lass gefälligst deine Pfoten von der Frau!«

Die ältere der beiden Runtschen-Schwestern faltete die Hände und wisperte ein Vaterunser.

Noch bevor der Arzt eintraf, war Charlotte Paulus tot.


KAPITEL 3


Die Sanitäter hatten die Leiche auf eine fahrbare Trage gelegt. Statt der roten Samtportiere hüllte jetzt ein weißes Leintuch Charlotte Paulus’ nackten Körper ein. Während der Arzt seine Instrumente zusammenpackte, murmelte er: »Mein herzliches Beileid«, unschlüssig, wen unter den Anwesenden er ansprechen sollte.

Lina Kröschke und ihr Kollege hatten Weinfurths Darstellerinnen und Darsteller inzwischen abgeschminkt und umgezogen. Einer nach dem anderen kam hinter dem Paravent oder aus dem Nebenraum zurück ins Atelier, doch keiner wagte es zu gehen, solange die Tote noch im Raum war. Ndeschio Temba kauerte, das Gesicht hinter den gekreuzten Armen verborgen, reglos am Boden, während die beiden Runtschen-Schwestern sich in den hintersten Winkel des Ateliers zurückgezogen hatten und mit vor Angst weit aufgerissenen Augen die Suche der Bühnenarbeiter nach der verschwundenen Schlange verfolgten. »Ich hab sie erwischt!«, verkündete einer von ihnen wenig später. Das Tier hing mit zerschmettertem Schädel schlaff über dem Feuerhaken in seiner Hand. Angewidert schleuderte er es Weinfurth vor die Füße. Der nahm den Verlust seiner Schlange ohne erkennbare Gemütsregung hin. »Selbst wenn sie zugebissen hätte«, murmelte er, »selbst wenn …«

Nachdem Auguste und Henrietta alle Anwesenden mit heißem Tee und einem kräftigen Schluck Weinbrand versorgt hatten, wurde es still im Atelier. Nur der übliche, gedämpft von der Friedrichstraße hinaufdringende Lärm war zu hören.

Schließlich räusperte sich der ältere der beiden Sanitäter vernehmlich und brach damit das Schweigen. »Na, denn … Adjee, die Herrschaften.« Er machte einen Diener, setzte seine Mütze wieder auf und wies seinen Kollegen an, die Bahre mit ihm zusammen zum Aufzug zu fahren.

»Langsam, langsam, meine Herren!« Dr. Goldstein hielt die beiden zurück. »Die Tote kommt bitte in die Hannoversche 6.«

Die Sanitäter warfen sich einen verunsicherten Blick zu. »In ’t Leichenkommissariat? Wieso ’n det?«

»Ich bin ja man nur ’n einfacher Medikaster«, Dr. Goldstein hob mit einem selbstironischen kleinen Lächeln die Hände, »und ’n Schlangenbiss kann’s ja wohl nicht gewesen sein, Herr …?«

»Weinfurth, Josef. Schausteller und Impresario«, antwortete Weinfurth mechanisch. Von seiner wichtigtuerischen Attitüde war so gut wie nichts mehr übrig geblieben. »Nee, wie jesagt, Herr Doktor: Selbst wenn se zujebissen hätte: Tut zwar weh, aber sonst wär’ da nichts passiert. Pythons sind keine Giftschlangen. Deshalb nimmt man se ja für Vorführungen und so weiter. Und außerdem würd isch doch niemals meine eijene Zugnummer …«

»Danke«, unterbrach ihn Goldstein. »Wenn es also kein Schlangenbiss war, was war es dann? Eine junge, offenbar gesunde Frau und ein tödlicher Herzanfall? Schwerlich vorstellbar. Außerdem: Bei einem Herzanfall gibt es meines Wissens keine Halluzinationen. Und die junge Frau hatte doch …«, angesichts der ratlosen Gesichter ringsumher stöhnte er leise auf und korrigierte sich hastig, »Sie hat doch irgendwas oder -wen gesehen, oder? Und wie die Fräuleins Runtschen mir erzählt haben, hatte sie offenbar Angst vor jemandem oder etwas. Obwohl da nichts war.« Dr. Goldsteins forschender Blick wanderte von einem zum anderen. Auguste und Henrietta nickten stumm, während die beiden Bühnenarbeiter mit den Achseln zuckten. »Kann sein.« – »Wat weeß denn unsereiner?«

Hanna Runtschen hatte den Arm beschützend um die Schultern ihrer kleinen Schwester gelegt. »Also, dass Charlotte irgendwie nich ganz da war …«, sie wischte demonstrativ mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, »… das war eindeutig. Als hätt’ se ’n Gespenst gesehen oder so was. Hat sogar mit dem gesprochen.«

»Halluzinationen.« Goldstein nickte. »Vermute ich zumindest. Und das könnte auf ’ne Vergiftung hindeuten. Und wenn’s die Schlange nicht war …«, er ließ den Rest des Satzes bewusst in der Luft hängen und musterte erneut jeden einzelnen der Anwesenden. »Hat die junge Frau hier irgendetwas zu sich genommen, womit man ihr eine tödliche Substanz verabreicht haben könnte?«

»Um Himmels willen, nein!« Auguste schnappte empört nach Luft: Das Szenario, das der Arzt da heraufbeschwor, war einfach ungeheuerlich! »Frau Preissing hat das Essen und sämtliche Getränke unten in der Pensionsküche von Dorchen – ich meine: von ihrer Kaltmamsell – zubereiten lassen und gleich anschließend im Fahrstuhl hier nach oben gebracht!« Luis nickte bestätigend. »Und wir haben alle zusammen das Gleiche gegessen und getrunken. Außerdem: Wer von uns hier sollte denn etwas gegen Fräulein Paulus …«

»Na, die hat auf alle Fälle Angst gehabt! Und sie hat was in Negersprache gesagt!« Lina Kröschke deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Ndeschio Temba. »Zu dem da!«

Der junge Afrikaner kauerte immer noch bewegungslos am Boden und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Interessant …« Dr. Goldsteins musterte Lina Kröschke mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und woher wollen Sie das wissen?«

»Was? Wieso? Hab’s doch selber gesehen und gehört!«

»Ich meine das mit der Negersprache.«

»Na jaaa«, Lina Kröschke schien unter Dr. Goldsteins forschendem Blick regelrecht zu schrumpfen. »Ich mein’ ja nur: Hörte sich irgendwie … komisch an. Jedenfalls hat der da …«, sie deutete erneut auf Ndeschio Temba, »… in genauso ’nem Kauderwelsch auf sie eingeredet.«

Temba reagierte nicht, so als habe er Lina Kröschkes Worte nicht gehört.

»Sehen Sie, ich kann mir auf das Ganze genauso wenig wie Sie irgendeinen Reim machen«, erklärte Dr. Goldstein, »und deshalb soll sich der Kollege Straßmann die Tote mal genauer ansehen.«

»Also dann: Hannoversche 6«, murmelte der ältere Sanitäter in die erneut einsetzende Stille hinein und gab dem Liftboy einen Wink.

»Könn’ wir jetzt geh’n?« Die beiden Runtschen-Schwestern traten ungeduldig von einem Bein aufs andere. Doch während die Bahre mit der Toten in den Aufzug geschoben wurde, schritt Dr. Goldstein in die Mitte des Raumes und breitete beide Arme aus; eine Geste, die alle Anwesenden einschloss. »Meine Damen und Herren, es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten zu bleiben. Bei zweifelhaften Todesumständen bin ich genötigt, die Polizei zu verständigen, und die möchte von Ihnen bestimmt Näheres über den Vorfall hier wissen. Wo gibt’s denn hier im Haus einen Telefonapparat?«

»Von Barnstedt.« Der Kriminalkommissar stellte sich mit geradezu militärischem Aplomb vor. Der Schmiss auf seiner linken Wange wies ihn als ehemaligen Burschenschaftler aus, und sein gesamtes Gebaren ließ darauf schließen, dass er die fünfundzwanzig Jahre Frieden, die das Deutsche Reich in diesem Jahr zu feiern hatte, bedeutend lieber hoch zu Ross auf irgendeinem Schlachtfeld zugebracht hätte. Aber vielleicht tat er auch nur so.

»Wilhelmi, Jakob.« Sein Assistent war gut einen Kopf größer als sein Vorgesetzter. Auguste schätzte ihn auf Ende zwanzig; wahrscheinlich war er gleich nach Beendigung des Militärdienstes zur Polizei gegangen. Jedenfalls musste er sich in seinen jungen Jahren bereits allerhand Verdienste erworben haben, denn so ohne Weiteres ließ man für den gehobenen Dienstweg keine Bürgerlichen zu: Der Adel blieb auch hier gern unter sich. Allerdings wurde gemunkelt, dass es nicht gerade die hellsten Köpfe der Aristokratie waren, die eine höhere Polizeilaufbahn antraten und dass dies auch nicht immer so ganz freiwillig geschah. Als wollte er das entsprechende Gerücht höchstpersönlich bestätigen, verwickelte von Barnstedt Henrietta – »Lady Droydon-Jones, geborene von Coesenitz« – umgehend in ein angeregtes Gespräch und überließ es seinem Assistenten, die Personalien der profaneren Zeuginnen und Zeugen aufzunehmen. Wilhelmi ging mit einer kleinen, in einer schweinsledernen Hülle steckenden Kladde von einem zum anderen und trug mit Kopierstift die Namen und Adressen ein.

Der Darsteller, der für den verstorbenen »Schauneger« eingesprungen war, hieß Aleeke Mambila, und Auguste konnte sich trotz des Ernstes der Situation ein Lächeln nicht verkneifen: Wieder in Zivil, gab er seine stoische Haremswächter-Attitüde auf und sprach, wie sie zu ihrer Überraschung feststellen konnte, sehr gut Deutsch. »Woher hätte ich denn wissen können, dass Herr Weinfurth bereits den Pagen vom Central-Hotel als Ersatz rekrutiert hatte?«

»Und Sie sind trotzdem geblieben?«

»Natürlich. Herr Weinfurth hatte schließlich nichts dagegen einzuwenden. Im Gegenteil.«

In einem von den beiden Polizeibeamten unbeachteten Moment sah Auguste, wie Ndeschio Temba und Hulda Preissing miteinander flüsterten. Obwohl das ausgesprochen unwahrscheinlich war, sah es aus, als ob die beiden sich von irgendwoher kannten. Schließlich ging Temba – wie zuvor seltsam abwesend wirkend – zurück zu seinem Platz. Hulda fing Augustes fragenden Blick auf und legte beschwörend den Finger auf den Mund, und obwohl Auguste dem strengen Regiment ihrer ehemaligen Kinderfrau längst entwachsen war, war Huldas Wunsch ihr nach wie vor Befehl.

Als Julius Fuchs mit der Befragung an die Reihe kam, verwies er den jungen Kriminalassistenten mit einer auffordernden Geste an seine Tochter. »Ich war seit heute früh unten im Laden und kann Ihnen von daher leider nicht weiterhelfen.«

Wilhelmi kam zu Auguste hinüber. »Ach! Sie haben also die fotografischen Aufnahmen gemacht, nicht Ihr Vater?«

»Ja, hab ich!«, versetzte Auguste schnippischer als beabsichtigt. Es war nicht das erste Mal, dass ein Vertreter des anderen Geschlechts davon ausging, dass Frauen für den Umgang mit technischen Geräten ungeeignet waren – es sei denn, es handelte sich um Godefroys dampfbetriebene Haartrockenhaube.

»Oh, Pardon!« Wilhelmi deutete ein entschuldigendes Kopfnicken an und lächelte. »Ich hab keine Sekunde an Ihren Fähigkeiten gezweifelt.«

Sieh mal einer an, dachte Auguste, der Kerl scheint Gedanken lesen zu können; für einen angehenden Kommissar ganz sicher ein willkommenes Talent.

»Es geht zunächst mal lediglich darum festzustellen, wer sich im entscheidenden Moment wo hier im Raum befand«, fuhr Wilhemi fort. »Ihr Herr Vater war, wie ich soeben erfahren habe, gar nicht hier, sondern unten im Parterre. Das heißt, Sie standen dann wohl hinter einem von den … Apparaten da.« Er deutete vage auf eine der wuchtigen, auf schwere, hölzerne Stative montierten Kameras, die Auguste, um Platz zu schaffen, an die Seitenwand des Ateliers geschoben hatte.

»Der ›Apparat da‹ ist eine Stereokamera!« Das klang kein bisschen freundlicher als zuvor, und Auguste rief sich erschrocken zur Ordnung. Der Herr Kriminalassistent war schließlich ausgesprochen höflich, und sie hatte keinerlei Anlass, derart patzig zu reagieren. »Sehen Sie, Herr Weinfurth arrangiert zunächst ganz nach seinen Wünschen ein Tableau, also: ein lebendes Bild«, begann sie, etwas milder gestimmt, zu erklären. »Dann mach ich davon mit unserer Görlitzer hier«, sie deutete auf eine blitzblanke, offenbar nagelneue Atelier-Kamera, »eine Aufnahme, die dann später in der Druckerei mittels Photochromverfahren farbig gedruckt und als Ansichtskarte verkauft wird. Danach geht es weiter mit der Stereokamera – die erkennen Sie an den zwei Objektiven –, und zum Schluss mach ich mit der Anschütz eine Reihe chronologischer Momentaufnahmen.«

»Ach?«

»Ja, für Herrn Weinfurths Mutoskope. Dank des Anschütz-Patents lässt sich nämlich der Schlitzverschluss für Belichtungszeiten bis zu einer tausendstel Sekunde verstellen. Großartig, oder?«

»Zweifellos.«

»Das heißt, damit kann man tatsächlich Bild für Bild ganze Bewegungsabläufe aufnehmen! Und die Einzelbilder werden dann später auf einen Zylinder montiert, der, wie gesagt, in ein Mutoskop eingesetzt wird. Und nach entsprechendem Geldeinwurf wird dann der Zylinder mit einer Handkurbel zum Rotieren gebracht.« Aus Wilhelmis Gesichtsausdruck war nicht zu schließen, ob er ihren Ausführungen folgen konnte, und Auguste schwang sich – einmal in Fahrt gebracht – zu näheren Erläuterungen auf. »Sehen Sie, das ist so: Durch eine lichtabschirmende Öffnung betrachtet – einfacher gesagt: durch ein Guckloch gesehen –, erzeugt das Mutoskop mittels der in schneller Abfolge aufgeblätterten Bilder die Illusion von Bewegung. Im Prinzip so ähnlich wie die laufenden Bilder, die die Brüder Skladanowsky mit ihrem Bioskop erzeugen. Nur benutzen die eine andere Technik.«

»Ich verstehe.« Um Jakob Wilhelmis Lippen spielte ein unergründliches Lächeln. »Und wo haben Sie sich also beim Eintritt des – ja offenbar länger andauernden – Todeskampfs aufgehalten?«

»Ähm …« Auguste wurde rot. Ihr belehrender kleiner Vortrag erwies sich nicht nur als vollkommen überflüssig; er wirkte wahrscheinlich sogar reichlich borniert. Reiß dich zusammen, wies sie sich innerlich zurecht, der Herr Kriminalassistent macht hier schließlich nichts weiter als seine Arbeit! »Also, ich hab hier gestanden«, sie deutete auf die Görlitzer, »und weil es sich um eine der Aufnahmen gehandelt hat, die später als Postkarte Verwendung finden sollen, hab ich das Blitzlicht hier benutzt. Kunstlicht eignet sich dafür deutlich besser als … ähm … Na ja, das tut ja nichts zur Sache.« Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, Wilhelmi mit einem weiteren Fachvortrag zu bombardieren. »Fräulein Paulus hat genau in dem Moment aufgeschrien, als ich das Blitzpulver gezündet habe, insofern hat wohl einen Sekundenbruchteil lang niemand etwas gesehen.«

»Bis auf die Görlitzer.«

»Wie bitte?«

»Na, Ihre Kamera. Oder haben Sie nur den Blitz ausgelöst, ohne eine Aufnahme zu machen?«

»Was?! Ich bin doch nicht meschugge!« Auguste schlug sich angesichts ihrer erneuten Patzigkeit erschrocken auf den Mund. Doch bevor sie sich für ihr undamenhaftes Verhalten entschuldigen konnte, zückte Jakob Wilhelmi seinen Kopierstift. »Wann könnte ich mir denn das entsprechende Bild mal ansehen? Das würde mich schon sehr interessieren.« Gar nicht so dumm, der Kerl, schoss es Auguste durch den Kopf. Gleichzeitig ärgerte es sie maßlos, nicht selber auf den Gedanken gekommen zu sein, dass sie auf diesem letzten Bild womöglich irgendetwas festgehalten hatte, das für den Mordfall – wenn es denn ein Mordfall war – von Belang sein könnte.

»Gustchen?« Tante Hattie kam, den offensichtlich schwer von ihr beeindruckten von Barnstedt im Schlepptau, zu ihnen hinüber und unterbrach Augustes Überlegungen. »Der Herr Kommissar möchte wissen, ob jemand Fräulein Paulus gegen Ende der Pause vielleicht Tee oder Limonade nachgeschenkt hat. Hast du da irgendetwas oder irgendwen …?«

»Nö«, Auguste blies die Backen auf und zuckte mit den Achseln, »und außerdem: Das könnte wirklich jede und jeder gewesen sein bei dem Gewusel hier.«

»Ach ja? Und was ist mit den Negern?«, wandte von Barnstedt ein. »Die dürften ja bei allem … Gewusel … deutlich von den anderen zu unterscheiden gewesen sein!«

»Ja, und? Was soll mit denen sein?«

»Es heißt, die hätten sich Fräulein Paulus gegenüber … auffällig verhalten.«

»Was meinen Sie denn mit ›auffällig‹?«

»Fräulein Kröschke hat gesehen, dass die Verstorbene einen von denen laut schreiend geschlagen hat, als er sie angefasst hat, und sie soll …«

»Wie bitte?«, unterbrach ihn Henrietta empört, »Herr Temba hat versucht, Fräulein Paulus zu helfen! Und sie hat auch nicht nach ihm geschlagen, sondern eindeutig halluziniert und versucht, irgendetwas – oder irgendjemand Unsichtbaren – abzuwehren.«

»Mit Unsichtbarem befassen wir uns hier aber leider nicht, gnädige Frau«, von Barnstedt unterstrich seinen offenbar als Wiedergutmachung gemeinten Einwand mit einem angedeuteten Handkuss. »Wir müssen uns schon an die Tatsachen halten.«

»Schön. Dann tun Sie das«, versetzte Henrietta ungnädig und wandte sich zum Gehen. »Und eine der Tatsachen ist, dass diese Lina Kröschke sich da was zusammenreimt, das so nicht stattgefunden hat!«, setzte sie, für jeden im Raum deutlich hörbar, hinzu.

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