Kitabı oku: «Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991», sayfa 6
»Wir sind Schweizer, leidenschaftlicher als je«
Stud. arch. Max Frisch als geistiger und militärischer Landesverteidiger (1936–1942)
In den Jahren von 1936 bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 veränderte sich die politische Situation in Europa grundlegend: Von Estland bis nach Italien, von Spanien und Portugal bis nach Österreich, Polen und Rumänien etablierten sich autoritäre und faschistische Regime, deren Rückgrat die Achse zwischen Deutschland und Italien bildete. Der Abessinienkrieg, die Annexion Österreichs, der Einmarsch der Reichswehr im Rheinland, im Sudetenland, in Böhmen, Schlesien und Mähren – und im Fernen Osten der Einfall Japans in China –, überall wurde der aggressive und imperialistische Zug der neuen Politik offenkundig. Auch der Stalin-Hitler-Pakt – formell ein Nichtangriffspakt – entpuppte sich bald als ein Instrument für weitere Aggressionen.
Die Schweiz rüstet zum Krieg
Die Schweizer Regierung, der Bundesrat, steuerte das offiziell neutrale Schiff mit deutschfreundlicher Schlagseite durch die Turbulenzen der Zeit. Um nur zwei Beispiele aus diesen Jahren zu nennen: Während die Landesregierung durch Bundesrat Motta dem deutschen Gesandten zur »Rückholung« Österreichs gratulierte, verbot sie mit massiven Strafen selbst einfache Geldsammlungen zugunsten der spanischen Republikaner. Auch in der Judenfrage waren die Präferenzen des Bundesrats eindeutig: Obschon er über die Judenverfolgungen in Deutschland informiert war, anerkannte er Juden nicht als asylberechtigte Flüchtlinge. Auf Schweizer Vorschlag erhielten deutsche und österreichische Juden ein »J« in den Paß gestempelt, um sie an der Grenze erkennen und zurückweisen zu können.
Politisch, wirtschaftlich, militärisch und geistig rüstete die Bundesregierung das Land seit 1936 zum absehbaren Krieg. Innenpolitisch betrieb sie eine Integration nach rechts. Seit 1929 war die konservative Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (bgb) Mitglied der Regierungskoalition. Die Sozialdemokratie rückte von ihren Klassenkampfpositionen ab und sprach sich 1937 für die militärische Landesverteidigung aus. Im selben Jahr schloß der Schweizer Gewerkschaftsbund mit dem Unternehmerverband ein Stillhalteabkommen, den »Burgfrieden«. Gleichzeitig traten Repressionen gegen links und rechts in Kraft: 1937 wurden alle kommunistischen Organisationen verboten, 1938 die Fronten. Durch die Rechtsintegration hatten die letzteren ihre Bedeutung ohnehin weitgehend verloren130 . Die Mehrheit der Bevölkerung folgte diesem Kurs. 1936 wurde eine Rüstungsanleihe mehrfach überzeichnet. Auch Frisch beteiligte sich daran.
Die Außenpolitik der Schweiz paßte sich zunehmend dem Druck der faschistischen Nachbarn an131 . Ein Netz von Handels- und Finanzabkommen mit den Achsenmächten sollte die künftige ökonomische Stellung der Schweiz absichern. 1939 ließ sich die Schweiz mit der Begründung, die »integrale Neutralität« wieder herzustellen, von ihrer Verpflichtung, die Boykottmaßnahmen des Völkerbunds gegen die faschistischen Aggressoren mitzutragen, entbinden.
Es wäre allerdings falsch, Annäherung und Rechtsintegration als eine schleichende Angliederung der Schweiz ans Deutsche Reich zu interpretieren. Im Gegenteil: Die Anpassung sollte ihre Unabhängigkeit erhalten und die Isolierung und Einverleibung verhindern. Eine geradezu mystisch verstandene Unabhängigkeitsmaxime leitete diese Politik. Dabei entstand ein klassisches Paradox: Um die freiheitliche Demokratie vor dem faschistischen Totalitarismus zu schützen, deformierte sich die Schweiz zunehmend selbst zu einem Regime mit totalitären Zügen. Um fremde faschistische Strukturen abzuwehren, schuf sie eigene autoritäre Formen.
»Geistige Landesverteidigung«
Dieses Paradox prägte auch das Kulturkonzept, welches unter dem Titel »Geistige Landesverteidigung« in die Geschichte eingegangen ist. Die Wurzeln dieser Ideologie reichen bis in die Kulturkrise nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Gesellschaft, so vernahm man damals allenthalben, sei von »entwurzelten Großstadtmenschen« und »materialistischem Denken« »durchseucht«. Ein »heimatloses Literatengeschlecht« treibe sein Unwesen, »unter denen es dem ewigen Literaturjuden besonders wohl ist«, wetterte der konservative Volkskulturpapst Otto von Greyerz132 . Die Angst vor dem Neuen war panisch. Weder in der Architektur, noch in der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik hatte die kulturelle Avantgarde in der Schweiz ein Zuhause. Es herrschte der Geist eines »verkrampft politischen Kleinbürgertums«, das in seiner »Ungleichzeitigkeit« mit der technischen und ökonomischen Entwicklung für den Faschismus und Nationalsozialismus besonders anfällig war133 . Führende Intellektuelle der Zeit wie Schaffner, Oltramare, de Reynold sympathisierten offen mit diesen Ideologien.
Die kulturellen Axiome des Nationalsozialismus konnten allerdings nur beschränkt übernommen werden. Die Idee einer Überlegenheit der germanischen Rasse und Kultur über die französische war z.B. für den Erhalt einer mehrsprachigen Schweiz unbrauchbar. Völkische und sprachkulturelle Distinktionen zementierten in Deutschland den nationalen Zusammenhalt. In der multikulturellen Schweiz wären sie Sprengstoff gewesen. Hier mußte eine eigene kulturelle Identität geschaffen werden. Diese Aufgabe übernahm die »Geistige Landesverteidigung«.
Bereits 1934 erschienen erste Schriften, die unter diesem Schlagwort eine national-schweizerische Identität einforderten. Frischs Kritik am Zürcher »Emigrantentheater« mit seiner »leichtfertigen Deutschfeindlichkeit« gehört in diesen Zusammenhang. 1935 debattieren die eidgenössischen Räte das Thema mit dem Ziel eines gesamtschweizerischen Kulturkonsenses. Vom bislang üblichen Kulturföderalismus – jeder sollte in seiner Façon selig sein – ging man über zur offensiven Propagierung einer gesamtschweizerischen Volks- und Bodenideologie, unter deren Dunstglocke sich konservativ-heimattümelnde Kulturkritiker zusammenfinden konnten mit traditionalistischen, aber staatsverdrossenen Intellektuellen sowie mit sozial engagierten, national orientierten Fortschrittlern. 1938 erließ der katholisch-konservative Bundesrat Philipp Etter eine einflußreiche Kulturbotschaft, worin er in beschwörendem Gestus die Prinzipien der »Geistigen Landesverteidigung« postulierte: Wir gehören zwar ebenso zur französischen, deutschen und lateinischen Kultur, wir sind aber in der spezifisch schweizerischen Zusammenfassung dieser Kulturkreise ebenso etwas Neues, Ureigenes, eben etwas Schweizerisches.
Nicht Antifaschismus war der gemeinsame Nenner, auf dem sich die unterschiedlichen kulturellen Kräfte der Schweiz zusammenfinden sollten – ein solches Konzept hätte eine große Toleranz beinhaltet –, sondern die gesamte Kultur wurde eingeschworen auf einen zugleich diffusen wie engen Begriff des »Schweizerischen«. Gleichzeitig faßte Etter den Begriff der Kultur extrem konservativ: Für Geist und Kultur genüge, so der Bundesrat, der Name Jeremias Gotthelf.
An der »Landi 39« – der Landesausstellung in Zürich – erhielt das Konzept seine mythischen Weihen: Die Fahnen aller Schweizer Gemeinden formten vor der erhabenen Kulisse der Mythen – so heißen zwei Alpengipfel im Kanton Schwyz, die bei klarem Wetter von Zürich aus zu sehen sind – ein symbolisches und jedermann verständliches Dach über alle Schweizer. Wer sich diesem Dach entziehen wollte, geriet in den Ruch, ein unzuverlässiger Bürger zu sein. Kritik an der »Geistigen Landesverteidigung« grenzte an geistigen Landesverrat. So hatte die Schweiz in der Abgrenzung von ausländischen totalitären Ideologien ihre eigene entwickelt: auch sie intolerant, aggressiv und totalitär in vielen Zügen134 .
Max Frisch stand bei dieser Entwicklung nicht abseits. Hatte er in Jürg Reinhart noch ganz im Trend der zwanziger Jahre den einzelgängerischen, in der Fremde irrenden Selbstsucher thematisiert, so näherte er sich in Antwort aus der Stille dem Gedankengut der »Geistigen Landesverteidigung«. Inmitten des grandiosen einheimischen Alpenpanoramas fand Dr. Leuthold, der ehrgeizige Einzelgänger, dem die Niederungen der Normalität sterbenszuwider sind, zurück zur Gemeinschaft der Biederen und entdeckte die Würde der tätigen Eingliederung in und Unterordnung unter die Gemeinschaft.
Dabei war Frisch nicht einfach ein unpolitischer Mitschwimmer im nationalistischen Mainstream der Zeit, sondern ein engagierter Mitdenker, der, wie der folgende Brief zeigt, recht militant und unzimperlich auftreten konnte.
»Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug«
Am 4. August 1938 schrieb Frisch an Gregor Rabinovitch, der als russischer Jude im Ersten Weltkrieg in die Schweiz emigriert und hier ein prominenter Karikaturist am Nebelspalter geworden war. Während etwa Bosco oder Bütsch, um zwei andere Karikaturisten der Zeitschrift zu nennen, stark von graphisch formalen Ideen ausgingen, orientierte sich Rabinovitch am satirischen und sozialethischen Realismus eines George Grosz und einer Käthe Kollwitz. Seine zeichnerisch bemerkenswerten Blätter, in denen er sowohl außenpolitische wie innerschweizerische Probleme aufs Korn nahm, überschritten oft das Genre der Karikatur in Richtung einer sozial engagierten Kunst. Frischs Brief an Rabinovitch lautet:
»Sehr geehrter Herr Rabinowitch!
Seit Jahren genieße ich den Nebelspalter, weil er mir, alles in allem genommen, in bestem Sinne schweizerisch erscheint, und kenne infolgedessen auch Ihre zeichnerische Mitarbeit135 , die in der Satire gewiß zum Schärfsten gehört, wobei ich nur immer wieder bedaure, daß ihr doch ganz wesentlich der Humor fehlt, jenes innerliche und freie Darüberstehen, das dem Künstler, ob er mit dem Stift oder mit der Feder arbeitet, doch allein das Recht gibt, über die Schwächen der andern zu lächeln.136 Glauben Sie nicht auch, daß Sie sich mit gewissen Zeichnungen, denen man eben nicht jenen Humor, sondern die Rache anspürt, nur ins eigene Fleisch schneiden und zwar mit der ganzen Schärfe, die Ihnen eignet? Ich verstehe nun dieses Ressentiment, das mir die Quelle fast all Ihrer satirischen Einfälle scheint, menschlich sehr gut, vielleicht sogar besser als Sie es mir nach diesem Brief zutrauen werden, der Sie beim ersten Lesen sicherlich verstimmen mag, aber es tat mir schon seit Jahren immer wieder leid, wenn ich sehe, wie manche Zeichnungen, wo sich das ganze Talent nur noch vom Hasse führen läßt, durchaus nicht jene treffen, die wahrlich auch nicht unsere Lieblinge sind, sondern vor allem den Mann, der jenen andern im Hasse nichts nachsteht und sich dennoch, ohne in seinem Zeichnen eine höhere Gesinnung zu verraten, zum Richter aufschwingt. Man hat dann stets das peinliche Gefühl, der Verspottete und der Spötter seien sich gleichwertig, und beide Teile sind nicht das, was unser schweizerisches Wollen ist.
Ich würde Ihnen, sehr geehrter Herr Rabinowitch, nicht schreiben, wenn ich mich nicht von persönlichen Vorurteilen frei wüßte; es geht mir um die Sache, die wir geistige Landesverteidigung nennen und der Sie, auch wenn Sie mit gutem Grund sicherlich das Gegenteil wollen, einen schlechten Dienst erweisen. Auch einfachere Leser spüren sicher, daß es Ihnen ja nicht für das Schweizerische, sondern gegen das Deutsche geht, das heutige Deutschland, das auch unsere Gefahr ist, wenn wir nicht wirklich etwas Eigenes sind; das aber heißt: schweizerisch ist nicht das Anti-Deutsche, womit wir uns ausliefern, sondern das Außer-Deutsche. Ich kann es Ihnen kaum klarer sagen. Aber ich spüre, Sie ahnen noch nicht, wie sehr Sie gerade ihrem Feind in den Sattel helfen! Ich
möchte Sie bitten, daß Sie mir das glauben. Darum schreibe ich Ihnen, nur darum; Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug …
Unser Volk hat zur Zeit wieder ein sehr waches Empfinden; man spürt sehr bald, ob ein Mann für uns kämpft oder uns nur benützt, um gegen andere zu kämpfen. Ob jemand in unserer geistigen Landesverteidigung mitzuwirken berufen ist oder nicht, würde nicht davon abhängen, wie lange er schon im Lande ist; ich glaube, Sie sind schon lange hier, trotzdem ist Ihnen das Schweizerische sekundär, was ich spürte, bevor ich wußte, daß Sie, als Künstler einer sozusagen offiziellen Zürcherbildermappe, und vor allem auch Ihre Frau unserer schweizerischen Landessprache nicht nur fremd, sondern vollkommen gleichgültig gegenüberstehen, – und dies nicht als ein gewöhnlicher Herr, sondern als ein durchaus nicht unauffälliger Streiter im schweizerischen Nebelspalter.
Dies alles auf die Gefahr hin, daß Sie mich völlig mißdeuten, aber jedenfalls mit den besten Grüßen:
Max Frisch [Unterschrift] Sempacherstraße 71«137
Zu mißdeuten gibt es hier nicht viel. Wiederum verfocht Frisch eine strikte Gesinnungsneutralität in einer Zeit, wo der verbrecherische Charakter des Nationalsozialismus bereits offenkundig war. Und man muß den Brief zweimal lesen, um auch die argumentatio ad personam nachzuvollziehen. Da streitet ein selbsternannter Sprecher des Mehrheitsschweizertums («wir«, »man«) einem engagierten und persönlich betroffenen antifaschistischen Künstler als erstes seine Künstlerschaft ab, weil ihm der »Humor« des unbeteiligten Darüberstehens fehlt. Als ob es den »echten« Künstler kennzeichne, angesichts der Greuel der Zeit humorvoll darüber zu stehen.138 Als nächstes setzt Frisch seinen Gegner moralisch auf dieselbe Stufe mit den karikierten Nazis und spricht ihm das echt »Schweizerische« ab. Und schließlich erklärt er ihn noch zu einer Landesgefahr, die schlimmer sei als ein frontistischer Fackelzug, zu einem Menschen, der die Schweiz nur mißbrauche, um seine Ressentiments auszuleben. Beweis: Der Herr, der doch dankbar sein müßte, eine offizielle Zürichmappe anfertigen gedurft zu haben, und vor allem seine Frau Gemahlin, sie sprechen nicht einmal Schweizerdeutsch!139
Frisch schrieb diesen Brief als siebenundzwanzigjähriger Mann und als Bürger einer Stadt, die zum Exilzentrum des antinazistischen, deutschsprachigen Geistes geworden war. Als Jugendtorheit ist er nicht abzutun. Er lag im Geist der Zeit, und der Schweizerische Schriftstellerverband, der Schweizer Pen-Club, Faesi, Korrodi, Staiger u.a.m. vertraten dieselben fragwürdigen Positionen.140
Rabinovitch reagierte auf Frischs Anwürfe übrigens souverän. Im Nebelspalter Nr. 46 von 1938 veröffentlichte er eine Karikatur gegen jede Form der Zensur. Ein kleiner Hofnarr mit den Zügen Rabinovitchs kopiert ein grimmiges Hitlerporträt. Die Kopie zeigt einen lächelnden Hitler. Bundesrat Motta, der Außenminister, blickt dem Narren über die Schulter und mahnt: »Bitte noch ein klein wenig liebenswürdiger«.

Karikatur von Gregor Rabinovitch im Nebelspalter.
Kultur und Politik
Der wichtigste der vier Texte, die Frisch vom Herbst 1937 bis zum Herbst 1939 veröffentlichte, ist der Aufsatz Ist Kultur eine Privatsache? Grundsätzliches zur Schauspielhausfrage (Zürcher Student, Juni 1938). Er ist allerdings nur im historischen Kontext verständlich. Nach dem »Anschluß« Österreichs rechneten viele Schweizer ebenfalls mit dem Einmarsch der Deutschen. Im Juni 1938 gab Ferdinand Rieser, der Besitzer der Pfauenbühne, sein Theater auf, um nach Paris, später in die USA zu emigrieren. Man hatte ihm, dem Antifaschisten, Juden und Ehemann der Schwester Franz Werfels, zu verstehen gegeben, daß er bei einem Einmarsch vor den Nazis nicht zu schützen sein werde. Rieser hatte, wie erwähnt, das Schauspielhaus seit 1926 als Privatunternehmen geführt und seit 1933 zum Zentrum des deutschsprachigen Exiltheaters ausgebaut. Er, und nicht erst sein legendärer Nachfolger Oskar Wälterlin, engagierte erstklassige Kräfte wie Therese Giehse, Wolfgang Langhoff, Maria Becker, Wolfgang Heinz, Teo Otto, Kurt Horwitz, Karl Paryla, Emil Stöhr, Ernst Ginsberg, Mathilde Danegger, Kurt Hirschfeld und viele andere mehr. Dieses Ensemble, auf welches Zürich heute noch stolz ist, wurde damals allerdings als »jüdisch-bolschewikisches Emigrantentheater« nicht nur von den Frontisten heftig angefeindet. Anstoß erregte auch Riesers Spielplan. Zwar brachte er viel Boulevardtheater, doch da jede Woche (!), später alle zehn Tage ein neues Stück Premiere hatte, kam zwischen 1933 und 1938 so ziemlich das gesamte europäische Theaterrepertoire zur Aufführung – darunter manche Stücke, die in Deutschland und seit dem »Anschluß« auch in Österreich verboten waren. Rieser, ein tüchtiger Geschäftsmann, bewies großen politischen Mut und antifaschistische Standfestigkeit gegen massive in- und ausländische Pressionen, als er seine Bühne vielen emigrierten antifaschistischen Dramatikern öffnete, z.B. Bruckner, Kaiser, Toller, Wolf, Broch, Lasker-Schüler, Horvath und Čapek. In den fünf Jahren von 1933 bis 1938 spielte er 19 Stücke von Exilautoren, darunter viele Uraufführungen141 . Riesers Weggang stellte die Existenz des Schauspielhauses ernsthaft in Frage. Die Stadt zeigte wenig Interesse, das Haus zu übernehmen. Das Parlament verwarf einen Antrag auf 150 000 Franken Unterstützung, nachdem es drei Tage zuvor 340 000 Franken für die Errichtung einer öffentlichen Bedürfnisanstalt bewilligt hatte. Mancher Patriot empfand ein stärkeres Bedürfnis nach Hygiene als nach einem unbequemen Theater. Monatelang stand das einmalige Ensemble vor dem Nichts und rüstete sich auf eine weitere Flucht vor der drohenden »Ausschaffung« ins Reich.
Da ergriff der Buchhändler und Verleger Emil Oprecht zusammen mit dem Dramaturgen und Lektor Kurt Hirschfeld die Initiative. Nach einer längeren öffentlichen Debatte und mit aktiver Hilfe des sozialdemokratischen Stadtpräsidenten Ernst Klöti gründeten sie am 27. Juli 1938 die Neue Schauspiel ag. Diese leitet das Haus noch heute. Neuer Direktor des Theaters wurde der Basler Regisseur Oskar Wälterlin.
Frisch hat zwischen 1933 und 1938 das Schauspielhaus häufig besucht; Käte besorgte die Studenten-Karten. Nähere Beziehungen zu den Mitgliedern des Hauses pflegte er nicht.142 Die Emigrantenszene war ihm fremd. Die zahlreichen in Zürich weilenden Exilautoren rezensierte er, bis auf eine Ausnahme, nicht.143 Das Verlagsprogramm des Oprecht Verlags mit seinen prominenten Exilautoren entging seiner Beachtung. Zu Eduard Korrodis Angriff gegen die Exilautoren schwieg er ebenso wie zu Thomas Manns mutiger Erwiderung.144 Jetzt, wo die Existenz des Schauspielhauses und seines Emigrantenensembles auf dem Spiel stand, meldete er sich zu Wort. Er warnte zu Recht vor der Gefahr, das Schauspielhaus könnte in der Hand eines ausländischen Pächters zu einem Propagandaforum faschistischer Ideologie, zu einem »trojanischen Pferd in der Stadt« verkommen.145 Diese Gefahr lag auf der Hand. Daß Frisch ganz im Jargon der »Geistigen Landesverteidigung« argumentierte, war damals nicht außergewöhnlich: Im »zeitgenössischen Geisteskampf«, in dieser »offenen Schlacht« sei die »Bühne ernster und schweizerischer Gesinnung« ein »Frontstück erster Ordnung« für ein »gesundes Erwachen« vor allem der »geistigen Jugend«.146 Kein »Festspielhaus« sei erwünscht, kein »vaterländischer Weihrauch«, »aber ebensowenig wollen wir jenen unfruchtbaren Ungeist, der sich nur an den Mängeln weidet, jene Wollust eidgenössischer Selbstzerfleischung … Wir wollen eine männlichere und fruchtbarere Haltung … die an die gesunden Kräfte rührt … an die Kräfte des Glaubens, ohne die gerade unsere Demokratie, die durch das persönliche Bekenntnis freier Herzen zusammengehalten wird, am allerwenigsten bestehen könnte.«147 Nach diesem Introitus folgt das fragwürdige Credo: Niemand verlange zwar, daß eine »schweizerische Bühne … lauter einheimische Stücke« spiele, »bis jeder Schriftsteller seine Schublade wieder leer habe.« Aber wenn schon, was zur Aufgabe des Theaters gehöre, Neues gespielt werde, weshalb denn »vorwiegend Amerikaner, Tschechen oder Ungarn? … Oder stimmt es noch immer, daß wir auch im Geistesleben lieber Bananen kaufen, solange es noch Äpfel gibt?«148
Diese Argumentation zeugte nicht von Sachkenntnis. Rieser hatte nicht nur neunzehn Exilautoren aufgeführt, sondern zwischen 1930 und 1938 auch so gut wie jedes brauchbare Stück eines Deutschschweizer Dramatikers. Von Caesar von Arx, Albert Jakob Welti und Jakob Rudolf Welti, Walter Lesch, John Knittel, Arnold Kübler u.a. wurden mindestens fünfzehn Stücke gezeigt.149 Daß Rieser als Jude und Antifaschist keine Frontisten und Antisemiten wie Schaffner oder Guggenheim aufführte, dürfte ihm Frisch kaum zum Vorwurf gemacht haben. Der Ruf: ›Spielt mehr Heimatdichter und weniger Exilautoren!‹ hatte im Jahr 1938 eine besondere Bedeutung: Seit der Annexion Österreichs gab es für antifaschistische Dramatiker kein deutschsprachiges Forum mehr – außer dem Schauspielhaus. Sie von hier zu verdrängen hieß, sie zum Schweigen zu bringen und damit den Wünschen der Nazis (unfreiwillig) gefällig zu sein. In diesem Punkt trafen sich die militanten »Geistigen Landesverteidiger« in einer unheiligen Allianz mit den Frontisten: Für diese war das Schauspielhaus ohnehin nur »ein Tummelplatz haßerfüllter Emigranten«. Jetzt, nach dem Abgang Riesers, müsse es sich, so ihre Forderung, von einem »Hort der Politik« wieder in eine »Stätte unverfälschter Kunst« – so ein Flugblatt der Frontisten – verwandeln.150
Die wahre Geschichte der Gründung der Neuen Schauspiel ag nach Riesers Abgang und der Einsetzung des legendären künstlerischen Direktors Oskar Wälterlin ist noch nicht geschrieben. Das akribische Quellenstudium von Ute Kröger hat aber bereits einige erstaunliche Neuigkeiten ans Licht gebracht. Das neue Schauspielhaus sollte das politisch unbequeme, weil unabhängige und in breiten Kreisen unbeliebte Theater des »Juden Rieser« nicht einfach fortführen, sondern sich zu einer nationalschweizerischen Bühne im Sinne der Geistigen Landesverteidigung umwandeln. An diesbezüglichen Erklärungen gegenüber der Rechten wie den chauvinistisch aufbegehrenden Kulturverbänden fehlte es nicht. Der ausländische Jude Hirschfeld hatte im Hintergrund zu bleiben; er wurde wieder Dramaturg, doch nicht, wie erhofft, Mitglied des Verwaltungsrats. Den vom Verwaltungsrat gewünschten deutschen Theaterdirektor und sozialdemokratischen Immigranten Carl Ebert ließ man schnell wieder fallen, als der Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, mit Nachdruck einen schweizerischen Freund empfahl. Dieser Freund galt zwar der Bundesanwaltschaft politisch »als ein Kind«, er hatte jedoch im In- und Ausland künstlerisches Aufsehen erregt, Leitungserfahrung gesammelt und er bot Gewähr für eine loyale Haltung gegenüber dem Verwaltungsrat. Schon einige Jahre zuvor hatte nämlich in Basel ein Theaterverwaltungsrat den dortigen Direktor Oskar Wälterlin, so der Name des Freundes, ohne Probleme zum Teufel gejagt – wegen eingestandener Homosexualität. So kam, was in der späteren Legende als Heldentat erschien, in Wirklichkeit als Kompromiß nach vielen Seiten zustande.151