Kitabı oku: «Das historische Dilemma der CVP», sayfa 3
1943–1959: Zauberformel als Folge einer schwarz-roten Allianz
Mitte der 30er-Jahre schwächten sich die Konflikte zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie ab. Die bisherigen Klassenfeinde rückten unter dem innenpolitischen Einfluss der Wirtschaftskrise und der aussenpolitischen Bedrohung durch den Faschismus zusammen. Die Sozialisten gaben ihre Fundamentalopposition gegen den bürgerlichen Staat und seine Gesellschaft auf. 1935 bekannte sich die Sozialdemokratische Partei zur Landesverteidigung, 1937 schlossen die Gewerkschaften das berühmt gewordene Friedensabkommen in der Metall- und Uhrenindustrie ab. Der parteipolitische Burgfriede zwischen der Sozialdemokratischen Partei (SP) und bürgerlichen Parteien war etabliert, die soziale Partnerschaft zwischen sozialistischen Gewerkschaften und kapitalistischen Unternehmern organisiert. Die Sozialdemokraten waren bereit, in die Landesregierung einzutreten.
Es war nun nur eine Frage der Zeit, bis der Freisinn seine Vormachtstellung im Bundesrat aufgeben musste. Seit 1919 hatten die Freisinnigen bei den eidgenössischen Wahlen ständig leicht an Boden verloren. In den 30er-Jahren wurden sie von den Sozialdemokraten als stärkste Partei überflügelt, und nach den Wahlen von 1943 beziehungsweise 1951 mussten sie ihre bisherige Stellung als stärkste Fraktion der Bundesversammlung an die Katholisch-Konservativen abtreten.
Der sozialdemokratische Regierungseintritt war nicht mehr aufzuhalten. Bei den Bundesratswahlen von 1940 wäre es vermutlich so weit gekommen, wenn die bürgerlichen Wahlstrategen nicht allzu stark auf das faschistische Ausland Rücksicht genommen hätten. Als sich die internationale Lage zugunsten der Alliierten wandelte, stiegen die Chancen eines sozialdemokratischen Bundesrats in der neutralen Schweiz. Nach den Nationalratswahlen von 1943 nahm mit dem Zürcher Stadtpräsidenten Ernst Nobs erstmals ein Sozialdemokrat im Bundesrat Einsitz, ein Landesvater, der rund 25 Jahre vorher als Teilnehmer am Landesstreik in einem Zürcher Bezirksgefängnis gesessen hatte. Auf diesem Weg verloren die Freisinnigen nach fast 100-jähriger Vorherrschaft die Mehrheit in der Landesregierung. Gleichzeitig mussten sie 1943 zum ersten Mal den Posten des Bundeskanzlers an die Katholisch-Konservativen abtreten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hielt die Politik der Sozialpartnerschaft, des politischen Burgfriedens und der «geistigen Landesverteidigung» an. Die Schweiz befand sich endgültig auf dem Weg zu einer proportionalen Vierparteien-Regierung. Doch wie schon am Ende des 19. Jahrhunderts bäumte sich die freisinnige Regierungspartei nochmals auf, bevor sie von ihrer alten Machtherrlichkeit definitiv Abschied nahm. 1951 rissen die Freisinnigen den Bundeskanzlerposten wieder an sich und brüskierten damit ihren bürgerlichen Regierungspartner, den sie an die Seite der Sozialdemokraten trieben. Die Konservativen begannen damals ihren prononciert vorgetragenen Antisozialismus aufzugeben und machten wie die Democrazia Cristiana in Italien eine Linkswendung. Die innerkatholische Linksöffnung widerspiegelte den Aufstieg des christlich-sozialen Arbeiter- und Angestelltenflügels und entsprach dem durch den Regierungsantritt Papst Johannes XXIII. eingeleiteten Aggiornamento des römischen Katholizismus.
Das gespannte Verhältnis zwischen Konservativen und Freisinnigen verschlimmerte sich zwei Jahre später. Als 1953 der einzige sozialdemokratische Bundesrat nach einer Volksabstimmung über die Finanzordnung unerwartet aus der Landesregierung austrat, kehrten die Sozialdemokraten in stolzer Allüre in den «Jungbrunnen der Opposition» zurück. Aus der heutigen Perspektive wäre es nun nahegelegen, den freigewordenen Bundesratssitz den Katholisch-Konservativen zu überlassen. Doch die Freisinnigen eroberten den frei gewordenen Zürcher Sitz zurück und besassen mit vier Sitzen wieder die absolute Mehrheit im Bundesrat.
Die Rückkehr zur freisinnigen Vorherrschaft war freilich von kurzer Dauer. Ein Jahr später, 1954, beendete eine informelle schwarz-rote Allianz die freisinnige Hegemonie. Die Christlichdemokraten – so kann man sie nach 1950 nennen – errangen den dritten Sitz in der Landesregierung und stiegen zum gleichberechtigten Partner in der nunmehr wieder bürgerlichen Landesregierung auf. Endlich hatte die Partei die lang erstrebte Parität mit dem freisinnigen Seniorpartner erreicht.
Die 1954er-Formel war eine Übergangslösung. Der Rücktritt von vier Bundesräten im Jahr 1959 schuf die Voraussetzung für eine vollständige Umkrempelung der parteipolitischen Zusammensetzung der Landesregierung. Als Stratege wirkte im Hintergrund der Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei Martin Rosenberg. Die «Zauberformel» aus zwei Freisinnigen, zwei Christlichdemokraten, zwei Sozialdemokraten und einem Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei war geboren.
Die neue Regierungszusammensetzung schloss einen langen Prozess ab und entsprach den gesellschaftspolitischen Entwicklungslinien, die durch einen wachsenden Pluralismus gekennzeichnet waren und auf eine Beruhigung der politischen Verhältnisse und damit auf eine Proportionalisierung der Landesregierung hinausliefen. Keine Partei war fortan in der Lage, die Regierungsgeschäfte allein zu führen. Die Regierungsarbeit musste möglichst breit abgestützt werden.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der freiwillige Proporz Schritt für Schritt auch in der Bundesverwaltung Einzug hielt.4 1969 gaben sich 29 Prozent der Chefbeamten als freisinnig aus, 8 Prozent als christlichdemokratisch, 3 Prozent als sozialdemokratisch und 5 Prozent als BGB. Der Rest, rund die Hälfte, war parteilos. Noch kam die Zauberformel in der Bundesadministration nicht voll zum Tragen. Man sprach vom magischen Sesseltanz der Zauberformel bei der Vergabe der Posten.
Historisch gesehen bestand das grosse Verdienst der Zauberformel darin, dass sie die beiden klassischen Minderheiten auf der Basis des freiwilligen Proporzes endgültig in den Bundesstaat einbezog. In der zeitlichen Abfolge versöhnte sich zunächst der ländlich-bäuerlich und gewerblich geprägte Konservativismus in der Form der Katholisch-Konservativen und der BGB mit dem Bundesstaat. Die gesamtgesellschaftliche Säkularisierung beschleunigte nach dem Zweiten Weltkrieg den Abbau letzter Reste des Kulturkampfes. 1963 traten die Christlichdemokraten in die Zürcher Kantonsregierung ein und schlossen damit ihren langen Marsch durch die Kantonalregierungen vorläufig ab.
Nach dem politischen Katholizismus integrierte sich die Sozialdemokratie in die moderne pluralistische und kapitalistische Schweiz. Die wirtschaftliche Hochkonjunktur der Nachkriegszeit ermöglichte den Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaats, der durch ein breites Netz sozialer Einrichtungen den Anliegen der früher klassenkämpferischen Arbeiterbewegung entgegenkam.
Alles in allem besteht die helvetische Konkordanzdemokratie aus einer Koalition wechselnder Minderheiten. Diese Kraftfeldervielfalt darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wege der drei grossen Regierungsparteien zur Zauberformel unterschiedlich waren. Während sich die konservativen Katholiken aus ihrer spezifischen Konfessionslage heraus von Anfang an mit dem Minderheitenstatus begnügten, hatten die Freisinnigen und Sozialdemokraten zunächst Schwierigkeiten, die Minderheitenrolle zu akzeptieren. Die Freisinnigen, weil sie noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den goldenen Zeiten freisinniger Machtherrlichkeit träumten, und die Sozialdemokraten, weil sie im klassenkämpferischen Marsch zur Macht dem Traum einer antikapitalistischen Volksmehrheit in einer besseren Zukunft nachhingen.
Zauberformel oder Formelzauber?
Die ersten Jahre der Zauberformel-Regierung fielen in die Zeit der Hochkonjunktur. Der Wirtschaftsboom brachte die Finanzen ein, mit denen die Anspruchsgesellschaft befriedigt und die Profite auf die Gesellschaftspartner verteilt werden konnten. Das helvetische Wirtschaftswunder förderte die Flucht vor der Politik ins Private. Man sprach von der Entideologisierung der Politik. Heftige Parteienkonflikte waren unschicklich und störten die Wohlstandsidylle. Der Bundesrat verwaltete als zentrale Schaltstelle das Land und erliess die Regeln der «formierten Gesellschaft».
In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre schlich sich Kritik ins Konkordanzsystem ein. Nonkonformistische Störenfriede sprachen vom «helvetischen Malaise» (Max Imboden). Die Zauberformel geriet ins Gerede und setzte Patina an. Im Überschwang des Reformismus sprachen politische Kommentatoren um die Wahlen von 1971 und 1975 von einer möglichen Mitte-links-Regierung unter Einbezug des «Landesrings der Unabhängigen». Realpolitischen Wert besassen diese intellektuellen Spielereien nicht, da keine der Bundesratsparteien die Zauberformel ernsthaft in Frage stellte.
Die eigentliche Wende kam erst, als 1973/74 eine Rezession über das Land hereinbrach. Das helvetische Malaise begann nun konkrete Formen anzunehmen. Damit wurde das Zauberformel-Kartell brüchig. Die zunehmende Polarisierung der Politik erhöhte die Spannungen zwischen den Bundesratsparteien. Auf der rechten und auf der linken Seite des parteipolitischen Spektrums gewannen Oppositionsbewegungen an Bedeutung. Wie in anderen westlichen Industriestaaten entstanden Alternativbewegungen, die die bewährten politischen Institutionen und Spielregeln fundamental in Frage stellten und eine Art Antipolitik gegen das bestehende System betrieben. Die Sozialdemokraten und die Freisinnigen schlugen eine schärfere Gangart ein, und die auf den Ausgleich ausgerichteten Christlichdemokraten gerieten erstmals ins Wanken.
Die auf Konsens und Harmonie ausgerichtete Zauberformel-Regierung wurde einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt, denn das viel gerühmte Konkordanzsystem konnte die «neuen sozialen Minderheiten» wie zum Beispiel einen Teil der ausländischen «Gastarbeiter», die xenophoben Anti-«Überfremdungs»-Bewegungen und die Jugendbewegungen von 1968 und 1980 nicht mehr richtig integrieren. Eine steigende Zahl von Staatsbürgern misstraute dem Staat, den Parteien und Verbänden und der «classe politique» in Bern. Bei einer schweigenden Volksmehrheit – denken wir an die niedrige Wahl- und Abstimmungsteilnahme – machten sich über die abgekarteten Spiele der «Filzokratie» von Parteien- und Interessenlobbys Argwohn und Verdrossenheit breit. Man diagnostizierte eine Legitimationskrise des politischen Systems. Doch die Zauberformel blieb bestehen und wurde zum Zauberberg, ja zu einer Notformel der helvetischen Konkordanz.
Scharnier im Machtkartell der Vierparteien-Regierung
Von der Minderheitspartei par exellence im Jahr 1848 war die CVP seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem langen Marsch durch die politischen Institutionen zur zuverlässigen Regierungspartnerin herangewachsen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Zauberformel-Regierung den Christlichdemokraten wie keiner andern Regierungspartei auf den Leib, auf ihre ideologischen Traditionen und – was nicht unwichtig war – auf ihr Sozialprofil geschrieben.
Als klassische Minderheitspartei trat die CVP seit der Gründung des Bundesstaats für Parität und Proporz aller politischen und sozialen Gruppen in der Gesellschaft ein. Vom sozialen Profil der Wählerschaft her umfasste die Partei von Anfang an ein breites Spektrum; vom Bauern, Gewerbler und Arbeiter bis zum Beamten, Akademiker und Manager. Diese soziale Bandbreite zwang die CVP stets zu einem komplizierten innerparteilichen Konfliktregelungsverfahren. In der Zauberformel-Regierung konnte sie diesen internen Ausgleichsmodus auf die Versöhnung von Gegensätzen in Staat und Gesellschaft anwenden.
Als Partei von Randregionen – ich erinnere an den «Sonderbund» – war die CVP eine konservative Partei, die im politischen Alltag die Politik der kleinen Schritte jener der grossen Entwürfe vorzog. Die konservative Grundhaltung entsprach später dem Politikstil der Zauberformel-Regierung, die auf dem Weg zum helvetischen Kompromiss in der Regel eine Politik der kurzen Schritte und der langen Bank betrieb.
Alle diese Faktoren machten die CVP in den 1950er-Jahren – wie ich schon am hundertjährigen Jubiläum der CVP-Fraktion 1983 festhielt – zur Architektin und bis Ende des 20. Jahrhunderts zum Amalgam der Zauberformel, die in der Vierparteien-Regierung so etwas wie eine Scharnierstellung einnahm und als Mittlerin zwischen dem Freisinn und der Sozialdemokratie politisierte.5 Es verwundert daher nicht, dass die christlichdemokratischen Regierungs- und Parlamentspolitiker daran interessiert waren, das zunehmende Konsensdefizit der Zauberformel seit den 1970er-Jahren durch formelle Absprachen und Mechanismen wie zum Beispiel durch Legislaturziele zu vermindern.
Umgekehrt stärkte die Zauberformel die Stellung der CVP in der Bundespolitik. Die sozial- und wirtschaftspolitische Brückenfunktion nach rechts und nach links ermöglichte ihr einen geradezu spektakulären Positions- und Imagewechsel. Die CVP entfernte sich in den 1960er- und 70er-Jahren endgültig aus dem rechten Spektrum der Parteienlandschaft, in der sich die Katholisch-Konservativen bis in die Weltkriegszeit durchaus heimisch gefühlt hatten, und bewegte sich in die Mitte.
Allerdings blieb die 1971 feierlich proklamierte Formel von der «dynamischen Mitte» im Alltag der konkreten Politik eine Formel ohne deutliches Profil, da sich die Partei in der Regierung nach rechts und nach links an ihre Koalitionspartner anpasste. Unter dem Druck der Rezession verflüchtigten sich die Konturen der «dynamischen Mitte» als eigenständiger «dritter Weg». Von der Scharnierstellung blieb in den Zeiten der Polarisierung oft wenig übrig, vielfach nur die Dynamik auseinander strebender Parteiflügel. Kritische Beobachter warfen der Partei schon kurz nach den Reformen von 1970/71 vor, sie trage ihr Herz auf der linken Seite, mache aber die Politik mit der rechten Hand – nach dem Motto: links fühlen, rechts handeln und in der Mitte regieren.
So paradox es tönt: Mit dem politischen Erfolg in der Regierung setzte als Folge des unscharfen Profils eine schleichende Erosion bei den Wählern ein, die die Stellung der CVP als Mehrheiten bildende Regierungspartei aushöhlte. Die eigentliche Zäsur brachte dann der Verlust einer der beiden bisherigen Bundesratssitze, da nun ihre Rolle in der Landesregierung an machtpolitischem Gewicht verlor. 2003 stieg die CVP nach 84 Jahren von der ersten in die zweite Liga der Regierungsparteien ab. Wie der verlorene Bundesratswahlkampf gegen die FDP 2009 (Urs Schwaller gegen Didier Burkhalter) zeigt, handelte es sich dabei nicht nur um einen vorübergehenden Unfall. Der Wiederaufstieg ist beschwerlich.6
1.3 AUFSTIEG, BLÜTEZEIT UND EROSION
Die CVP-Fraktion der Bundesversammlung ist zusammen mit der belgischen Schwesterpartei die älteste christlichdemokratische Parlamentsgruppe Europas mit ungebrochener Tradition.1 Wie ich bereits im vorausgegangenen Kapitel erläutert habe, reichen ihre Ursprünge in die Anfangsjahre des Bundesstaats von 1848 zurück und sind im Kontext der Kulturkämpfe der Zeitepoche von 1830 bis 1880 zu sehen.2
Kurze Parteigeschichte
Die Konflikte um die politische und kulturelle Hegemonie im Bundesstaat liessen nach 1848 auf der einen Seite die Parteifamilie des radikal-liberalen Freisinns und auf der anderen Seite die katholisch- beziehungsweise reformiert-konservativen Parteigruppierungen entstehen.3 Ende des 19. Jahrhunderts löste der Klassenkampf die kulturkämpferischen Konflikte ab, und die Parteien der sozialistischen und kommunistischen Linken entstanden. Damit waren die parteipolitischen Grundstrukturen geschaffen, die die Schweiz bis Ende des 20. Jahrhunderts prägten. Seit den 1990er-Jahren macht die nationale Parteienlandschaft tief greifende Transformationen durch. Auf der rechten Seite des Spektrums etablierte sich die national-konservative «Schweizerische Volkspartei» (SVP) als stärkste Partei.4 Mit der damit verbundenen Polarisierung europäisiert sich das schweizerische Parteiensystem in eine Linke, in eine Rechte und in eine Mitte.
In der Bundesversammlung konstituierte sich die christlichdemokratische Fraktion im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unter der Bezeichnung «katholisch-konservativ», allerdings bestand sie in losen Organisationsformen seit der Gründung des Bundesstaats im Jahr 1848. Von 1848 bis 1872 existierte in den Eidgenössischen Räten eine kleine Gruppe konservativer Parlamentarier, die sich als Gesinnungsgemeinschaft verstand und von Fall zu Fall auch als Aktionsgemeinschaft auftrat. Freilich besass sie noch keine Geschäftsordnung und noch kein formelles Programm. Diskussionen vor wichtigen Parlamentsgeschäften waren dem Zufall überlassen. In den 1850er- und 60er-Jahren beklagten katholisch-konservative Presseorgane den desolaten Zustand der Fraktion.5
Die 1874 eingeführte Erweiterung der direkten Demokratie machte eine straffere nationale Parteiorganisation zur Mobilisierung der Kräfte notwendig. Wegen ausgeprägter föderalistischer Reflexe der Stammlandkantone bereitete jedoch der gesamtschweizerische Zusammenschluss der Kantonalparteien Schwierigkeiten, sodass verschiedene nationale Gründungsversuche – 1874, 1878, 1881 und 1894 – an internen Rivalitäten zwischen den Stammlanden und dem Diasporakatholizismus scheiterten. Erst 1912 kam es zur endgültigen Gründung der Landespartei.6
Viel zu reden gab der Name der Partei, worin die strategischen Unsicherheiten der Eliten über den Zweck und das Wählerpotenzial der zu gründenden Parteiorganisation manifest wurden.7 In Anlehnung an die Traditionen politischer Begriffe im 19. Jahrhundert tauften die Christlichdemokraten ihre Partei am Gründungskongress von 1912 «Konservative Volkspartei», denn sie wollten mit dem Etikett «konservativ» eine politische Katholikenpartei bilden, die gleichgesinnten Protestanten offen stand. 1957 benannten sie die Partei in «Konservativ-Christlichsoziale Volkspartei» (KCVP) um, um die Bedeutung der Arbeiter- und Angestelltenflügel im Namen zum Ausdruck zu bringen. Als 1970 in den gesellschaftlichen Transformationen der späten 60er-Jahre der Begriff «konservativ» in Misskredit geraten war, strich die KCVP diese Etikette aus dem offiziellen Parteinamen und wählte in Anlehnung an ihre westeuropäischen Schwesterparteien den heutigen Namen «Christlich-demokratische Volkspartei der Schweiz».8
A propos «christlich-demokratisch»: Während diese Namensbezeichnung in Europa vor dem Ersten Weltkrieg höchst umstritten war, tauchte sie in den schweizerischen Namensdebatten schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf, fand aber keine Mehrheit, da ihr zur damaligen Zeit eine zu progressive Konnotation anhaftete. Sich «Volkspartei» zu nennen, war den Christlichdemokraten wichtiger – anfänglich im 19. Jahrhundert, um ihre demokratische Opposition gegen das radikal-liberale Regierungssystem zu unterstreichen; nach dem Ersten Weltkrieg, um als Juniorpartnerin der freisinnig-bürgerlich geprägten Landesregierung ihre breite soziale Verankerung in der Bevölkerung und ihre Ausgleichsrolle zwischen dem Liberalismus und Sozialismus zu betonen.
Aufstieg und Blütezeit der CVP von 1919 bis 1971
Im eidgenössischen Parlament bildeten die Christlichdemokraten vor dem Ersten Weltkrieg eine Minderheitsgruppierung, denn in der Periode des Majorzwahlsystems dominierte der Freisinn die beiden Kammern, die katholisch-konservative Opposition zählte nicht mehr als ein Viertel der Sitze.
Nach der Einführung des Proporzes brach die bisherige absolute Mehrheit der freisinnigen Parteifamilie 1919 zusammen. Die FDP erhielt 28,8, die Sozialdemokraten 23,5, die CVP 21,0 und die BGB 15,3 Prozent der Wählerstimmen.9 Vom Ende des Ersten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Platz der Christlichdemokraten im Parteiengefüge ausserordentlich stabil. 1919 erhielten sie – wie erwähnt – 21,0, 1928 21,4 und im Kriegsjahr 1943 20,8 Prozent des Wähleranteils. Damit behielt die Partei von 1919 bis 1943 hinter den Sozialdemokraten und dem Freisinn konstant den dritten Rang, vor der viertplatzierten Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei.10
Analog zur westeuropäischen Entwicklung erzielten die Christlichdemokraten in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihre grössten Wahlerfolge. Allerdings vermochte die CVP im stabilen Mehrparteien-System nie die Wahlerfolge ihrer Schwesterparteien in Westdeutschland, Österreich oder Italien zu erreichen, die in den späten 40er- und in den 50er-Jahren zeitweise über Mehrheiten um 50 Prozent verfügten. Auch nach 1945 behielten die Christlichdemokraten ihren traditionellen Wähleranteil von etwas mehr als 20 Prozent. Das beste Wahlresultat erzielten sie 1963 – während des Zweiten Vatikanischen Konzils – mit 23,4 Prozent. Ihre Wahlerfolge hingen in den 50er-Jahren mit der allgemeinen Konsenspolitik zusammen, die eine Partei des Ausgleichs brauchte. Der wirtschaftliche Aufschwung, der den Ausbau des sozialen Wohlfahrtsstaats mit der Alters-, Hinterlassenen-, und Invalidenrente zuliess, beschleunigte den Weg der CVP zur Zentrumspartei.
Mitte der 1960er-Jahre erhielt die ausserordentliche Stabilität, die das Parteiensystem bisher ausgezeichnet hatte, erste Risse, ohne dass diese vorerst zu nachhaltigen Umstürzen führten. Die Einbrüche ins Parteiengefüge erfolgten aus drei politischen Richtungen. Zunächst gewann die «nonkonformistische» Opposition des vom Regierungskartell ausgeschlossenen liberal-sozialen Landesrings der Unabhängigen an Stimmen, der in den Nationalratswahlen von 1967 mit 9,1 Prozent seinen Höhepunkt erreichte. In den späten 60er-Jahren bildeten sich als Reaktion auf die zunehmende Fremdenangst im Zusammenhang mit den steigenden Ausländerzahlen (1970: 15,9 Prozent) rechtspopulistische Anti-«Überfremdungs»-Parteien, die 1971 einen Überraschungserfolg erzielten, mit 4,3 Prozent die Republikaner und mit 3,2 Prozent die Nationale Aktion. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre stiessen links-alternative und grüne Kleinparteien dazu, wobei die Grünen den nachhaltigsten Erfolg erzielten.11
Diese Oppositions- und Protestbewegungen von rechts und von links führten zum Schrumpfen der vier Traditionsparteien. Der Rückgang der Christlichdemokraten bewegte sich bis Ende der 80er-Jahre parallel zu den Verlusten der vier Regierungsparteien. Wer der CVP damals einen Niedergang voraussagte, wurde nicht ernst genommen.
Neue Parteienlandschaft seit den neunziger Jahren
Seit den 1990er-Jahren veränderte sich die Parteienlandschaft fundamental.12 Ausgangspunkt war der aussergewöhnliche Aufstieg der SVP, die sich unter der Führung des Zürcher Nationalrats Christoph Blocher zu einer national-konservativen Partei wandelte. Die SVP vermochte ihren jahrzehntelangen Stimmenanteil von rund 11 Prozent von 1991 bis zu den Nationalratswahlen 2007 auf 28,9 Prozent zu steigern. Erst 2011 kam dieser Aufstieg – vorläufig? – zum Stillstand und führte zu leichten Verlusten. Dies machte die SVP innerhalb weniger Jahre zur grössten Partei der Schweiz. Als Folge dieser Entwicklung polarisierte sich die Parteienlandschaft. Es entstand in den Worten des Politologen Claude Longchamp ein «tripolares» Parteigefüge.
In einer gegenläufigen Bewegung zur SVP verloren zwischen 1995 und 2011 vor allem die «bürgerlichen» Traditionsparteien FDP und CVP dramatisch Wähler. Bei den Wahlen 2003 sank die CVP auf das historische Tief von 14,4 Prozent. Ein solches verzeichnete auch die FDP, die auf 17,3 Prozent einbrach. 2007 vermochte sich die CVP bei 14,5 Prozent zu stabilisieren, während die FDP mit 15,8 Prozent erneut verlor. 2011 war es umgekehrt: Die CVP büsste erneut ein und landete bei 12,3 Prozent.
Die Analyse des Bundesamts für Statistik unter der Leitung von Werner Seitz zeigt auf, dass CVP und FDP von 1979 bis 2011 um die 9 Prozent einbüssten.13 Aus den Wahlen von 2011 gingen die Parteien der sogenannten «neuen Mitte» als relative Wahlsieger hervor: Die Grünliberalen (GLP) steigerten sich auf 5,4 Prozent, und die 2008 aus der Abspaltung von der SVP hervorgegangene «Bürgerlich-Demokratische Partei» (BDP) erreichte auf einen Schlag 5,4 Prozent. 2007 und 2011 musste auch die SP ein Wahlresultat unter der 20-Prozent-Marke verzeichnen. In der längeren Perspektive befanden sich die Grünen im Aufwind, die 2007 auf 9,6 Prozente zulegten, dieses Resultat jedoch 2011 mit 8,4 Prozent nicht zu halten vermochten. In den Wahlen von 2011 kam – wie Claude Longchamp und sein Team festhalten – der Polarisierungszyklus, der mit der EWR-Abstimmung 1992 begann, zum Ende.14 Das Drei-Pole-Parteiensystem mit flexiblen Koalitionen blieb bestehen.
Einbrüche
Wie Werner Seitz und Madeleine Schneider in ihrer Wahlanalyse feststellen, veränderte sich die regionale Verankerung der CVP nicht wesentlich.15 Noch immer tragen die Kantone Luzern, St. Gallen und Wallis am meisten zur nationalen Stärke bei. Die stärksten Kantonalparteien stellten 2011 das Wallis (39,9%), der Jura (33,2%) und Luzern (27,1%). Allerdings verloren seit 1979 Luzern, Schwyz und St. Gallen über 20 Prozent der Wähler. In welchen Regionen und Kantonen erfolgten die nachhaltigsten Einbrüche der Christlichdemokraten? Gibt es in der zeitlichen Abfolge besondere Entwicklungen?
Die Stagnation der CVP manifestierte sich – erstens – in den städtischen Ballungszentren ausserhalb der traditionellen Hochburgen. Seit den 1970er- und 80er-Jahren wechselten in den städtischen Agglomerationen der Kantone Zürich, Basel und Bern zahlreiche Sozialaufsteiger katholischer Konfession, die als schweizerische «Secondos» nicht mehr von den moralischen und gesellschaftlichen Bindekräften des katholischen Milieus ihrer familiären Herkunftskantone gehemmt wurden, zum bürgerlichen Freisinn und zur Linken über, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wählbar geworden waren. Als Resultat des veränderten Wahlverhaltens bisheriger Stammwähler in der klassischen Diaspora wurde das bevölkerungsreiche Mittelland von Zürich bis Lausanne für die CVP zum wahlpolitischen Ödland. In den grossen, von ihrer Geschichte her protestantisch geprägten Mittellandkantonen Zürich, Bern und Waadt, wo die Katholikenpartei aus historischen Gründen nie eine starke Position besessen hatte, schrumpfte ihr ohnehin kleiner Anteil zusammen. Von den insgesamt 78 Sitzen dieser drei Kantone im Nationalrat hielt sie 2011 nur noch 3; 1963 waren es von 84 immerhin noch deren 8 gewesen. Selbst in Zürich, wo die Christlichsozialen in einem langsamen, aber stetigen Aufstieg in die Regierung gelangt waren, liefen jüngere Wähler der Partei davon. Für die Generationenthese stellt Zürich das beste Beispiel dar, da die Zwingli-Stadt im Jahr 2009 mit 112 000 Katholiken den grössten Anteil aller Schweizer Städte aufweist.
Eine zweite Beobachtung: In den 1980er-Jahren erfasste der Erosionsprozess auch in unterschiedlichem Ausmass die alten Kulturkampfkantone St. Gallen, Aargau, Thurgau, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Genf. Der neue Kanton Jura blieb eine Ausnahme, da sich dort die Christlichdemokraten als aktive Gründungspartei des Kantons profiliert hatten. Die jurassische CVP erhielt 1979 37,7 Prozent und konnte diesen Stand über die Jahrzehnte hinweg halten (2011: 33,2%). Damit begannen die Christlichdemokraten in jenen Gebieten zu verlieren, in denen sie seit über hundert Jahren als Partei des politischen Katholizismus fest verankert waren. Aus historischer Perspektive wogen die Sitzverluste in diesen Kantonen schwerer als diejenigen in den früheren Diasporakantonen Zürich, Waadt und Bern, denn mehr als anderswo verdeutlichten sie den Zusammenbruch parteipolitischer Loyalitäten.
Als Beispiele verweise ich auf die Kantone St. Gallen, Aargau und Solothurn. In St. Gallen stellte die CVP 1963 6 von 13 Nationalratssitzen, im Aargau 3 von 13 und in Solothurn 2 von 7. 1983 sah das Bild folgendermassen aus: St. Gallen 5 von 12, Aargau 4 von 14 und Solothurn 2 von 7. Der eigentliche Einbruch in diesen Kantonen erfolgte mit unterschiedlichen Zeitrhythmen und lokalen Besonderheiten im letzten Jahrzehnt des 20. und im ersten des 21. Jahrhunderts. 2003 eroberten die Christlichdemokraten im Kanton St. Gallen nur noch 3 von 12, im Aargau 2 von 15 und im Kanton Solothurn 1 von 7 Nationalratssitzen. 2011 sah die Statistik wie folgt aus: St. Gallen 3 von 12, Aargau nur noch 1 von 15 und Solothurn dank geschickten Listenverbindungen 2 von 7 Sitzen. Alles in allem büssten die Christlichdemokraten seit 1963 fast 50 Prozent ihrer Nationalratsmandate in den alten Kulturkampfkantonen der Schweiz ein. Am besten hielten sich mandatsmässig die Christlichdemokraten Solothurns.
Und schliesslich der dritte Punkt: Die katholischen Stammlandkantone Schwyz, Luzern, Zug, Obwalden, Nidwalden, Uri, Freiburg und Wallis waren für die CVP seit dem 19. Jahrhundert als Reaktion auf die bittere Niederlage im Bürgerkrieg von 1847 Hochburgen, ja Bollwerke der Partei. Seit den Nationalratswahlen von 1999 verlor die Partei auch in diesen Kantonen in dramatischer Weise Wählerstimmen. 2011 stellte die CVP nur noch 10 von total 34 Nationalräten in den Stammlandkantonen.
Wie in den Kulturkampfkantonen war primär die national-konservative SVP Nutzniesserin dieser Entwicklung. 1991 hatte die SVP in den Zentralschweizer Kantonen sowie in Freiburg und im Wallis insgesamt lediglich einen Nationalratssitz inne. 1995 waren es zwei und 1999 bereits deren vier. Bei den Nationalratswahlen vom Herbst 2003 steigerte sich die SVP mit insgesamt acht Mitgliedern und 2007 mit neun. Im Jahr 2011 verlor sie zwei Sitze, was auf eine gewisse Instabilität der Wählerbasis hinweist. Dennoch: Die Wählerverluste in den alten Stammlanden alarmierten die Eliten. Am besten hielt sich die CVP des stark urbanisierten Kantons Luzern, in Zug errang sie immerhin einen von drei Sitzen.