Kitabı oku: «Das Lachen meines Vaters»
Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Im Limmat Verlag ist «Der Salamander» lieferbar, der vierte Kriminalroman mit dem charismatischen Ermittler Simon Tanner, sowie als E-Books alle vier Tanner-Krimis. Urs Schaub lebt in Basel.
Sebastian Schaub, geboren 1983, ist in Zürich und New York aufgewachsen. Nach einem Kunststudium an der Cooper Union in New York und dem Master an der Zürcher Hochschule der Künste arbeitet er als freier Künstler. Ausstellungen in New York, Zürich, Paris und Berlin. 2011 erhielt er einen Werkbeitrag des Kantons Zürich. Sebastian Schaub lebt in Zürich.
Als Kind verbrachte Urs Schaub sämtliche Schulferien bei Verwandten auf einem Bauernhof. Die eigene Familie lebte bescheiden in einem farblosen Quartier der Stadt, dem Vater verging als Hilfsarbeiter der chemischen Industrie allmählich sein einst so ansteckendes Lachen. Auf dem Hof gab es ein barockes, kleines Universum an farbigen Gestalten, eine schöne und eine sanfte Tante, einen Grossvater, der Geschichten wusste, einen kräftigen Knecht «Müsli», an dessen richtigen Namen sich niemand mehr erinnern konnte und der Heiratsinserate aufgab, oder Lina aus dem Dorf, die alles sammelte und die alte Tante besuchte, um mit ihr in der Küche zu schweigen. Und nicht zuletzt gab es die schöne Cousine mit den schwarzen Zöpfen, die aber leider für die Stadt schwärmte … Angelehnt an diese Erfahrungen erzählt Urs Schaub wunderbare Geschichten von kindlichem Glück und kindlicher Lebensschule fern dem eigenen, kleinbürgerlichen Zuhause.
Da E-Book enthält als Bonus die Zusatzgeschichte «Vater schwimmt in der Birs»
Urs Schaub
Das Lachen meines Vaters
Geschichten aus der Kindheit
Mit Illustrationen von Sebastian Schaub
Inhalt
Das Lachen meines Vaters
Die Frau am Fenster
Die Ankunft
Die Ketten
Die süsse Fracht
Die Fratze
Der Schrecken
Das Ei
Die Gotteszahl
Die Warnung
Die Sammlerin
Der Preis
Vater schwimmt in der Birs
Nachbemerkung
Das Lachen meines Vaters
Fürs erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.
Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.
Trotz der Enttäuschung war Hans zu diesem Zeitpunkt das Lachen noch nicht vergangen. Das kam erst viel später. Er hatte ein ansteckendes Lachen.
Das Lachen hätte ihm schon bei seiner Geburt vergehen können. Geboren in einem der letzten proletarischen Winkel der Stadt, genauer: In einer miesen Mansardenwohnung eines miesen Mietshauses inmitten eines miesen Quartiers, die Luft verpestet von der Chemie, die Hauswände schrundig grau zerfressen von all den Schadstoffen, ausgespien aus den kleinen und grossen Kaminen, die den Horizont jenes Stadtteils verstellten. Sein Vater war ein Nichtsnutz, der seinen kargen Bauschreinerlohn Monat für Monat schon in der ersten Woche nach dem Zahltag versoffen hatte und die restlichen drei Wochen unerträglich für die Welt wurde; weshalb die Mutter Tag für Tag am Morgen um vier Uhr mit einem schweren Ungetüm von Handwagen Zeitungen austragen musste, um von diesem noch kärglicheren Lohn die Familie ernähren zu können. Denn der Vater, dieser harte Knochen, dem schon der Ansatz zu einer versuchten Zärtlichkeit zu einer Grobheit geriet, wollte jeden Abend sein Fleisch auf dem Teller. Für den Rest der Familie reichte es zu einer Tasse heissen Kakaos mit eingetunkten Brotrinden.
Nach den obligatorischen Schuljahren durfte Hans keinen Beruf erlernen. Er hätte für sein Leben gern einen technischen Beruf erlernt. Am liebsten Elektriker. Oder Feinmechaniker. Aber nichts da. Er musste in die Chemische. Dort begann seine Fabrikkarriere, die weit über vierzig Jahre dauern sollte. Hans wurde Reagenzgläserwäscher. Er reinigte neben dem klassischen Reagenzglas natürlich noch andere Glasbehälter, von denen es in den chemischen Laboratorien nur so wimmelt: Bechergläser, Dosierzylinder, Erlenmeyerkolben, Gasbüretten, Gaswaschflaschen, Kjeldahl-Kolben, Mehrhalskolben, Messkolben, Messzylinder, Mischzylinder, Petrischale, Retorte, Rundkolben, Rückflusskühler, Saugflasche, Scheidetrichter, Schlenkgefässe, Spitzkolben, Standzylinder, Standkolben, Tropftrichter und so weiter.
Nachdem er sich jahrelang durch Berge von Glas gewaschen hatte, durfte er nachts arbeiten und die laufenden Versuche der Chemiker – die seine Götter in Weiss waren – überwachen und nach akribischen Anweisungen der Herren Temperaturen verändern, Rührwerke ab- und einschalten oder die laufenden Versuche nach vorgegebenem Zeitplan stoppen. Hans liebte diese Arbeit. Sie war verantwortungsvoll und machte ihn in gewisser Weise selbständig. Allein auf weiter Flur, ging er zu nachtschlafender Zeit zuverlässig wie ein kleines Präzisionswerk von einem Labor zum anderen, drehte an Schaltern, verschob Regler, prüfte Gasflammen, notierte Temperaturen und hatte das Gefühl, am grossen Plan beteiligt zu sein. Sogar der Lohn wurde stetig etwas besser. Er konnte sich mit seiner Familie Ferien leisten, und am Sonntag gab es ganz neumodisch Poulet mit Pommes frites. Nur das Schlafen am Tage war nicht ganz so einfach – wehe, wenn die Kinder zu laut waren und ihn aus dem wohlverdienten Schlaf weckten.
So begann die schlechte Laune zu seiner zweiten Natur zu werden. Die Familie lernte das Leisetreten und das Ducken. Leise, leise, der Tyrann schläft. Wenn er erwachte, hörte man schon an seinem Husten, wie es um die Laune bestellt war. Gnade uns Gott, wenn sie schlecht war.
Die Erfindung des Computers mag der Welt grossen Segen gebracht haben: Für meinen Vater war es eine Katastrophe. Seine Arbeit wurde nicht mehr gebraucht – Computer ersetzten seine manuellen Kont-roll- und Steuertätigkeiten. Man brauchte ihn nicht mehr in den heiligen Labors. Er wurde gnädig nicht gekündigt und in die Fabrikbewachung versetzt. Eine Arbeit, die er zutiefst hasste. Er verkroch sich immer mehr in seine Kellerwerkstatt, wurde mürrisch, unzufrieden und verdrossen. Das Lachen war ihm gründlich vergangen.
Er rettete sich in die Idee einer frühen Pensionierung und verschob alle Erwartungen an ein besseres Leben in diesen kommenden Lebensabschnitt. Der grosse Tag kam – es änderte nichts. Hans verkroch sich immer mehr in seine mürrische Schale. Nicht mal ein fröhliches Enkelkind mochte seine Rüstung zu durchbrechen. Er sprach immer weniger und hustete umso mehr – ein dramatischer, hemmungsloser Husten dröhnte am Morgen aus dem Schlafzimmer, setzte sich ins Badezimmer fort und begleitete jeden seiner Schritte bis in die tiefe Nacht. Zum Arzt wollte er nicht. Bis er nicht mehr schlucken konnte und ins Spital musste. Man öffnete seine Brust und stellte fest, dass der Krebs ihn schon restlos ausfüllte. Zwei Tage später war Hans tot.
Der Husten gab jetzt Ruhe. Stille trat ein.
Als Hans mutterseelenallein auf dem Friedhof aufgebahrt war, konnte er gegen Mittag endlich loslassen, eine tiefe Entspannung durchfloss seinen Körper, und ein buddhahaftes, ein himmlisches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Am frühen Nachmittag hatte sich sein seliges Friedensgesicht in ein unverschämtes, freches Lachen verwandelt, das Hans sich zu seinen Lebzeiten nie gestattet hätte.
Um vier Uhr war das Lachen meines Vaters gänzlich erloschen.
Die Frau am Fenster
Sie ist eine zierliche Frau. Flink und leichtfüssig erledigt sie noch im hohen Alter ihre täglichen Angelegenheiten. In ihrer Hand die obligate Einkaufstasche aus gummiertem Textilgewebe. Zusammenfaltbar – mit Druckknopf.
Hellblaue Augen in einem Gesicht voller Falten. Gerade Nase über schmalem Mund. Ihre Lippen erstaunlich rot. Schneeweisses Haar, nicht allzu streng nach hinten gebürstet, in einen kleinen Dutt zusammengefasst.
Betrachtet man den Dutt genau, sieht man, dass es sich um eine kleine Schnecke handelt, die von unzähligen Haarnadeln zusammengehalten wird. Im Sommer befreit sie mit den Nadeln Kirschen von ihren Steinen. Die Steine fliegen nur so, die Kirschen auch. Und der Saft spritzt wie dunkles Blut über ihre schmalen Hände.
Manchmal darf ich ihre Haare bürsten. Dazu muss ich mich auf einen Stuhl stellen. Es ist ein hartes Stück Arbeit. Hundert Bürstenstriche müssen es sein.
Solange sie lebt, vollzieht sie jeden Morgen dieses Ritual. Immer die gleichen Handgriffe, immer dieselbe Frisur. Es gibt keine Variation.
In ihrer Küche gibt es eine magische Biskuitdose, die gut gefüllt ist, egal wie oft Kinderhände sie leeren. Im Wohnzimmer einen Fernseher. Im Schlafzimmer einen Heiland als Hirte, in Öl.
Und sie nimmt mich regelmässig mit, auf den Hof.
Sie heisst Elise, aber ich darf sie nicht so nennen.
Ihr Mann ist verschollen, also zieht sie ihre beiden Töchter alleine auf. Ein halbes Leben schon arbeitet sie bei einer reichen Familie. Als man sie eines Tages nicht mehr braucht, wird sie verabschiedet. Keine Pension. Keine Abfindung. Sie beklagt sich nicht.
Sie glaubt an Gott.
Krank ist sie nie, kein einziges Mal.
Einmal ist sie unvernünftig. Zwei junge Männer kämpfen auf offener Strasse miteinander. Sie geht schlichtend dazwischen. Sie ist achtzig. Schliesslich hören die beiden Männer auf, sie aber liegt mit gebrochenem Becken am Boden.
Seltsame Eigenarten hat sie. Zum Beispiel isst sie keine Schokolade. Sie wolle sich ihren Mund nicht schmutzig machen.
Und niemals besteigt sie einen Zug.
Auto ja. Zug nein.
Wir lassen uns auf den Hof chauffieren. Von dem Onkel mit dem Auto.
Er besitzt einen Ford Taunus siebzehn M. Jeden Samstag wäscht und poliert er ihn auf Hochglanz.
Die Fahrt führt uns von der Stadt weg, in ein enges Tal. Die Strasse folgt einem sich wild schlängelnden Bach. Haben wir die Passhöhe bezwungen, ohne dass der Motor des Ford Taunus siebzehn M kocht, rollen wir ein anderes Tal hinunter. Wenn der Motor kocht, müssen wir eine Pause einlegen. Dann wird sie nervös, weil wir zu spät zum Mittagessen kommen. Unpünktlichsein kann sie nicht ertragen.
Einmal kommt uns unmittelbar vor dem Zenit des Passes ein rollender Autoreifen entgegen. Plötzlich ist er da. Vor Schreck fährt mein Onkel in den Strassengraben. Der Reifen verschwindet, ich schaue ihm durch das Rückfenster nach.
Zum Entsetzen meiner Grossmutter flucht der Onkel. Ich merke mir die Wörter.
Wir erfahren nie, woher der Reifen kam. Der Onkel beruhigt sich erst, als er sieht, dass sein Schmuckstück keinen Kratzer abbekommen hat. Beim scharfen Bremsen ist einzig das gelbe Kissen mit der gestickten Autonummer nach vorne geflogen.
Mich beschäftigt der einsame Reifen noch lange. Ich stelle mir vor, er würde nirgends anstossen und immer weiter abwärts rollen, den Rhein entlang, bis zum Meer. Danach würde der Reifen gemütlich über den Ozean schwimmen.
Ich würde das Meer auch gerne sehen.
Ich liege auf dem Rücksitz, als ob ich schlafen würde. Ich tue das oft. Dann reden die Erwachsenen.
Die Strasse führt durch ein Dorf, das für mich lange Zeit ein Ort des Schreckens bleibt.
Ich höre den Onkel von einer Frau erzählen, die ihren Mann mit einem grossen Küchenmesser aufgeschlitzt hat. Die Wohnung sei voller Blut gewesen. Und jetzt büsse sie hier im Gefängnis, inmitten anderer Schlächterfrauen ihre Tat, hoffentlich bis an ihr Lebensende.
Jedes Mal, wenn wir durch diesen Ort fahren, stelle ich mir das Gefängnis vor. Mit lauter Schlächterfrauen, alle haben ihre Männer aufgeschlitzt und Wohnungen voller Blut hinterlassen. Haben die auch Kinder?
Alle Frauen, die ich kenne, sind zart und leise. Mit Händen, die sich nicht zum Aufschlitzen von Männern eignen.
Ich stelle mir mächtige Frauen vor, mit Oberarmen wie Äste. Gummischürzen um aufgedunsene Bäuche, scharfe Messer in groben Händen. Riesige Brüste unter blutverschmierten Gesichtern. Die verfolgen mich dann prompt einige Tage bis in den Schlaf.
Elise mag solche Geschichten gar nicht. Der Onkel schon. Sie schüttelt bloss den Kopf. Er wiederholt dann die Geschichte, weil er denkt, sie habe es nicht begriffen. Beim zweiten Mal schüttelt sie nicht mehr den Kopf. Sie schaut einfach zum Fenster hinaus.
Meistens sind die Fahrten aber stumm. Sie spricht sowieso nicht viel. Der Onkel heftet seine Augen auf die Strasse. Der Verkehr nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er ist stolz auf seine Fahrkunst.
Er ist ein miserabler Autofahrer. Ständig ruckelt und kratzt es beim Schalten. Nie kann er das Steuer ruhig halten. Hin und her drippeln nervös seine Hände, auch auf gerader Strasse. Als müsse er uns durch ein vermintes Feld fahren.
Am liebsten liege ich auf dem Rücksitz. Oder ich lege mein Kinn auf die Lehne des Vordersitzes und fahre. Kuppeln. Schalten. Blinken. Und Gas geben!
Ich fahre viel, viel schneller als mein Onkel.
Wenn ich an Grossmutter denke, sehe ich sie auf einem Stuhl am Fenster sitzen. Der Stuhl steht etwa ein Meter vom Fenster weg, in einem Winkel von 45 Grad. Angegraute Tüllvorhänge hängen vor dem Fenster, zugezogen. Sie sitzt ganz still. Ihre Hände liegen im Schoss, die Fingerspitzen berühren sich leicht. Durch den Vorhang erscheint die Aussenwelt aufgelöst. Ohne Konturen. Entrückt.
Ein Schwarz-Weiss-Foto, das zu lange belichtet worden ist.
Und trotzdem sitzt sie am liebsten am Fenster. Der Stuhl ist das letzte Möbelstück, das man ihr gelassen hat. Elise sitzt. Tagelang. Monatelang.
Sie sieht jetzt schlecht. Sie kann nicht mehr in der kleinen Bibel lesen, einem Lederbuch mit rotem Schnitt, das sie oft in ihren Händen hält.
Sie starrt in die Helligkeit.
Elise glaubte ein Leben lang, dass sie eines Tages ins Helle gehen wird.
Die Ankunft
Wie jedes Jahr vor den grossen Ferien erreichen wir den Hof um die Mittagszeit. Wir halten vor der Sonntagstür. Sie öffnet sich, der Onkel schaltet den Motor aus. Die beiden Tanten winken zur Begrüssung. Beide kneten gleichzeitig mit den Händen ihre Schürzen. Sie machen das, auch wenn sie keine nassen Hände haben. Die eine ist alt, die andere sanft.
Der Rest der Familie sitzt bereits am langen Tisch in der Küche.
Die Küche ist der wichtigste Raum. Im dunklen Teil wird gekocht und geheizt, im Hellen wird gegessen.
Neben dem Holzofen steht ein grosser Kochherd mit pechschwarzen Eisentüren. Darin wird auch Brot gebacken. Die Decken und Wände sind voller Russ.
Auf der Grenze zwischen hell und dunkel steht, ein wenig schief, ein kolossaler Küchenschrank. In seinem Innern warten Heerscharen von Töpfen, Pfannen, Schüsseln, Schalen, Tellern, Tassen, Gläsern und Bestecken.
Ein heilloses Durcheinander drängt sich auf der Ablagefläche. Dosen, Flaschen, Vorratsgläser, Medikamente, Gewürze, ein Radio. Eine Schachtel mit Schlüsseln und viel Kleinkram.
An den Seitenwänden des Schranks baumeln getrocknete Pflanzen und Kräuter.
Ganz oben auf dem Schrank stapeln sich Blechschachteln für Gebackenes, neben irdenen Gefässen und Krügen.
Ein hoffnungslos überladener Dampfer, der hier vor langer Zeit gestrandet ist.
Vor dem Fenster steht der grosse Tisch. Neben der Tür, die zu den Ställen führt, gibt es ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel. Jeder, der zum Essen kommt, wäscht sich die Hände mit kaltem Wasser und sieht sich flüchtig ins Gesicht. Fünfmal am Tag.
Jetzt sehen alle dem eintretenden Besuch aus der Stadt entgegen.
Ich begrüsse der Reihe nach. Ich nenne alle Frauen Tante, ausser meiner Cousine. Ihre blauschwarzen Zöpfe sind schon wieder länger.
Alle Männer nenne ich Onkel, ausser dem Knecht.
Am liebsten begrüsse ich den ältesten Onkel.
Im Sommer sitzt er vor dem Haus. Im Winter auf dem Ofen. Er weiss alle Geschichten vom Friseur, der viel gescheiter und schlauer ist als wir alle.
Ich lehne mich an sein Knie und höre ihm zu. In seiner Westentasche steckt eine silberne Taschenuhr, die ich manchmal in der Hand halten darf. Mir gefällt das leise Pling, mit dem der Deckel aufspringt.
Vor dem zweitältesten Onkel habe ich Angst.
Er mistet die Ställe aus. Manchmal finden wir ihn bewusstlos auf dem Miststock oder in einer Stallecke. Er erhält täglich eine Ration aus dem grossen Kellerfass. Wenn eine Kuh Bauchweh hat, bekommt sie das Gleiche. Nach der Arbeit geht er ins Dorf. Wenn er mir über die Haare streicht, tut es weh.
Im Spätsommer pflückt er Früchte, in den wes – penumschwärmten Kronen der Birnbäume und in den Kirschbäumen. Oder in buschigen Zwetschgenbäumen. Man sieht nur noch seine Beine. Er ist auch schon von der Leiter gefallen.
Später wird er in einem Männerheim verrecken, sagen sie im Dorf.
Der jüngste Onkel ist der Chef, weil er die Meisterprüfung gemacht hat und eine schöne Frau geheiratet hat. Er fährt den grossen Traktor.
Sein Bruder hat die Meisterprüfung nicht gemacht und findet keine Frau. Er fährt den kleinen Traktor.
Die beiden Tanten, die uns unter der Tür begrüsst haben, arbeiten in der Küche und im Garten. Sie betreuen die Hühner und kochen den Schweinen Kartoffeln. Die jüngere Tante arbeitet auch auf dem Feld. Sie ist die Sanfte.
Die schöne Frau vom Chef hilft nicht in der Küche.
Sie hat ihr eigenes Motorfahrrad. Damit flitzt sie im ganzen Dorf herum. Sie kann auch Traktor fahren und melken. Die Frauen im Dorf sind eifersüchtig auf sie. Einmal im Monat ist sie die Königin. Die Wäschekönigin.
Der Tag der Wäsche ist etwas ganz Besonderes. Die Männer stellen am Vorabend den grossen Waschofen hin. Sonst haben sie mit der Wäsche nichts zu tun.
Die Frauen heizen früh am Morgen mit grossen Holzscheiten ein, schleppen Wasser, bringen die Wäsche und türmen sie zu Bergen.
Dann beginnt der grosse Tanz.
Der Hof hüllt sich in Dampf. Es riecht nach Seife, der Waschofen glüht.
Brühen, rühren, schöpfen, spülen, wringen, strecken, bleichen und aufhängen. Die Wäscheteile fliegen von einer Hand zur andern. Alle Frauen sind an der Schlacht beteiligt. Sie tragen schwere Stiefel und Schürzen. Die Ärmel ihrer Blusen sind bis unter die Achseln aufgekrempelt. Mittendrin die schöne Tante, wie eine Befehlshaberin aufrecht im Pulverdampf.
Gespült wird die Wäsche im grossen Brunnen, ausgewrungen von Hand. Die grossen Leintücher zu zweit. Was die immer lachen! Man hört es über den ganzen Hof. Danach ist jeder freie Platz mit Wäschestücken beflaggt.
Armeen von steifen Männerhosen, aufgeregte Hemdchen und Leibchen, wild gewordene Hemden, unbegreiflich grosse Unterhosen, Schwärme von Socken und Strümpfen, eine fröhliche Kompanie Taschentücher. Und wie immer, an der Wäscheleine im Garten, verschieden grosse BHS und Höschen.
Die locken freche Winde an.
Einmal verweht ein stürmischer Sommerwind die zarten Wäschestücke. Verstreut liegen sie auf Rosen und Himbeersträuchern.
Ich weiss beim Pflücken, welche von meiner Cousine sind. Und welche von der schönen Tante.
Wenn die Gäste aus der Stadt endlich an dem langen Tisch Platz gefunden haben, wird es still in der grossen Küche. Die alte Tante spricht ein Gebet.
Es wird aufgetragen. Bis auf dem Tisch kein Platz mehr ist. Und in den Bäuchen bald auch nicht mehr.
Ich möchte endlich in den Stall zu meinen Freunden.
Die Leute lachen über mich, denn ich begrüsse jedes Tier einzeln.
In den Winterferien, wenn es schwerfällt, das warme Bett in der bitterkalten Dachkammer zu verlassen, ist es besonders schön, in den warmen Stall zu kommen. Ich lege meine Wange an den seidenwarmen Bauch der Kuh. Ein paarmal schlafe ich wieder ein. Der Eimer kracht auf den Boden und die schäumende Milch fliesst in den Graben. Dann schäme ich mich.
Das Essen dauert viel zu lange. Ich bin schon fertig. Ich sammle auf einem Teller alle Knochen. Dann endlich darf ich zu ihm.
Prinz lebt feudal in seinem eigenen Haus. Es steht an einer strategisch günstigen Stelle des Hofes. Er kann das gesamte Geschehen überblicken. Prinz ist ein Wesen mit Prinzipien. Beim Essen darf man ihm nicht zuschauen. Solange man schaut, isst er nicht. Er liebt es nicht, wenn man ihm lange in die Augen guckt. Auch langes Reden macht ihn unsicher. Am liebsten hat er Schweigen. Oder knappe Anweisungen. Zur Begrüssung hält er unaufgefordert die rechte Pfote hin.
Manchmal darf ich mich in sein Haus legen. Dann wachen wir gemeinsam. Kommt ein Fremder, runzeln wir die Stirne, gucken uns an und knurren gemeinsam. Er mit tiefer Stimme.
Zweimal am Tag spanne ich ihn vor den Milchwagen, und wir fahren zur Käserei. Er bestimmt das Tempo. Und weiss auch den Weg. Man darf ihn nicht hetzen. Aber er kennt seine Pflicht.
Und so traben wir zweimal täglich durchs Dorf und zurück. Ich mit vor Stolz geschwellter Brust. Er mit gutmütiger Grandezza.
Da ich noch klein bin, wuchtet der Käsereigehilfe die vollen Kannen. Ich sorge dafür, dass jeder Deckel wieder seine Kanne findet. Und ich darf den grossen Hahn des Molketanks bedienen. Die Kunst besteht darin, den Hahn im richtigen Moment wieder zu schliessen, kurz bevor die heisse Flüssigkeit die volle Kanne überschwemmt. Durch den Dampf ist die Sicht behindert. Man muss sich auf sein Gefühl oder besser noch auf seine Ohren verlassen.
Wenn ich grösser bin, werde ich die schweren Milchkannen mit eigener Hand vom Milchkarren nehmen und sie genauso sicher und elegant zur Milchwaage rollen können wie all die starken Bauernsöhne. Ich werde die Kanne kippen und auf ihre Kante stellen. Mit einer Hand am Deckelgriff. Zur Stabilisierung und Richtungsweisung. Mit der anderen Hand die Drehbewegung der Kanne um ihre eigene Achse antreiben. Bis sie schön ins Rollen kommt.
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