Kitabı oku: «Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991», sayfa 9

Yazı tipi:

»Spiel, das sich als Spiel bewußt bleibt«
Dramatische Jahre (1945–1950)

Mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands brach eine neue Zeit an. Der Schreck über die Niederlage wurde bald abgelöst durch ein Gefühl der Befreiung und des Neuanfangs. »Soviel Anfang war nie!« diagnostizierte Hermann Glaser in seinem Rückblick.266 Doch wo anfangen, woran anknüpfen? In den zwanziger Jahren war das expressionistische Theater in Deutschland stilbildend gewesen. Die zwölfjährige Barbarei hatte diese Quelle zum Versiegen gebracht. Auch das deutsche Exildrama konnte nicht traditionsbildend werden. Die meisten der vor dem Krieg populären Dramatiker – etwa Kaiser, Toller, Unruh und Barlach – waren in Vergessenheit geraten. Zu lange hatten ihnen die Theater und das soziale Umfeld gefehlt. Nur Zuckmayer, Hochwälder und Brecht blieben international bekannt. Von den Kriegsheimkehrern gelang nur Wolfgang Borchert mit Draußen vor der Tür ein Durchbruch. So fehlte in Deutschland die Kontinuität, aus der sich eine Nachkriegsdramatik hätte entwickeln können.

Nachholbedarf

Nach all den Jahren der Indoktrination und Isolation war das Bedürfnis nach neuer Dramatik groß. Es mußte weitgehend aus dem Ausland gedeckt werden. Thornton Wilder, Tennessee Williams, Maxwell Anderson, William Saroyan, Eugene O'Neill, Arthur Miller, Christopher Fry, T.S. Eliot, Jean-Paul Sartre, Jean Giraudoux, Jean Anouilh, Albert Camus waren die viel gespielten Dramatiker der ersten fünf Nachkriegsjahre. Auch die Deutschschweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt feierten in dieser Zeit erste Erfolge als Nachwuchstalente. Von den deutschen Dramatikern behaupteten sich nur Zuckmayer, Hochwälder und Brecht auf den Spielplänen – und nur letzterer machte Schule. Stärker noch als der Wunsch nach neuer Dramatik war das Bedürfnis, sich die eigene Tradition frei von ideologischen Verbiegungen wieder anzueignen. Die Klassiker erlebten eine Renaissance. Die meisten der notdürftig reparierten Theater wurden programmatisch entweder mit Goethes Iphigenie oder mit Lessings Nathan der Weise wieder eröffnet.

Die Kriegsniederlage war für die meisten deutschen Theaterschaffenden und Theaterbesucher allerdings kein Grund, über das Verhältnis von Macht und Kunst neu nachzudenken. Im Gegenteil: Die Abwendung von der Politik und der Rückzug ins Private schien manchen der einzig richtige Weg zu sein. Das war verständlich. Zwölf Jahre lang hatten politische Maximen alle Bereiche, auch die privaten, strikt genormt. In der nazistischen Ideologie hatte das Volksganze weit mehr als jeder einzelne gegolten. Nun schlug das Pendel zurück: Der einzelne wurde alles. Der Existentialismus, der den Menschen als ein grundsätzlich einsames, unbehaustes, in eine sinnlose Welt geworfenes und nur sich selbst zur Rechenschaft verpflichtetes Wesen beschrieb, avancierte zur Populärphilosophie. Viele empfanden das wieder erlangte Recht auf apolitische Privatheit als Befreiung. Andere wollten nicht an das eigene politische Engagement erinnert werden. Man hatte die Nase voll von großen Ideen und suchte sein Durchkommen im Pragmatismus. »Ich werde weitermachen aus purer Gewohnheit, aber ich halte nichts mehr davon.« Der Seufzer Sabinas in Thornton Wilders Erfolgsstück Wir sind noch einmal davongekommen brachte die Stimmung auf den Punkt. Die Tristesse des Trümmeralltags und die verständliche Scheu vor neuen ideologischen Verstrickungen verleiteten dazu, Kunst umstandslos als einen Wert zu begreifen, der über allen Niederungen des Alltags und der Politik schwebte. Kunst sollte innere Wandlung, Sammlung und Besinnung auf Menschenwürde, nicht aber Auseinandersetzung mit der garstigen Wirklichkeit bringen. »Die geschichtliche Orientierungslosigkeit wurde durch eine Flucht in die Innerlichkeit kompensiert«, diagnostizierte Alexander Mitscherlich.267

Die Alliierten hatten 1945 eine gründliche Abrechnung mit der Vergangenheit versprochen268 , doch die politische Situation führte innert weniger Jahre zu einer anderen Strategie. In dem Maße, wie sowjetische und westliche Alliierte in verfeindete Blöcke auseinanderfielen, mutierten die Deutschen in West und Ost zu militärischen und ideologischen Verbündeten im kalten Krieg. Die alten Nazifunktionäre wurden als neue »Funktionseliten« reaktiviert. Das Programm zur Entnazifizierung, ursprünglich zur Selbstbesinnung entworfen, verkam zum Aktenvorgang: Wer seinen ›Persilschein‹ hatte, war nicht nur gesellschaftlich rehabilitiert, sondern auch amtlich davon enthoben, sich um die Bewältigung seiner Vergangenheit zu kümmern. Der Wille zur Trauerarbeit blieb aus. Der Nationalsozialismus wurde von einer Massenbewegung in einen Kriminalfall uminterpretiert. Sein Titel: Die dämonische Verführung der Massen durch die Verschwörung einiger Bösewichte. Dadurch wurden aus ehemaligen Mittätern und Mitläufern Verführte und Opfer. Erst ab Ende der sechziger Jahre und auf Druck der ersten Nachkriegsgeneration – »unsere Väter sind heute nie Nazis gewesen!« – kam eine breite Debatte über die Vergangenheit in Gang.

»Die Schweiz verstand sich auch nach dem Krieg als Sonderfall. Deutschlands Kapitulation empfand man hier vor allem als Ende einer tödlichen Umzingelung. Die Kontinuität im Denken und Schreiben, die in Nachkriegsdeutschland lange Jahre geleugnet wurde, war in der Schweiz nie bestritten. Von einer Stunde Null war keine Rede, eine Vergangenheit, die zu bewältigen gewesen wäre, vermeinte man nicht zu besitzen.«269 Man fühlte sich im Recht und auf der Seite der Sieger. Die Alliierten allerdings betrachteten das verschonte Land mit Mißtrauen. Zu eng hatte es mit Nazideutschland kollaboriert, zuviel Gewinn aus dem Krieg gezogen, den andere geführt und erlitten hatten. »Wir wurden verschont«, schrieb Friedrich Dürrenmatt. »Wir mußten unsere politische Gerissenheit mit einer moralischen Einbuße bezahlen. Wir standen in der heldischen Welt der Kriegsgewinner plötzlich als

Kriegsgewinnler da, ohne Möglichkeit, uns wie die Deutschen vom Heldentum aufs Leiden umzustellen, wir hatten nicht einmal gelitten.«270

Frisch hatte gute Gründe, in seinen ersten Bühnenstücken die Schuldfrage vorsichtig zu stellen. Er saß im Glashaus, sowohl als Schweizer wie auch als Schriftsteller, der sein Dichterwort kaum als Waffe gegen Krieg und Faschismus geführt hatte. ›Was hast Du mit deiner Arbeit zum Sieg gegen die Barbarei beigetragen?‹ Diese Frage wurde nach dem Krieg aktuell, und Frischs Antwort aus Von der guten Laune und dem Ernst der Zeit konnte nach 1945 kaum mehr überzeugen.

Theateranfänge

Frisch berichtete, er sei kurz vor Kriegsende durch den Schauspielhaus-Dramaturgen Kurt Hirschfeld ans Theater geholt worden. Hirschfeld habe Die Schwierigen gelesen und ihn ermuntert, doch einmal ein Theaterstück zu versuchen. Er lud ihn zu Proben ein, und das Ausprobieren von Geschichten, Haltungen, Tonfällen auf der Bühne faszinierte Frisch. Hier fand ein Prozeß statt, der verwandt war mit jener Art zu schreiben, die Frisch später, im Gantenbein, mit dem berühmten Satz umschrieb: »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«: »Ich war ein Mann über Dreißig, Architekt, einer der nicht seine Lust am Theater, aber die Hoffnung, die Bühne zu seinem Bauplatz machen zu können, längst begraben hatte. Was heißt Ermunterung? Ich kann einen Maler, zum Beispiel, noch so sehr ermuntern, ein Fresko zu versuchen, und es heißt gar nichts, wenn ich ihm nicht eine Wand, so groß wie meine Ermunterung, zur Verfügung stelle. Das hat das Zürcher Schauspielhaus getan, damals die einzige lebendige Bühne deutscher Sprache. Man ließ mich zu den Proben von Brecht, Sartre, García Lorca, Giraudoux, Claudel … Proben, Sie wissen es, sind unwiderstehlich. Zwei Monate später – ich hatte mein Architektur-Atelier und tagsüber keine Zeit – brachte ich mein erstes Stück fertig.«271 Das Stück hieß Santa Cruz.

Die Bindung an das Schauspielhaus war eine Sternstunde für die Pfauenbühne wie für Frisch. Hier traf er die Theaterelite der antifaschistischen Emigration: Den gläubigen Katholiken Ernst Ginsberg ebenso wie die gläubigen Kommunisten Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, Karl Paryla, Emil Stöhr, Mathilde Danegger; die junge, hochbegabte Maria Becker, die geniale Therese Giehse, den Steckel, den Gretler, den Knuth, die Fink, den Wicki usw. Durch das Schauspielhaus kam er auch in Kontakt mit dem Oprecht Verlag, dem Hausverlag vieler Emigranten, und er lernte das Neueste und Beste an moderner Dramatik kennen: Sartre, Camus, Williams, Giraudoux, Wilder, Brecht. Die beiden letzteren, die er auch persönlich kennenlernte, wurden seine wichtigsten dramatischen Lehrmeister. Das Schauspielhaus war damals nicht nur ein Zentrum für Antifaschismus und moderne Dramaturgie, hier wurde auch heftig Kritik an einem Bürgertum geübt, dem die humanistische Tradition nicht mehr Verpflichtung, sondern nur noch Fassade war, um eigennützige Interessen zu verfolgen. Hier vernahm Frisch erstmals jene Kritik an den eigenen gesellschaftlichen Kreisen, die er wenig später selber vertrat. Sie wurde von Menschen unterschiedlicher weltanschaulicher Positionen vertreten, deren Integrität, bezeugt durch Arbeit und Schicksal, außer Zweifel stand. Frisch sprach öfter von seinen engen Verbindungen zu den deutschen Emigranten und von deren Bedeutung für die eigene künstlerische Entwicklung.272 Tatsächlich begannen die Kontakte erst 1944/45 am Schauspielhaus. Der einzige Emigrant, mit welchem Frisch schon früher verkehrt hatte, war der russische Lyriker Lazar Ajchenrand.273

Santa Cruz

Santa Cruz, geschrieben im August/September 1944, also parallel zu Bin, wurde am 7. März 1946 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Die Hauptrollen waren hoch besetzt, auch wenn die ganz großen Stars fehlten. Die Regie lag bei Heinz Hilpert in prominenten Händen. Das Bühnenbild schuf der legendäre Teo Otto.274 »Das Stück spielt«, so Frisch, »an sieben Tagen und in siebzehn Jahren.«275 Was auch immer diese Zahlensymbolik noch bedeuten sollte, sie signalisierte: Hier findet nicht naturalistisches Abbildtheater, sondern modernstes Schauspiel statt. Genau betrachtet, spielt das Stück – abgesehen vom Vorspiel – in einer Nacht und in zwei (Traum-)Episoden, die sich auf siebzehn Jahre zurückliegende Vorfälle beziehen. Die »sieben Tage«, die Frisch nennt, bezeichnen lediglich die Tage zwischen dem Vorspiel und dem Stück.

Im »Vorspiel«, es schneit seit Tagen, erzählt ein todkranker Vagabund in der Spelunke seine Seeräubergeschichten aus tropischen Meeren. Elvira, die Seeräuberbraut von einst, ist inzwischen die Gattin des Rittmeisters im Schloß nebenan.

Der erste Akt führt ins Schloß: Erbadel, wie schon im Jürg Reinhart. Der Schnee steigt, das Wasser gefriert in den Vasen, der Rittmeister führt ein strenges Regiment: »Ordnung muß sein«, heißt die Devise.276 Doch wie er vom Vagabunden hört, überkommt auch ihn eine verdrängte Sehnsucht nach dem wahren Leben. Noch einmal möchte er dem alten Freund Pelegrin (alias Bin) begegnen, der »von meinen Kräften lebt und zehrt, von meiner Sehnsucht sich nährt«.277 Auch Elvira, die Gattin, hat Pelegrin nicht vergessen. Vor siebzehn Jahren war sie – was der Rittmeister nicht weiß – auf dem Schoner Viola seine Geliebte gewesen. Inzwischen hat sie die Jugendromanze unter moralischen Maximen begraben: »Die Frau, siehst du, spielt nicht mit der Liebe, mit der Ehe, mit der Treue, mit dem Menschen, dem sie gefolgt ist … Wenn eine Frau sagt: Ja ich folge dir! dann handelt sie auch Ja, und alles andere opfere ich, ich denke nicht daran, ich bereue es nicht. Denn ich liebe. Ich möchte, daß der Mann, der mir ein Alles ist, auch seinerseits ein Ganzes an mir habe.«278 Nach zwei Jahren eigener Erfahrung beschrieb Frisch die Ehe als eiskaltes Schloß, worin Mann und Frau sich die Träume vom wahren Leben versagen.279

Elvira, einer plötzlichen Laune folgend, lädt den Vagabunden aus der Kneipe zum Abendessen. Er erscheint, es ist Pelegrin, Elvira flieht, die verdrängte Vergangenheit hat sie eingeholt. Der Rittmeister und Pelegrin tafeln und trinken und schwärmen. Auch Pelegrin hat seine Sehnsüchte: Etwa all die Bücher, die er einmal lesen will, diese »schönen Waben voll Geist der Jahrhunderte«.280 Die Tochter erscheint, sie ist siebzehn Jahre jung und heißt, wie könnte es anders sein, Viola.

Der zweite Akt kombiniert Vergangenheit und Traum. Er spielt auf dem Achterdeck des gekaperten Schoners Viola. Pedro, der Poet, den die Mannschaft gefesselt hat, weil er »immer von Sachen redet, die ich mit eigenen Augen nicht sehe«281 – eine Selbstironie des Dichters –, fungiert in Thornton Wilders Manier als Erzähler und berichtet die vergangene Romanze Pelegrins mit Elvira. Beide erscheinen als Traumgestalten: sie »in der Seide ihres Nachtgewandes«, einer Lieblingskleidung der Damenwelt Frischs seit Jürg Reinhart, er, »wie er vor siebzehn Jahren aussehen mochte«.282 Allnächtlich träumt Elvira diese Zusammenkunft. Vor siebzehn Jahren hatte sie ihren Verlobten, den Rittmeister, sitzengelassen und war mit Pelegrin durchgebrannt. Ihr Bekenntnis zur ehelichen Treue aus dem ersten Akt entpuppt sich als Lüge: Allnächtlich betrügt sie im Traum den Ehemann mit dem Mann ihrer Sehnsucht.

Der dritte Akt führt zurück ins Schloß. Angesteckt von den Erzählungen Pelegrins und übermannt von Sehnsucht, packt der Rittmeister mitternächtlich die Koffer und zieht »noch einmal das Wams seiner Jugend« an.283 Er schreibt der träumenden Gattin den Abschiedsbrief: »Ich möchte noch einmal fühlen, welche Gnade es ist, daß ich lebe, in diesem Atemzug lebe – bevor es uns einschneit für immer.«284

Akt vier blättert wieder siebzehn Jahre zurück. Diesmal träumt der Rittmeister. Im spanischen Hafen Santa Cruz – »Wir alle haben unser Schicksal, tragen unser Kreuz, spanisch cruz«285 – hat Elvira das wilde Leben mit Pelegrin satt. Sie erwartet ein Kind, sie möchte »an einem festen Orte bleiben, wo man weiß: Hier sind wir daheim«, sie möchte »ein Nest, das man nicht mehr verläßt«, sie will heiraten. »Die Ehe ist ein Sarg für die Liebe«, höhnt Pelegrin, ähnlich wie Frisch im Brief an Käte Rubensohn.286 Die beiden trennen sich, obschon sie sich lieben, denn »wenn wir zusammenbleiben, geht eines von beiden zugrunde, es tut, was es nicht leisten kann«.287

Der Schmerz über den Verlust der Braut hat den Rittmeister auf Reisen getrieben. Wie der Zufall so spielt, plant er, ohne den Zusammenhang zu ahnen, mit eben jenem Pelegrin nach Hawaii zu segeln, der ihm die Braut entführt hatte. Doch bevor der Rittmeister ablegt, stößt er auf die verlassene Elvira. Geistesgegenwärtig und mit allen weiblichen Listen bringt die Verzweifelte den Exverlobten dazu, ihr zu verzeihen und sie zur Frau zu nehmen. Sie unterschlägt die Affäre mit Pelegrin und sie verschweigt, wie schon Yvonne in Die Schwierigen, daß sie ein Kind erwartet: die mit Pelegrin auf dem Schoner Viola gezeugte Viola.

Akt fünf spielt wieder im Schloß, in der Morgendämmerung derselben Nacht. Elvira ist erwacht. Sie fürchtet um ihren abwesenden Mann, noch mehr fürchtet sie, Pelegrin hätte die gemeinsame Vergangenheit verraten. Sie beschimpft ihn und verflucht sein Wiedererscheinen. Ihre Ehe sei glücklich, »ein Wunderbares sei es um die Ehe«, einen »Mann wie Er, ich habe ihn fast nicht verdient«.288 Doch je leidenschaftlicher sie Pelegrin beschimpft, desto mehr verrät sie ihre Sehnsucht. Pelegrin entdeckt, daß Viola sein Kind ist, und er formuliert die Antithese: »Man kann nicht beides haben, scheint es. Der eine hat das Meer, der andere das Schloß; der eine hat Hawaii – der andere das Kind …«289

Die dramaturgische Konstruktion des Stücks (Entlarvung einer Lebenslüge) drängt auf eine finale Katastrophe hin. Doch Frisch umgeht die tragische Konsequenz. Statt Vernichtung findet, wie bereits in Antwort aus der Stille, subjektive Reifung statt. Der Rittmeister kehrt zurück, und Elvira bekennt: Wenn wir bloß ehrlich zueinander wären und zu unseren Sehnsüchten stünden, könnten wir glücklich sein. »Gott hat alles viel schöner gemeint … Wir dürfen uns lieben, wir alle …«290 Man ißt gemeinsam eine Apfelsine, den Liebesapfel der Exotik, und läßt unausgesprochen, ob die Erlaubnis zur allseitigen Liebe platonisch oder als ménage à trois zu verstehen sei. Die Antwort könnte, wie schon in Goethes Stella, den Rahmen bürgerlicher Konvention sprengen.

Wahres, wildes Leben versus Konvention und unerfüllte Sehnsucht, ein weiteres Mal handelte Frisch sein zentrales Thema ab. Und wieder fand er keine reale Synthese: Nur der Traum, die Vision, die Extra-Realität kann die Spannung auflösen. Frisch muß die szenische Problematik seines Stückschlusses gespürt haben. Also ließ er allegorische Nebel wallen: »Während alles im Dunkel versinkt, ertönt Musik.«291 Ein Schlußchor personifizierter Erinnerungen, Versagungen und Sünden bringt seine Gaben zum Altar der Versöhnung. Auch der Tod stellt sich ein, und die ewige Wiederholung beschließt in hymnischer Sprache das Stück: »Ich bin aus deinem Blute das Kind, Viola, die alles von neuem erfährt, die alles noch einmal beginnt.«292 Frank Hoffmann spricht wohl nicht zu Unrecht von einer »Kitschwelt«.293 Frisch selbst nannte Santa Cruz eine Romanze. Zum einen wohl, weil die Liebesgeschichte von Elvira und ihrem Seeräuber ganz in der Tradition der Räuberromanzen steht (Rinaldo Rinaldini und seine Elvira). Zum andern, weil er beim Schreiben vermutlich gemerkt hat, daß das Grundproblem des Stücks im bürgerlichen Leben nur als Romanze, nicht als Realität aufzuheben ist.

Bei Licht besehen ist Santa Cruz eine Trivialgeschichte mit Anleihen beim Fernweh-Schlager, bei Ibsens Frau vom Meer, bei Caldérons Leben ein Traum, bei Hofmannsthal, bei Wilder und anderen literarischen Vorbildern.294 Frisch baute die Geschichte nach dem Zeitgeschmack um: Er arbeitete mit Rückblenden und epischem Kommentar, erzählte die Geschichte gleichzeitig von hinten nach vorne und umgekehrt, zugleich als Chronik wie als Enthüllungsgeschichte. Das Stück, so Frisch, »möchte die Dinge nicht spielen lassen, wie sie im Kalender stehen, sondern so, wie sie in unserem Bewußtsein spielen … also nicht Chronik, sondern Synchronik« sein.295 Frisch versuchte hier ins Dramatische umzusetzen, was er in Bin als poetisches Programm entdeckt hatte: »Man müßte erzählen können, so wie man wirklich erlebt.«296 Santa Cruz ist auch keine psychologische Studie. Die Figuren exemplifizieren den Widerstreit zwischen Sehnsucht und Versagen, Bürgerlichkeit und Ungebundenheit, Ehe und Libertinage. Sie sind nach diesen einfachen Widersprüchen konzipiert und verhehlen weder ihren Bezug zur Lebenssituation des Autors noch die etwas bieder gewordene Nachfolge des Fin-de-siècle-Traums vom dionysisch rauschhaften Leben.297

Die Kritiken der Uraufführung waren hymnisch. Der neue poetische Ton und die Wechsel zwischen Realität und Traum gefielen. »Das Erlebnis dieses Abends«, vermeldete die Neue Zürcher Zeitung am 9. März 1946, »war nicht einfach, sondern unheimlich schön. Eines Dichters Werk!« Von »unerbittlich realistischem Ausdruck unseres Zeitgefühls« war die Rede, von einem »virtuos gesponnenen Schicksalsspiel«. Und Carl Seelig philosophierte in den Basler Nachrichten noch ganz im Landistil: »Wichtiger als die Ordnung der Völker erscheint ihm [Frisch, U.B.] die Ordnung und Sauberkeit am häuslichen Herd.« Die einflußreiche Elisabeth Brock-Sulzer resümierte in den Schweizer Monatsheften: »Hier ist wesentlich Schweizerische Dramatik!«298 Schon vor der Uraufführung war Frisch mit seinem ersten Stück erfolgreich gewesen. Im Dezember 1944 hatte er Santa Cruz der Welti Stiftung für das Drama in Bern eingereicht. Im Juni 1945 sprach diese ihm den Dramenpreis in der beachtlichen Höhe von dreitausend Franken zu.

Der biographische Hintergrund von Santa Cruz ist offenkundig. Wieder einmal geht es um die Sehnsucht nach dem wahren, dem wilden, abenteuerlichen Leben und um das Verhängnis, im komfortablen Korsett einer bürgerlichen Ehe zu erfrieren, abzusterben, ein unwahres Leben zu führen. Eingesperrt in ein belagertes Land, in militärische Zwangsverhältnisse, in eine gesellschaftliche Lebensform, die ihm, trotz allen guten Willens, zutiefst fremd blieb, träumte Frisch sich in Figuren wie Bin oder Pelegrin in eine andere Welt. Und wie schon in Bin oder Die Reise nach Peking konnte der Traum auch diesmal nicht Wirklichkeit werden, da er sonst die bestehenden Verhältnisse gesprengt hätte. Daher mußte er, wider alle Radikalität des Ansatzes, schließlich zu einem etwas bieder-vernünftigen Postulat wechselseitiger Toleranz und Verständigung zurückgenommen und entschärft werden.


1946, beim Skifahren auf der Dolderwiese. Foto Max-Frisch-Archiv.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
582 s. 38 illüstrasyon
ISBN:
9783038551539
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок