Kitabı oku: «Karmische Rose»

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Copyright Alle Charaktere in diesem Buch sind frei erfunden. Erstauflage: Das Werk einschlie gesch Jede Verwertung au Urheberrechtsgesetzes ist ohne die Zustimmung des Verlages unzul eBook (1. Auflage M Covergestaltung: Raphaela C. N Coverfoto: Lektorat: Angelika Funk Gesamtherstellung: Diana Schulz ISBN: 978-3-937883-58-8 www.echnaton-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Copyright

Prolog – März 1965

Tatjana – Februar 1918

Wilhelm Wollenberg – August 1961

Ludmila – 1939-1945

Sarah – Juli 1972

Ludmila – Februar-März 1945

Alexander Wollenberg – 1956-1962

Sarah – April 2007

Sarah – Mai 1973

Sarah – April 2007

Loredana – April 1990

Sarah – Mai 2007

Sarah – Mai 1974

Sarah – Mai 2007

Loredana – August 1990-Mai 1991

Sarah – November 2007

Loredana – Mai-Juni 1991

Sarah – Februar 2009

Loredana – August-Oktober 1991

Sarah – Februar 2009

Loredana – November 1991

Sarah – Februar 2009

Kunigunde – April 1541

Sarah – Februar 2009

Sarah – März 1973

Sarah – Februar 2009

Loredana – Dezember 1991

Sarah – Februar 2009

Loredana – Dezember 1991-Januar 1992

Sarah – April 2009

Loredana – Februar 1992

Sarah – September 2010

Loredana – März 1992

Sarah – September 2010

Loredana – März 1992

Sarah – September 2010

Loredana – Oktober 1992

Sarah – September 2010

Loredana – November 1992

Sarah – September 2010

Loredana – Juli 1993

Sarah – September 2010

Loredana – Juli 1993

Sarah – September 2010

Loredana – April 1998

Sarah – September 2010

Loredana – August 1998

Wladimir – Februar 1917

Loredana – August 1998

Sarah – Februar 2011

Loredana – Oktober 1998

Sarah – Februar 2011

Loredana – November 1998-Juli 1999

Sarah – Februar 2011

Loredana – Januar-Oktober 2004

Sarah – Februar 2011

Danksagung

Über die Autorin

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Für Nils

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke,

ein Sturm oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke

20.9.1899, Berlin-Schmargendorf

Prolog – März 1965

Die blonde Frau saß mit dem Baby in der Küche. Es war Frühling in der Schweiz, aber er zeigte sich noch nicht wirklich. Immer noch war es kalt und die Knospen der ersten Frühlingsboten kamen nur zögerlich aus dem gefrorenen Boden heraus.

Sie schaute aus dem Fenster in die beginnende Dämmerung. Immer wenn es dunkel wurde, kamen ihre Beklemmungen wieder, das Herzstechen und die Angst. Und mit diesen Gefühlen kamen auch die Bilder wieder, Bilder, die sie vergessen wollte. Bilder vom Lazarett in Astrakhan an der Grenze zwischen Russland und Kasachstan. Immer wieder sah sie die blutigen Körper der verletzten Männer vor sich, hörte sie ihr Stöhnen und roch den Geruch von fauligem Fleisch.

»Wann ist es endlich vorbei?«, fragte sie sich, während sie ihr acht Monate altes Baby ansah. Sie hatte Schuldgefühle und dachte, dass sie ihre Tochter lieben sollte, aber sie konnte es nicht. Zu groß war die Last der Vergangenheit.

Es hatte ein paar Momente in den letzten Wochen gegeben, in denen sie versucht gewesen war, ihrem Mann alles zu erzählen. Aber es ging nicht. Wenn sie den Mund öffnen wollte, war es so, als wäre ein Knoten in ihren Stimmbändern, der es ihr verbot weiterzusprechen. Und außerdem trug er eine ebenso schwere Last aus seiner Vergangenheit wie sie. Sie wollte ihn nicht auch noch mit ihren Geschichten belasten.

Irgendwann hatte er aufgehört sie zu fragen. Jetzt führten sie eine zwar nach außen harmonische, aber nach innen erkaltete Ehe. Wenn sie nachts wach wurde und die Schreie der Männer aus Astrakhan hörte, wünschte sie sich zu sterben, nur damit sie die Schreie nicht mehr hören musste und die Bilder endlich aus ihrem Kopf verschwänden.

Ihre Tochter sah sie mit großen Augen an. Es war so, als spüre das Kind die Angst der Mutter.

Erneut begann ihr Herz zu stechen und sie griff in die Schublade, um noch eine Valium herauszunehmen. Als sie die Tablette schluckte, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie nahm die Medikamente heimlich, ohne Wissen ihres Mannes. Sie dachte: »Irgendwann werden mich diese ganzen Pillen umbringen – aber vielleicht ist es genau das, was ich will.«

Sie dachte an ihre Familie in Russland, die sie seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte, und der Schmerz war so tief, dass er ihr fast das Herz zerriss.

Dann stand sie seufzend auf, versorgte mechanisch ihr Baby, das sie immer nur mit großen Augen ansah, und brachte es ins Bett.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es 17.30 Uhr war. In einer Stunde würde ihr Mann nach Hause kommen. Es war Zeit, das Abendessen vorzubereiten. Wie in Trance fing sie an, Kartoffeln zu schälen und den Salat zu machen. Das Valium dämpfte all ihre Gefühle, nicht nur die Angst. Sie dachte: »Ja, das ist es, was ich will. Ich will einfach gar nichts mehr fühlen.«

Als die Kartoffeln auf dem Herd standen und der Salat auf dem Tisch, nahm das Herzstechen zu. Sie schaute zu ihrem Kind und sah, dass das Baby in seinem Bettchen eingeschlafen war. Sie begann zu keuchen und setzte sich in den Sessel neben dem Ofen.

Dort fand sie ihr Mann, als er eine halbe Stunde später nach Hause kam. Da war sie schon tot.

Tatjana – Februar 1918

In Pokrowsk herrschte eisige Kälte an diesem Februartag des Jahres 1918.

Tatjana packte alles zusammen, was in den kleinen Leiterwagen passte. Ihr Mann Dimitrij war damit beschäftigt, die Papiere zu ordnen, die sie mitnehmen mussten. Die drei Töchter Anastasija, Irina und Jekaterina saßen aneinandergekauert in einer Ecke des kleinen Hauses. Anastasija und Irina waren Zwillingsschwestern. Sie waren fünf Jahre alt. Jekaterina war ein Jahr älter.

Die Mädchen hatten große Angst. Tatjana hatte ihnen nur gesagt, dass sie nach Amerika auswandern würden. Was das bedeutete, konnten die Mädchen in diesem Augenblick nicht im Entferntesten ermessen.

Dimitrij und Tatjana waren Wolgadeutsche und lebten auf einem Bauernhof in der Nähe von Pokrowsk. Ihre Vorfahren waren im Jahr 1764 auf den Ruf von Zarin Katharina II aus Deutschland nach Russland gekommen. Seit die Bolschewiken im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, war die Familie immer größer werdenden Repressalien ausgesetzt, denn die neue Regierung betrachtete die Wolgadeutschen als Feinde.

Tatjanas Familie baute Getreide an und hielt Vieh. Mit ihren Nachbarn, die allesamt Wolgadeutsche waren, hatten sie ein gutes Auskommen. Mit Tränen in den Augen dachte Tatjana, dass es ihr niemals in den Sinn gekommen wäre, sie würden eines Tages einmal ihre Heimat verlassen. Aber nun war es so gekommen. Es hatte in den vergangenen Wochen immer wieder Überfälle auf benachbarte Höfe gegeben und es war zu gefährlich, in Pokrowsk zu bleiben. Sie wollte ihre Töchter in Sicherheit bringen.

Eine befreundete Familie war vor ein paar Wochen nach Amerika ausgewandert und Tatjana schien es in dem Moment das einzige sichere Land auf der Welt zu sein. Dimitrij hustete. Sie schaute zu ihm hinüber. Seine eingefallene Gestalt und das graue Gesicht gefielen ihr ganz und gar nicht und sie dachte: »Hoffentlich wird er nicht krank.«

Als sie fertig gepackt hatte, rief sie ihre Töchter. Dimitrij stand bereits vor dem Haus. Er weinte, versuchte dies aber zu verbergen. Sie nahmen den Zug nach Murmansk, von wo aus ihr Schiff nach Amerika gehen würde. Tatjana hatte all ihre Ersparnisse aufgebraucht, um eine Schiffspassage für die ganze Familie zu erstehen.

Als sie in Murmansk ankamen, sahen sie, dass die Hafenstadt voll war. Offensichtlich waren sie nicht die Einzigen, die die Idee hatten, nach Amerika auszuwandern. Als sie sich in die lange Schlange von Menschen einreihten, die auf das Schiff wollten, bemerkte Tatjana, dass ihr Mann noch schlechter aussah als bei ihrer Abreise. Es dauerte Stunden, bis sie endlich an die Reihe kamen. Ein unfreundlicher Uniformierter kontrollierte ihre Pässe und die Schiffspassagen. Er sah alle Familienmitglieder aufmerksam an.

Sein Blick blieb an Dimitrij haften. »Bist du krank, Mann?«, fragte er. Dieser verschluckte sich und hustete, statt zu antworten. Der Mann sagte: »Du musst erst vom Arzt untersucht werden, vorher lasse ich dich nicht auf das Schiff.«

Tatjana wollte protestieren, aber der Uniformierte schob sie mit einer heftigen Handbewegung zur Seite. Er war schon mit den nachfolgenden Passagieren beschäftigt. In der Nähe sahen sie einen kleinen Verschlag mit einem roten Kreuz. Eine Frau zeigte auf den Verschlag und sagte zu Tatjana: »Da müsst ihr hin. Da ist der Arzt.«

Sie drängten sich durch die Menschenmassen hindurch. Nachdem sie weitere zwanzig Minuten gewartet hatten, standen sie endlich vor dem Arzt. Auch dieser kontrollierte zunächst die Pässe und die Schiffspassagen, dann nahm er Dimitrij mit hinter einen Vorhang. Zu Tatjana sagte er, sie und die Kinder sollten in der Nähe warten.

Die drei Mädchen drängten sich an ihre Mutter. Sie legte beide Arme um ihre Töchter, um ihnen inmitten des ganzen Gewühls ein bisschen Schutz zu geben. Anastasija fragte: »Mama, was macht der Arzt mit Papa?«

Tatjana antwortete: »Er untersucht ihn, damit wir aufs Schiff können.« Als sie ihre Worte hörte, überkam sie plötzlich ein ganz komisches Gefühl. Sie wollte den Gedanken verdrängen, aber es gelang ihr nicht und sie dachte: »Wenn wir überhaupt aufs Schiff kommen.«

Irina sagte: »Mama, ich habe Hunger.«

»Ja, mein Schatz, du bekommst gleich etwas zu essen. Wir müssen jetzt erst noch ein bisschen warten.«

Es dauerte. Sie hörte, wie der Arzt mit ihrem Mann sprach, und obwohl sie die Worte nicht verstehen konnte, gab es etwas an seinem Ton, das ihr nicht gefiel. Nach weiteren fünf Minuten trat Dimitrij aus der Kabine. Sein Gesicht war noch um eine Spur grauer.

Tatjana brach trotz der Kälte der Schweiß aus und ihr Herz fing an zu rasen. Sie schaute ihn an und fragte: »Und, ist alles in Ordnung mit dir?« Er schüttelte langsam den Kopf. Es fiel ihm sichtlich schwer zu reden.

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. »Dimitrij, was ist los? Antworte mir!«

Ihr Mann senkte langsam den Kopf. Diese Geste sagte mehr als tausend Worte. Sie begriff in diesem Moment, dass das Schiff ohne sie nach Amerika fahren würde. Als er nach ein paar Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, den Kopf wieder hob, sagte er tonlos: »Sie lassen mich nicht auf das Schiff. Ich habe Typhus.«

Es kam ihr vor, als habe sie soeben ihr eigenes und das Todesurteil für ihre ganze Familie gehört. Sie ließ ihren Mann wieder los und schüttelte den Kopf, denn sie war nicht bereit, die eben gehörten Worte in ihren Kopf aufzunehmen. Irina näherte sich ihr und sagte: »Mama, fahren wir jetzt doch nicht nach Amerika?«

Am Klang ihrer Stimme hörte Tatjana, dass sie voller Hoffnung war, wieder nach Hause zurückkehren zu können, und dachte: »Wenn sie wüsste, was uns zu Hause erwartet, würde sie aufs Schiff rennen.«

Aber wie sollten ihre Töchter die politische Situation des Landes erfassen können? Es war ein solches Durcheinander von Machtinteressen, Repressalien und düsteren Zukunftsaussichten, dass es auch für sie schwierig war, das alles zu durchschauen.

Sie merkte, dass sie erst einmal aus dem Gewühl herausmusste, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Als sie etwas abseits standen, sagte Dimitrij mühsam gefasst: »Lass uns nach Hause zurückfahren.« Dann hielt er kurz inne, als käme ihm dieser Gedanke gerade in diesem Moment: »Tatjana, wenn du mit den Kindern ausreisen willst, dann geh.«

Als die Töchter seine Worte hörten, schrien sie auf. Jekaterina begann zu weinen. »Nein, ich will nicht nach Amerika, ich will nach Hause zurück!« Auch Irina und Anastasija hatten angefangen zu weinen. Tatjana begriff, dass sie auf dem schnellsten Wege nach Hause zurück mussten. Sie gab sich einen Ruck und dachte: »Es wird sich alles finden. Vielleicht können wir auswandern, wenn Dimitrij wieder gesund ist, und vielleicht lassen uns die Bolschewiki bis dahin in Ruhe.« Aber noch während sie das dachte, merkte sie, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht glauben konnte.

Die Familie packte ihre Habseligkeiten wieder zusammen. Glücklicherweise schafften sie es, die Schiffspassagen zu einem guten Preis an eine Familie zu verkaufen, die ebenfalls nach Amerika wollte. Als Tatjana das Geld in den Händen hielt, dachte sie, dass sie davon auf jeden Fall eine Weile leben könnten.

Sie mussten ein paar Stunden am Bahnhof warten, konnten dann aber einen Zug nehmen, der sie noch am gleichen Tag wieder in ihre Heimat bringen würde. Der Zug war fast leer.

»Kein Wunder«, dachte Tatjana, »wir sind in der falschen Richtung unterwegs.«

In der Nacht kamen sie in ihrem Haus an. Die Kinder stürmten sofort hinein. Tatjana konnte ihre Freude und Erleichterung spüren. Sie selbst hatte ganz andere Gefühle – Angst, Schwere und noch etwas, das sie nicht benennen konnte.

In den nächsten Wochen war sie damit beschäftigt, Dimitrij zu pflegen und die Kinder von ihm fernzuhalten, um die Ansteckungsgefahr zu vermindern. Trotz ihrer Bemühungen konnte sie nicht verhindern, dass die Krankheit in seinem Körper immer mehr wütete. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr starb er.

Die Mädchen waren untröstlich. Sie hatten ihren Vater sehr geliebt. Er war ein guter, treuer und fleißiger Mann gewesen. Tatjana verdrängte ihre Trauer. Sie hatte genug damit zu tun, das Überleben ihrer kleinen Familie zu sichern. Sie musste nun noch mehr als bisher arbeiten, um den Hof zu erhalten und ihre Töchter vor Hunger zu bewahren.

Fünf Jahre später heiratete sie Ivan, der ihr Nachbar war und seine Frau und seine Kinder in der Hungersnot des Jahres 1920 verloren hatte. Im Jahr 1927 gebar sie ihm eine Tochter, Ludmila. Die Familie lebte relativ gut, verglichen mit anderen Wolgadeutschen, die von der Roten Armee mit starken Repressalien belegt wurden und große Teile ihrer Ernte an diese abgeben mussten. Wie durch ein Wunder blieb Tatjanas Familie davon verschont.

Wilhelm Wollenberg – August 1961

Er bekam kaum mehr Luft und wünschte sich nur noch zu sterben. Seit er vor 5 Monaten die Diagnose ›Kehlkopfkrebs‹ bekommen hatte, war es Tag für Tag bergab gegangen. Er spürte, dass es langsam zu Ende ging. In seinem Krankenhausbett liegend und mit Morphium vollgepumpt, ließ er sein Leben Revue passieren.

Er sah die Metzgerei seines Vaters, viele Kunden, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, und sich selbst als zwanzigjährigen Mann, der alle Hände voll zu tun hatte. Zwei Verkäuferinnen halfen ihm. Das Geschäft lief sehr gut und es gab Tage, an denen sein Vater unterwegs war und ihm alleine die Führung des Ladens überließ. Wilhelm machte die Arbeit Spaß, aber sie war nicht seine Erfüllung. Sein heimlicher Traum war es, Lehrer zu werden.

Sein Vater war ein verschlossener Mann und er konnte mit ihm nicht über seine Pläne sprechen. Nach dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau, Wilhelms Mutter, hatte er bald darauf wieder geheiratet. Aus der zweiten Ehe gab es eine Stiefschwester, Magdalena, die von beiden Eltern sehr verwöhnt wurde. Ernst Wollenberg hatte sich in den letzten Jahren immer mehr seiner Tochter zugewandt und seinen Erstgeborenen darüber vernachlässigt. Wilhelm fühlte sich oft zurückgesetzt, aber er war zu stolz, um es sich anmerken zu lassen.

Er hätte sich gewünscht, ein besseres Verhältnis zu seinem Vater zu haben, aber er wusste nicht, wie er dies bewerkstelligen sollte. Immer war die kleine Magdalena dazwischen. Wilhelm war sehr eifersüchtig auf seine Stiefschwester, aber auch diese Gefühle musste er unterdrücken, denn es gab in seiner Umgebung niemanden, der damit hätte umgehen können oder wollen. Tief im Inneren fühlte er eine große Enttäuschung über seinen Vater.

Warum verhielt sich dieser immer so distanziert ihm gegenüber, während er Magdalena mit Geschenken überhäufte? Erna, Wilhelms Stiefmutter, ignorierte ihn quasi völlig. Sein Vater sah dies, schritt jedoch nicht ein. Das schmerzte Wilhelm sehr. Vor allem verstand er nicht, was er getan hatte, um dieses Verhalten seines Vaters zu ›verdienen‹.

Der junge Wilhelm träumte von einem eigenen Leben, weit weg von dem bedrückenden Elternhaus in der niederrheinischen Kleinstadt. Wenn er sich in diesen Tagträumen als Lehrer großer Schulklassen sah, war er glücklich. Doch die Realität holte ihn immer wieder ein, und zwar spätestens, wenn die Stimme seines Vaters durchs Haus schallte: »Wilhelm, du wirst in der Metzgerei gebraucht!«

Wenn er dann in der Wurstküche stand und arbeitete, sah er manchmal von Weitem die kleine Schwester, die mit ihrer Mutter bepackt wie ein Maultier von einem Einkaufsbummel in der Stadt zurückkam. In solchen Momenten dachte er, dass das Leben ungerecht sei, und fühlte Sehnsucht nach seiner eigenen Mutter, an die es zwar keine bewusste Erinnerung mehr in ihm gab, von der er aber genau wusste, dass sie ihn geliebt hatte. Sie war nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben, als er erst drei Jahre alt gewesen war.

So wuchs Wilhelm in materiellem Wohlstand gepaart mit emotionaler Kälte auf. Er entwickelte sich zu einem verschlossenen jungen Mann, der zahlreiche Talente hatte, die von seinem Vater jedoch nicht gefördert wurden.

Als er fünfzehn Jahre alt war und in der Metzgerei angelernt werden sollte, hatte er es gewagt, seinem Vater von seinem Wunsch zu berichten, Lehrer zu werden. Dieser hatte ihn kurz angeschaut und dann kalt zu ihm gesagt: »Niemand aus unserer Familie ist Lehrer und du wirst auch keiner. Du wirst Metzger wie ich auch.« Damit war für ihn das Thema erledigt gewesen.

Es war hart gewesen, von seinem Vater so abgespeist zu werden, aber er hätte es nie gewagt, ihm offen zu widersprechen. Er dachte an seine Mutter und dass diese, wenn sie noch gelebt hätte, ihn unterstützt und seinen Vater dazu bewogen hätte, seinen Berufswunsch zu akzeptieren.

Er hatte nur wenige soziale Kontakte, denn seine Stiefmutter sah es nicht gerne, wenn Freunde von ihm im Haus waren. Ein paar Mal hatte sie sich sehr unfreundlich verhalten. Es war Wilhelm peinlich gewesen und er hatte die Freunde nicht mehr eingeladen. Mit seinem Vater traute er sich nicht darüber zu reden, aus Angst vor einer abweisenden Reaktion. So blieb er stumm und litt.

In diesem Moment betrat die Krankenschwester das Zimmer. Sie fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, und er nickte mit dem Kopf, denn er konnte kaum mehr sprechen.

Als sie wieder gegangen war, sah er den Tag, an dem er mit zweiundzwanzig Jahren Helena Schubert kennengelernt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Selbst jetzt noch breitete sich Wärme in seinem sterbenskranken Körper aus, wenn er daran dachte.

Helena stammte aus einer begüterten Bauernfamilie. Sie war bodenständig, konnte gut arbeiten und hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Ernst Wollenberg war mit der Heirat einverstanden. So mieteten Wilhelm und Helena Anfang der Dreißiger Jahre eine Metzgerei in einem anderen Stadtteil und bauten sich in vielen Jahren fleißiger Arbeit ein gut gehendes Geschäft auf.

Neun Monate nach der Hochzeit wurde der erste Sohn, Alexander, geboren. Helena war im achten Monat der Schwangerschaft eine steile Kellertreppe hinuntergestürzt und das Kind hatte einen kürzeren Arm und ein schielendes Auge. Man führte diese leichte Behinderung auf den Sturz zurück. Zwei Jahre nach Alexander wurde sein Bruder Andreas geboren. Wilhelm war glücklich – er hatte eine hübsche Frau, die er liebte, zwei kleine Söhne und ein gut gehendes Geschäft.

Aber es gab auch Tage, an denen ihn die Vergangenheit einholte. Dann dachte er daran, dass er jetzt vor seinen Schülern stehen könnte und dass er sich seinem Vater gegenüber hätte durchsetzen müssen.

Als dieser 1934 starb, war Wilhelm sehr traurig, zum einen darüber, dass er seinen Vater verloren hatte, und zum anderen darüber, dass er eigentlich nicht wirklich einen Vater gehabt hatte. Kurze Zeit später erfuhr er, dass seine Stiefmutter eine Änderung des Testamentes bewirkt hatte, sodass sie nun die alleinige Erbin des Hauses, der Metzgerei und aller sonstigen Vermögenswerte war. Wilhelm war schockiert, denn trotz allem war er doch das erste Kind seines Vaters und konnte nicht begreifen, dass dieser einer solchen Maßnahme zugestimmt hatte.

Magdalena hatte sich inzwischen mit einem sehr dominanten jungen Mann verlobt. Robert Schmitz besaß ein Waffengeschäft. Er und Wilhelm hatten von Anfang an eine intensive Abneigung gegeneinander verspürt.

Als er seine Stiefmutter nach seinem Pflichtteil fragte, sagte sie ihm, dass sie ihm dieses momentan nicht auszahlen könne, da ihr als Witwe dazu die Mittel fehlten. Und sie wolle das Haus nicht verkaufen, in dem sie mit Magdalena lebte.

Wilhelm wusste, dass es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, an sein Erbe zu kommen. Er hätte seine Stiefmutter verklagen müssen, aber das war nicht seine Art. Und so viel Distanz es auch zwischen ihm und Magdalena gab, letztlich war sie seine Schwester. So verzichtete er zu diesem Zeitpunkt auf seinen Anteil. Helene erkannte, dass grobe Ungerechtigkeit im Spiel war, und drängte ihren Mann zu handeln. Aber als ihr bewusst wurde, dass juristische Schritte unabdingbar sein würden, war auch sie ratlos. Die Angelegenheit wurde vorerst fallen gelassen.

In den nachfolgenden Jahren wurde der Kontakt zwischen Wilhelm und Magdalena immer spärlicher. Als die Schmitz-Familie 1942 ausgebombt wurde, ersuchten sie um Asyl bei ihm und er gewährte es ihnen. Wilhelms Elternhaus war völlig zerstört. Robert Schmitz baute es nach dem Krieg wieder auf.

Als diese Szenen jetzt vor seinem inneren Auge vorbeizogen, verstärkte sich der Schmerz in seinem Hals. Plötzlich dachte er: »Vielleicht hätte ich reden müssen – mit meinem Vater, mit meiner Stiefmutter und mit Magdalena. Ich hätte mich nicht abspeisen lassen dürfen, sondern viel mehr für mich einstehen müssen, vielleicht wäre mir dann diese Krankheit erspart geblieben.«

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