Kitabı oku: «Nichts wird so bleiben, wie es war?»
Für Peter Jelinek, Katja Sinko & Paul Kindermann – stellvertretend für die Next Generation Europe
INHALT
I.Wo kommen wir her? Das europäische Lebenselixier
II.Europa, das sind wir Von der Staatenunion zur Bürgerunion?
III.Europa – smart, digital & nachhaltig?
IV.Ein europäischer Staat? Politik, Markt und Verfassung
V.Wo gehen wir hin?
Literatur
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Impressum
Kapitel 1
I. Wo kommen wir her? Das europäische Lebenselixier
„Europa ist heute in Europa die letzte politisch wirkungsvolle Utopie.“
Ulrich Beck, 2004
Europa und Corona – wie wird es weitergehen mit Europa? Diese Frage wurde mir während dieser Krise oft gestellt. Von März bis Mai 2020 Ausnahmezustand, geschlossene Grenzen, Ausgangsperren oder Beschränkungen, digitale, statt analoge Treffen. Europa – wieder einmal – in der Krise: Wird die Solidarität halten, werden die Grenzen wieder aufgehen? Und wird dann alles wieder so sein, wie es war? Welche Blessuren, welche neuen Risse gar wird der Kontinent davontragen? Wird die Corona-Krise das politische Projekt Europa stärken oder uns weiter auseinandertreiben? Wird die EU endlich ihr Governance-System verändern, wie viele seit langem anmahnen? Oder wird die Corona-Krise die verschiedenen politischen Bruchlinien, unter denen Europa schon so seit langem leidet, nur verstärken? Brexit, Populismus, Migrationskrise, Nord- Süd- und Ost-West-Spaltung, Demokratieabbau und was nicht noch alles. Mindestens seit einer Dekade kennt der europäische Kontinent – und damit seine Jugend! – nur noch Krisen. Und die EU ist Teil des Problems.
Die Erinnerung an das, was wir in diesen Ausnahmemonaten gemeinsam erlebt haben, wird die Zukunft Europas in der nächsten Dekade bestimmen. Die kritische Theorie der Erinnerung besagt, wie der Politologe Peter J. Verovšek herausgearbeitet hat, dass gemeinsame Erinnerungen der Humus, der Nährboden für das sind, was in der Zukunft gemacht wird. Kollektive Erinnerungen sind die Antriebsfeder für gemeinsames Handeln.
Die Frage ist also: Hat Corona das, was wir erlebt haben, nämlich die grelle Erfahrung der Nicht-Solidarität zu Beginn der Krise, die fast panischen Grenzschließungen, die Konfiszierung von medizinischem Material trotz Binnenmarktes, haben sich diese Bilder in unserem kollektiven europäischen Gedächtnis so eingraviert, dass daraus Lehren jetzt für die europäische Zukunft gezogen werden?
Anstatt kopflos die Grenzen zu schließen – teilweise mitten durch Dörfer oder Städte hindurch, wie im Elsass, an der deutsch-dänischen, deutsch-polnischen oder österreichisch-slowenischen Grenze –, hätte man im Februar die Patienten aus Bergamo in andere Teile Europas ausfliegen können. Hilfe statt Panik? In Nordeuropa waren zu diesem Zeitpunkt noch alle Intensivbetten frei. Wahrscheinlich würden wir dann heute stolz sagen: Europa hat seine Feuerprobe bestanden: Alle Menschen werden Brüder, wie es in Beethovens „Ode an die Freude“ heißt.
Hat es aber nicht. Noch nicht. Es wurde laut und oft nach Solidarität gerufen im Frühjahr 2020. Aber ob Europa in den nächsten Monaten wirklich solidarisch ist, das wird sich, jetzt, wo die Solidarität angesichts der Zahlen der Rettungspakete ein imposantes Preisschild erhält, erst noch erweisen müssen.
Nie wieder was?
Seit 1950 war der Schrecken an gemeinsame Erinnerungen in Europa der Treiber für eine gemeinsame Zukunft. Die heutige EU, die europäischen Strukturen, in denen wie leben, sind nichts anderes als in politische Form gegossene Erinnerung, eine Reaktion auf die beiden schrecklichen Kriege, den Holocaust, jenen Bruch mit der Zivilisation zwischen 1914 und 1945. Laurent Gaudé, ein französischer Lyriker, schreibt in seinem fantastischen europäischen Gedichtband „Nous, l'Europe – Banquet des Peuples“: „Was wir in Europa teilen, ist, dass wir alle Schlächter und Opfer waren.“ Aus der kollektiven Traumatisierung entstand der „utopische Entwurf“ Europas, aus ihr erwuchs jenes mächtige „Nie wieder Krieg“, das zum Zement der heutigen EU wurde, in der wir leben. Der europäische Traum war es immer, es in der Zukunft zusammen besser zu machen als in der Vergangenheit. Wie könnte ein solcher Traum heute aussehen? Nie wieder Bergamo? Nie wieder russische Trucks, kubanische Ärzte, chinesische Flugzeuge in der Lombardei, aber keine europäischen Fahnen? Geschweige denn europäische Ärzte? Nie wieder geschlossene Grenzen? Solidarität! Was hieße das heute?
In den vergangenen 70 Jahren war es die Stärke Europas, das sich über die Jahrzehnte von der EGKS (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) zur EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), und von da zur EU entwickelte, ja, war es die Essenz Europas, aus jeder Krise zu lernen. Jedes Mal, wenn in einer Krise erfahrbar wurde, wo es in Europa an Solidarität fehlte, wurden im Nachgang zu dieser Krise Politikfelder vergemeinschaftet. In den 1950er-Jahren wurde, vor dem Hintergrund des amerikanischen Marshallplans, die Produktion von Kohle und Stahl vergemeinschaftet bzw. gemeinsamer Kontrolle unterstellt, damit kein Land mehr alleine Panzer bauen und mithin kein Land mehr einen Krieg vorbereiten konnte.
In den 1970er-Jahren, nachdem sich die europäischen Staaten nach dem Wegbrechen des amerikanischen Goldstandards und des Bretton Woods Systems gleichsam einen „Währungskrieg“ geleistet hatten, unter dem alle europäischer Länder, Abwertungsländer (Italien) wie Aufwertungsländer (Deutschland), gleichermaßen wirtschaftlich gelitten hatten, entstand als Reaktion auf diese unheilvolle Erinnerung der Plan eines Binnenmarktes und einer vergemeinschafteten Währung. In der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 boxte der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors den europäischen Binnenmarkt durch, der nach Angleichung von zigtausend Rechtsakten 1992 offiziell eingeführt wurde. Ein Markt, eine Währung: Der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Präsident Giscard d’Estaing stellten parallel dazu schon 1979 Pläne für den Ecu vor, nachdem die europäische Währungsschlange schon in den 1970er-Jahren eingeführt wurde. Zu Beginn als völlig utopische Idee wahlweise beschrien, belächelt oder bekämpft, brauchte der Euro letztlich 23 Jahre und den Fall des Eisernen Vorhangs, um 2002 endlich Wirklichkeit zu werden. Ich erinnere mich genau, wie ein Hersteller von Geldautomaten noch im Frühjahr 1998, als ich als Direktorin bei der Association for the Monetary Union of Europe in Paris arbeitete, fragte: „Glauben Sie denn wirklich, der Euro kommt?“ Manchmal geht es schneller, als man denkt: Heute ist Europa ohne den Euro nicht mehr vorstellbar.
Europa, stete Vergemeinschaftung also, eine ever closer union, so steht es im Vertrag von Maastricht von 1992. Die sukzessive Vergemeinschaftung von Institutionen – Markt, Währung, Ausbildung (Erasmus), Rechtsraum (Schengen), Grenzschutz (Frontex) – ist gleichsam das Lebenselexier der EU. In der Politikwissenschaft nannte man es lange die neo-funktionale Methode, nämlich dass sich aus jedem Schritt wirtschaftlicher Integration immer ein bisschen mehr politische Einheit in Europa ergibt. Über Jahrzehnte ist das gut gegangen. Aber irgendwann ist dieser Faden der steten Vergemeinschaftung gerissen. Und zwar schon lange vor Corona! Vor allem junge Leute kennen dieses Lebenselexier der EU, das Prinzip der steten Vergemeinschaftung nicht einmal mehr. Seit rund 20 Jahren sind Krisen in Europa bestenfalls Vorwand für immer mehr Renationalisierung.
70 Jahre ist sie inzwischen alt geworden, die „alte Dame EU“. Am 9. Mai 2020 beging sie, aufgrund von Covid-19 ohne große Feierlichkeiten, eine kleine digitale Geburtstagsfeier. Wie viele 70-jährigen Damen ist sie alles zugleich: liebreizend, aber ein bisschen schrullig, unverwüstlich und zugleich fragil, ein wenig aus der Zeit gefallen, aber noch sehr präsent. Ich erinnere mich noch, wie ich 1986, damals 22-jährig, durch das mit bunten Wimpeln geschmückte Bonn – die damalige deutsche Hauptstadt – fuhr: Die Einheitliche Europäische Akte war 1986 gerade mit viel Prunk unterzeichnet, die bordeauxrote, einheitliche Passhülle und Beethovens Ode als europäische Hymne ersonnen worden. Es herrschte eine freudig, erwartungsvolle Aufbrauchstimmung, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Dass Europa die Zukunft sein würde, war jedenfalls klar. Heute ist es das nicht mehr, obgleich Europa ungleich notwendiger ist.
Irgendwie hatte die EU eine Art Midlifecrisis mit Anfang 50, so um die Jahrtausendwende herum, von der sie sich im Grunde nicht mehr so richtig erholt hat. Der Euro wurde 2002 noch erfolgreich auf den Weg gebracht, aber jede Ambition, den Euro, wie geplant, in eine gemeinsame europäische Haushalts-, Fiskal und Sozialpolitik einzubetten, ist seither im Sand verlaufen. Das musste Europa schon während der Bankenkrise 2008 bis 2012 schmerzhaft bereuen. Zwar gelang 2004 die EU-Osterweiterung, aber die eigentliche beabsichtige institutionelle Vertiefung lief völlig aus dem Ruder. Die Europäische Verfassung von 2003 scheiterte. Seither gilt eine Verfassung als politisch zu heiß, um noch einmal in Angriff genommen zu werden. Deswegen sind die europäischen Bürger*innen die verkannten Subjekte der Europäischen Integration, wie der Berliner Sozialhistoriker Harmut Kaelble schreibt: Sie haben in Europa im Wesentlichen nichts oder nicht viel zu sagen. Die Europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik wiederum ist aus einem stiefmütterlichen Dasein nie herausgewachsen, was Europa in der internationalen Arena zu einer vernachlässigbaren Größe macht. Nach den erfolgreichen Grand Projets – Binnenmarkt, Euro, Osterweiterung – wusste die midlife-crisis geschwächte, ein bisschen aus dem Leim gegangene Dame EU irgendwie nicht mehr richtig, was sie tun sollte. Sie hatte sich eingerichtet in einer gewissen technokratischen Behaglichkeit, funktionierte mehr schlecht als recht, meist fernab einer großen Öffentlichkeit, und ist zugleich unverzichtbar und ungeliebt.
Keine der vielen Krisen in den letzten 20 Jahren war irgendwie arg oder einprägsam genug, um daraus ein neues, europäisches Nie wieder zu machen: nie wieder eine gescheiterte Verfassung, nie wieder eine Bankenkrise, nie wieder Sterben im Mittelmeer. Europa raffte sich nicht mehr auf, vergemeinschaftete nichts mehr, es duckte sich vielmehr weg. Möge es mit Durchwursteln noch einmal gut gehen. Möge es niemandem auffallen. Möge sich niemand daran erinnern, dass mit ever closer union einmal etwas anderes geplant war. Seit rund zwei Dekaden ist die EU zu einem permanenten, zähen Ja, aber geworden. Zu gut, um sie zu kritisieren. Zu schlecht, um sie zu lieben. Und jetzt Corona. Was bedeutet das europäische Nie wieder nach Corona? Und gibt es überhaupt eines?
Die Sehnsucht nach einem anderen Europa
Corona stellt erneut die Frage: was machen wir zusammen auf dem europäischen Kontinent? Und wie machen wir es? Die historische Mission, eine souveräne, transnationale europäische Demokratie zu bauen, in der Form einer politischen Union, wie sie schon im Manifest von Ventotene von 1941 imaginiert wurde, ist aktueller – und realpolitisch ferner – denn je. Corona hat die Sehnsucht nach einem anderen Europa aktiviert: Werden öffentliche Güter jetzt europäisch gefördert, zum Beispiel das Gesundheitswesen? Bauen wir europäische Schnellzüge von Kopenhagen bis Lissabon, weil wir das Klima retten wollen und die Flieger am Boden bleiben? Kommt jetzt das Ende der neoliberalen Agenda in Europa, die schon zu lange politische Systeme wie gleichermaßen Menschen pervertiert und zulässt, dass sich eine morbide Fäulnis in die Gesellschaften hereinfrisst? Gibt es jetzt eine europäische Wirtschaftspolitik jenseits einer ideologisierten Schuldengrenze, ein Europa für die Bürger*innen und ihre Belange? Ein gemeinwohlorientiertes Europa? Vieles spricht dafür, dass Populismus und Nationalismus nicht die Ablehnung Europas zum Kern haben, sondern eine Reaktion auf einen entgleisten und durch die EU verstärkten Liberalismus sind, der in politische Erklärungsnöte gekommen ist.
Kommt jetzt das Ende der neoliberalen Agenda in Europa, die schon zu lange politische Systeme wie gleichermaßen Menschen pervertiert und zulässt, dass sich eine morbide Fäulnis in die Gesellschaften hereinfrisst?
Zu Beginn der Corona-Krise gab es unzählige, europaweite Aufrufe von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und NGOs dazu, von System Change, Systemwechsel gar war die Rede. Das Fenster der Geschichte war weit offen, Unerhörtes wurde auf einmal möglich: Macron suspendierte seine Rentenreform, die EU setzte zugleich Schuldenbremse und Schuldengrenze von 60 % aus, der Kerosin-freie Himmel (Fridays for Future hatten davon geträumt!) war blau. Der italienische Premierminister Conte sprach im deutschen Fernsehen. Man sichtete wieder Delphine in der Bucht von Venedig und Eulen in Athen – alles lange nicht mehr dagewesen. Im April 2020 wurde ein Rettungsschirm von knapp 1,8 Billiarden (!) aufgespannt. Sparpolitik war gestern. Eine Revolution im ökonomischen Denken, der Neoliberalismus auf die Guillotine! Geldausgeben kein Problem, sogar der deutsche Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble, der Oberguru der europäischen Sparpolitik nach der Bankenkrise vor zehn Jahren, bezeichnete sich in einem Interview im „Spiegel“ als Keynesianer. Europa entschied sich, Leben über Zahlen zu stellen. Was für ein Moment für das Neudenken, für einen Neubeginn Europas, zumal dieser seit langem eingefordert wurde.
Träume sind Schäume! Schon jetzt, wenige Monate später, scheint auf den ersten Blick nicht viel davon geblieben. Kaum ist der Lockdown vorüber, scheint es auf den ersten Blick nichts Dringenderes zu geben, als – mit viel Rettungsgeld zwar – wieder hurtig in die Loipen eines alten, dysfunktionalen Systems zurückzukehren. Doch halt: Wer die Flut der oft drögen Papiere studiert, die nach Corona in Brüssel zirkulieren, der stellt schnell fest: es weht ein neuer Wind, zumindest ein Lüftchen! Europa jetzt, jetzt endlich, jetzt richtig? Wird jetzt nicht nur pragmatisch weitergemacht, sondern auch einmal darüber nachgedacht, wie ein vernünftiges, bürgernahes politisches System in Europa aussehen müsste? Anders formuliert: Gelingt jetzt eine Erweiterung des europäischen Friedensprojektes dahingehend, dass die europäischen Bürger*innen im Mittelpunkt der europäischen Bemühungen stehen, dahingehend, dass die soziale Frage in Europa vergemeinschaftet wird? Greift die Einsicht um sich, dass ein immer unsozialeres Europa, ein strukturell in Nord- und Süd oder Stadt und Land gespaltenes Europa per se nicht friedfertig sein kann? Geprellte und verkannte Bürger wehren sich irgendwann: kurz vor Corona (schon vergessen?) bevölkerten die Gelbwesten französische Straßen und es gab wochenlang Streiks. Jetzt demonstriert in Frankreich das Gesundheitspersonal, weil Klatschen während der Krise nicht genug ist. Im Juni 2020 war der im März versprochene einmalige Krisenzuschlag von 500,– Euro für das Gesundheitspersonal in Deutschland immer noch nicht ausbezahlt. Solidarität rufen kostet nicht viel, sie einzulösen ist oft ein Kraftakt.
Kurz vor dem Ziel – oder: Die drei Stufen der europäischen Befriedung
Man könnte die bisherige, 70-jährige Geschichte der europäischen Integration auch in drei „Befriedungsepochen“ einteilen: die 1950er-Jahre als Dekade der militärischen Befriedung (EGKS); die 1980 / 90er-Jahre als Dekade der wirtschaftlichen Befriedung durch den gemeinsamen Markt und die Währung; jetzt, nach Corona – das ist die Frage – ein Europa der öffentlichen Güter, ein Europa für die Menschen, ein Europa der sozialen Befriedung? Befriedung, das heißt letztlich: keine Konkurrenz! Innerhalb Europas nicht (unlauter) zu konkurrieren, ist das zentrale europäische (Friedens-)Versprechen, ihm gilt fast der gesamte Europäischer Rechtsbestand des europäischen Wettbewerbsrechts. Kann dieses Prinzip der Unterbindung von (unlauterer) Konkurrenz nach Corona von der wirtschaftlichen Ebene des Binnenmarktes auf die soziale Ebene, auf die der europäischen Bürger*innen ausgeweitet werden, die durch den Euro zu weiten Teilen schon einen Sozialvertrag eingegangen sind? Denn Bürger einer politischen Einheit – Europa – sollten nicht konkurrieren: nicht um Atemmasken, Krankenhausbetten und auch nicht um Kurzarbeitergeld oder eine Arbeitslosenversicherung.
Befriedung, das heißt letztlich: keine Konkurrenz!
Die Briten beenden mit dem Brexit jene zweite „Befriedungsepoche“ der europäischen Geschichte, nämlich jene Unterbindung unlauterer Konkurrenz in der Wirtschaft, genannt Binnenmarkt. Brexit – wer erinnert sich? – war vor Corona das europäische Dauerthema, ein EU-Austritt, der, obschon gewollt, faktisch unmöglich schien. Wenn jetzt die EU Großbritannien vollen Zugang zum Binnenmarkt ohne Zölle und anderen Einfuhrbeschränkungen anbietet, im Gegenzug dafür aber die Einhaltung europäischer Sozial- und Umweltstandards verlangt, dann geht es um nichts anderes als um Vorkehrungen gegen unlauteren Wettbewerb: ein sozialer und ökologischer race to the bottom – mit dem die Briten jetzt ihre Souveränität zeigen wollen –, aber vollen Marktzugang behalten, wäre das ein britischer Wettbewerbsvorteil zulasten des europäischen Kontinentes. Wer die Einlassungen des britischen Handelsministers zu diesem Thema hört, der hört – allein am Tonfall – trotz aller Bekundungen zu partnerschaftlichen Lösungen: Es geht zwischen der EU und Großbritannien wieder um Handelskrieg. Und Handelskrieg ist eine Form von Krieg. Wer mit britischen Beamten spricht, der kann sie schon vernehmen, die subtilen Drohungen, eine Veränderung in der ganzen Art, wie miteinander umgegangen wird. Es gibt wieder wenn’s und dann’s, Schlagabtäusche, beide Seiten rüsten sich für jenen Moment, wo Großbritannien aus der EU-Rechtsgemeinschaft austreten wird, und sei es ohne Vertrag. Recht wird gemacht, damit Fäuste nicht zählen. Wer sich noch daran erinnern kann, wie freudig Großbritannien sich 1998 unter Tony Blair aufmachte, erst die europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu dynamisieren, dann Schengen und gar dem Euro beitreten zu wollen, der kann sich heute nur die Augen wischen: Gerade einmal 20 Jahre ist das her, alles nur geträumt? So schnell kann es gehen, dass ein europäischer Traum zerplatzt und man in einem Alptraum erwacht.
Die eigentliche Frage ist also, ob Europa – in diesem Fall Kontinentaleuropa – nach Corona in letzter Not zu seiner politischen Essenz, seinem Elixier zurückkommen kann, in dem es entscheidende Dinge, die in den verschiedenen historischen Epochen jeweils für die europäische Solidarität notwendig gewesen sind, vergemeinschaftet: das Militärische 1950, die Wirtschaft und die Währung durch den Binnenmarkt und den Euro 1980 / 1990 und jetzt die europäischen öffentlichen Güter und das Soziale, zum Beispiel in Form einer europäischen Arbeitslosenversicherung? Oder ob die EU weiterhin am politischen Abgrund entlangschlittern will und sich immer nur genau so weit stabilisiert, dass sie ihn nicht herunterfällt? Aber eben auch keinen Millimeter mehr: Vergemeinschaftung, auf keinen Fall!? Wer nicht will, findet Gründe; wer will, findet Wege.
Was will die EU nach Corona und will sie genug?
Nichts wird bleiben, wie es war? Wird jetzt alles anders? Stabilisierung der EU oder institutioneller Fortschritt? Genau dies war, man erinnert sich, zu Beginn der Krise im März 2020 auch die Scheidelinie der Diskussion, als im Frühjahr von italienischer oder auch portugiesischer Seite die prompte Forderung nach „Corona-Bonds“ aufkam: unmöglich! Temporäre Hilfe ja, damit niemandem etwas passiert, schallte es aus dem Norden. Aber auf keinen Fall dürfe die Corona-Krise zum Vorwand für strukturelle Reformen genommen werden, für einen europäischen Systemwechsel, konkret: für den Einstig in eine Haftungsgemeinschaft. Dabei ging es bei den Diskussionen in den ersten Krisenwochen nie um eine Vergemeinschaftung von Altschulden, sondern nur um gemeinsame Anleihen in der Zukunft, d. h. um Zinsgleichheit bei der Neuaufnahme von Schulden. Überhaupt: Europa, zumindest das Europa, auf das wir heute stolz sind – der Binnenmarkt, der Euro –, war letztlich nie etwas anderes als ein permanenter Systemwechsel. Ihn außer Kraft zu setzen hieße gleichsam, den Wirkungsmechanismus Europas zu beerdigen, Europa sein Lebenselixier zu nehmen. Diese Aversion gegen Vergemeinschaftung, auf die man einst so stolz war, wo kommt sie her? Wo führt sie hin? Und ist sie der eigentliche Sargnagel der EU?
Immerhin hat die EU aus der letzten Bankenkrise gelernt, dass mit Sparen allein buchstäblich kein Staat zu machen ist und auch sonst nicht viel Gutes entsteht. Jetzt wird Geld ausgegeben, was das Zeug hält. Aber daraus allein entsteht noch keine europäische Gemeinschaft, wenn eben keine neuen Strukturen geschaffen, keine neuen Weichen gestellt, keine neuen Institutionen begründet werden. Wo keine Institutionen, da keine administrativen Reflexe, da keine europäischen Gewohnheiten, keine Macht, keine Souveränität. Politischen Zugriff gibt es immer nur auf das, was institutionell geregelt ist. Wer ein solidarisches Europa wünscht, muss für ein souveränes Europa sorgen. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Soll Europa über den nächsten Ausnahmezustand gemeinsam entscheiden, muss es zuvor institutionell handlungsfähig gemacht werden.
Was also müsste jetzt institutionalisiert werden? Ein Pandemie-Zentrum? Eine europäische Gesundheitsbehörde? Oder, wie während der Krise fix ersonnen, auch ein europäisches Kurzarbeiter-Geld (SURE), um den wirtschaftlichen Schock gemeinsam abzufedern und Europa nicht in Länder bzw. Volkswirtschaften zu unterteilen, die sich ein Kurzarbeiter-Geld leisten können und andere, die das nicht können? Alle diese Fragen liegen nicht erst seit Corona auf dem europäischen Tisch und alle sind hart umkämpft. Es geht, wie seit eh und je in der Geschichte der europäischen Integration, wieder darum, welche Solidarität scheibchenweise institutionalisiert wird, damit nicht beliebig ist, dass geholfen wird. Sondern europäische Verpflichtung!
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