Kitabı oku: «Wintertauber Tod», sayfa 6

Yazı tipi:

Jetzt blickte sie ihn an.

Kann ich heute bei Ihnen bleiben?

Ja, sicher können Sie das, Solveig. Das ist kein Problem.

Gut. Da bin ich froh.

Dann hörten sie schweigend dem Regen zu.

FÜNF

Schon eine ganze Weile lauschte er angestrengt in die Dunkelheit. Doch schlaftrunken wie er war, konnte er das Geräusch lange Zeit nicht einordnen. Zuerst schien es ihm, als kämen die Laute von draußen. Oder von dem mächtigen Dachboden, der sich unsichtbar wie ein dunkler Himmel über ihm wölbte. Einige Zeit hatte dort ein Steinmarderpaar gehaust und ihn in der Nacht durch geräuschvolles Treiben zu erschrecken gepflegt. Plötzlich erinnerte er sich, dass ja Solveig im Gästezimmer übernachtete, und er fragte sich, ob auch sie schlaflos dalag und sich über die regelmäßig auf- und abschwellenden Töne wunderte. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass die Quelle der Geräusche in ihrem Zimmer sein musste. Er machte Licht und setzte sich auf, um besser zu hören.

Es war in der Tat Solveig; und sie weinte und schluchzte bitterlich. Leise öffnete er die Tür. In ihrem Zimmer war es dunkel.

Solveig, ich bin es, Tanner. Erschrecken Sie nicht. Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser.

Sie machte das kleine Licht neben dem Bett an und schnäuzte sich umständlich.

Vielen Dank. Entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe.

Nein, nein. Ich war sowieso gerade wach. Brauchen Sie noch etwas anderes? Haben Sie vielleicht Hunger?

Nein. Aber könnten Sie sich nicht einen Moment zu mir setzen?

Nur solange, bis ich wieder einschlafen kann.

Sofort kuschelte sie sich erneut in ihre Decke. Tanner setzte sich auf den Bettrand. Sie atmete jetzt regelmäßig und ihr Gesicht entspannte sich zusehends.

Machen Sie bitte das Licht aus. Es geht mir schon besser.

Tanner sorgte für Dunkelheit und hütete sich zu fragen, warum sie weinte.

Nach einer Weile atmete sie tief und ruhig. Er wartete noch ein paar Minuten, dann erhob er sich leise. Aber er irrte sich, als er glaubte, sie würde bereits schlafen.

Tanner, Sie hatten Recht.

Ach, Sie sind noch wach.

Er setzte sich wieder.

Mit was soll ich Recht gehabt haben?

Ja, Sie wissen schon. Warum ich nicht in Wien bin.

Ach so.

Ich habe Sie heute Mittag dafür gehasst, dass Sie mich durchschaut haben, ohne mich zu kennen. Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als es zuzugeben.

Das verstehe ich. Und es tut mir natürlich leid, dass ich Recht habe. Möchten Sie denn darüber reden?

Nein, jetzt nicht. Ich habe schon genug geweint und bin hundemüde.

Sie gähnte ausgiebig.

Ich kann es nur noch immer nicht begreifen, wie Sie das gesehen haben. Das Einzige, mit dem Sie falsch lagen, war, dass er nichts von der Schwangerschaft gewusst hat. Alles andere ist genau so passiert.

Er dachte schon, dass sie erneut zu weinen anfangen würde, doch sie gähnte nur noch einmal geräuschvoll.

Bleiben Sie bitte noch eine Weile bei mir. Ich werde gleich einschlafen.

Nach einer Weile drehte sie sich wieder um.

Tanner, wenn Sie mich einen Moment lang in den Arm nehmen würden, könnte ich noch besser einschlafen. Wäre das zu viel verlangt?

Er antwortete nicht, er tat es einfach. Den Gedanken, dass er selbst dann vielleicht nicht mehr so schnell einschlafen würde, unterdrückte er. Als er sie in den Arm nahm, durchlief ein Schauer ihren Körper, danach entspannte sie sich. Den nächsten Gedanken konnte er nicht mehr so leicht unterdrücken.

Wie lange war es her, dass er den geliebten Körper im Arm gehalten hatte?

Solveig war zwar jünger als Elsie, hatte aber den gleichen, ausgesprochen weiblichen Körper. Er konnte nicht umhin, das zu spüren, denn auf seinem rechten Arm lag das süße Gewicht ihrer Brust. Er wagte nicht sich zu rühren. Aber atmen musste er ja. Und da … sie duftete, wie soll man sagen, sie duftete, als wäre sie mit Elsie verwandt. Duftverwandt. Tanner neigte den Kopf und legte behutsam seine Wange an die ihre. Sie wehrte sich nicht. Im Gegenteil, sie kam ihm entgegen. Es herrschte absolute Stille. Die Welt bestand nur noch aus diesem Zimmer, aus diesem Bett. Aus Solveig. Wirklich nur Solveig?

In Tanner geriet etwas in Bewegung. War es die Zartheit ihrer Wange? Ihr Duft? Irgendwo tief im Bauch fing es an. Eine konzentrierte Wärme begann sich von dort auszubreiten. Sie war zu Beginn nicht größer als eine Murmel. Eine erwärmte Murmel. Als hätten heiße Kinderhände sie aufgeladen. Dann breitete die Wärme sich gleichmäßig aus. Als sie seine Brust erreichte, spürte er, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Die Augen liefen über, und die Tränen rannen über seine Wange. Blitzschnell hob er seinen Kopf, denn er wollte nicht, dass Solveig seine Tränen spürte. Sie aber zog ihn ganz nahe an sich heran. Mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte.

Weinst du, Tanner?

Er nickte.

Das ist gut.

Sie seufzte tief auf, und er zitterte. Das war das erste Mal, dass er nach Elsies Tod weinen konnte.

Lass die Tränen fließen und rede morgen. Wenn du willst.

Als sie eingeschlafen war, ließ er sie langsam in die Kissen gleiten und wartete, bis er ganz sicher war, dass sie tatsächlich schlief. Dann ging er ins Bad, zog sich aus und stellte sich unter den heißen Wasserstrahl.

Hatte er soeben Elsie verraten?

Die Tränen kamen erneut, und er weinte hemmungslos, bis sie versiegten. Dann trocknete er sich ab, legte sich ins Bett – und schlief auf der Stelle ein. Allerdings war er nach einer Stunde schon wieder hellwach. Er stand auf, ging zu Solveig ins Zimmer.

Sie hatte sich kein bisschen gerührt. Ein schmaler Lichtschein von der Straßenlaterne, die etwas schief vor dem Haus hing, modellierte ihr Gesicht. In diesem Licht wirkte sie jung und reif zugleich. So unglaublich vertraut und fremd. Die Brust hob und senkte sich gleichmäßig, ein schlanker Fuß schaute unter der Decke hervor. Er hätte ihn gerne angefasst, diesen Fuß. Er verbot es sich.

Wie er vermutet hatte, fand er danach natürlich keinen Schlaf mehr. Eine Weile lag er im Dunkeln und versuchte unter Aufbietung aller Kräfte nicht weiter über Solveig nachzudenken. Er zwang sich stattdessen zu einer analytischen Beschäftigung mit Marnier, drehte sich auf den Rücken, schaltete das Licht wieder an und starrte an die Decke.

Was war nur los mit Marnier? Er konnte sich immer noch keinen Reim auf sein Verhalten machen.

Bei seinem Besuch am Nachmittag hatte Marnier ihm in einem wortreichen Monolog von den beiden Beamten berichtet, die ihn wohl zünftig in die Mangel genommen hatten. Offensichtlich jedoch ohne Resultat.

Plötzlich hatte Tanner genug von dem Geschwätz gehabt und war in die Offensive gegangen.

Ob er denn Lerch und Thommen – denn um niemand anderen handelte es sich bei den Beamten – auch erzählt habe, dass er, Marnier, vor dreizehn Tagen Andrés Motorrad aus dem Kofferraum seines Kombis herausgetragen und hinters Haus gestellt hatte?

Da war Schluss mit lustig.

Sind Sie wahnsinnig, Mann? Was ist denn in Sie gefahren? Da ist man die ganze Zeit freundlich, lädt jeden zweiten Tag zu eine Kaffee ein und das ist dann die Dank! Wir sind doch Nachbarn und noch befreundet dazu. Was, verdammt noch mal, wollen Sie mir denn über … äh … unterstellen? Dass ich den Jungen umgebracht habe? Eine Fantasie haben Sie, malade ist das! Eine Impertinenz sondergleichen. Ich verlange eine Entschuldigung, Tanner!

Marniers Gesicht war mittlerweile krebsrot angelaufen. Tanner betrachtete neugierig sein Gegenüber. Marnier war ein schlechter Schauspieler. Alles in allem bot er kein besonders überzeugendes Theater. Seine Entrüstung war zu übertrieben, um überzeugend zu sein, was er wahrscheinlich sogar selber spürte. Das machte die Sache auch nicht besser. Tanner wartete, bis die Energie etwas abflaute.

Marnier, lassen Sie uns das abkürzen. Ich appelliere an Ihre Vernunft. Warten Sie nicht, bis Lerch und Thommen darauf kommen, denn dann stehen Ihre Karten schlecht. Es gibt einen seriösen Zeugen, der Sie beobachtet hat und der das auch vor Gericht aussagen wird, wenn es sein muss.

Marniers Gesicht leuchtete jetzt dunkelrot. Er keuchte.

Ein Zeuge? Sie meinen wohl eher eine Zeugin. Diese Nutte aus Wien, merde! Die wollte dem Jungen an die, wie sagt man, Lingerie. Glauben Sie der kein Wort. Die lügt, sobald sie aufmacht den Mund.

Tanner hob beschwichtigend die Hand.

Marnier, machen Sie sich nichts vor, es lässt sich alles untersuchen. Was, wenn man Ihre Fingerabdrücke am Motorrad findet? Oder Ölflecken und Kratzspuren vom Motorrad in Ihrem Auto? Vielleicht hat Sie auch noch ein weiterer Zeuge gesehen, der bis jetzt noch keine Gelegenheit hatte, davon zu erzählen. Außerdem unterstelle ich Ihnen gar nichts. Für Ihr Verhalten kann es hundert verschiedene Gründe geben. Wenn Sie es aber im Zusammenhang mit einem derart schwerwiegenden Fall verschweigen, wird es für Sie möglicherweise verhängnisvolle Folgen haben. Ich stehe zu meinem Wort, dass ich Ihnen helfe, aber dann müssen Sie mir bitteschön auch alles erzählen.

Marnier erhob sich mit ungestümer Bewegung.

Ich habe Ihnen gar nichts zu erzählen. Und jetzt muss ich arbeiten.

Ohne ein weiteres Wort hatte er die Gaststube in Richtung Küche verlassen.

Dieser Marnier war doch ein Schwachkopf. Mein Gott.

Tanner seufzte bei der Erinnerung an das Gespräch und drehte sich in seinem Bett auf die Seite. Das Licht ließ er weiter brennen. Marnier hatte möglicherweise Angst und verhielt sich deswegen so vollkommen irrational. Es war ja nur eine Frage der Zeit, bis Solveig von den beiden Beamten vernommen würde. Dann würden sie Marnier ins Kreuzverhör und sein Auto unter die Lupe nehmen – und er wäre wahrscheinlich geliefert.

Nach dem Gespräch mit Marnier war Tanner noch eine Weile in der Gaststube sitzen geblieben und hatte gedankenverloren mit dem Stiel des Kaffeelöffels weiße Linien in die schwere Tischdecke gefurcht. Bis er plötzlich innehielt, auf das Tischtuch starrte und sich fragte, wo er das schon einmal gesehen hatte.

Ach ja, Hitchcock.

Er erinnerte sich an die berühmte Szene, wo die Heldin, gespielt von Ingrid Bergmann, mit einem Messer ebenso weiße Linien auf der Tischdecke zog, dann plötzlich durchdrehte, weil es sie an die Spuren im Schnee erinnerte, vielmehr an eine Situation, die eine sehr frühe Kindheitserinnerung überdeckte, in der sich die Heldin schuldig gefühlt hatte. Oder so ähnlich.

In diesem Moment betrat Frau von Sachsenstein die Gaststube. Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?

Ohne seine Antwort abzuwarten, setzte sie sich ihm gegenüber. Sie war ebenso elegant wie beim ersten Treffen, schien jedoch noch blasser zu sein. Ihre Haut war beinahe durchsichtig. Tanner erschrak vor dem Ausdruck, den er in ihren Augen las.

Frau von Sachsenstein, der Tod von André tut mir aufrichtig leid. Wir haben einfach zu spät von seinem Verschwinden erfahren.

Sie schaute ihn mit einem merkwürdig abwesenden Blick an, und ihre Stimme war sehr leise.

Was ist Ihr Preis?

Pardon, Madame, wie meinen Sie?

Ich möchte Sie engagieren. Der Preis spielt keine Rolle.

Haben Sie denn kein Vertrauen in die Polizei?

Diese Frage tat sie mit einer Handbewegung ab, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen.

Also?

Schauen Sie, Madame. Mich kann man nicht engagieren. Ich bin kein Privatdetektiv. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich alles daran setzen werde, den Mörder Ihres Sohnes zu fassen.

Wenn es nicht das Geld ist, was ist es dann?

Ich bin bereits involviert. Genügt Ihnen das als Antwort, Frau von Sachsenstein?

Sie lächelte ein mattes, wenn auch bezauberndes Lächeln, das erahnen ließ, wie schön sie einst gewesen sein musste.

Werden Sie mich auf dem Laufenden halten, Herr Tanner? Hier ist meine Karte.

Tanner nahm die Karte entgegen und betrachtete einen Augenblick lang das blütenweiße Rechteck. Schlagartig verstand er, weshalb man so einen bedruckten Karton Visitenkarte nannte. Dieses Stück Papier gab tatsächlich in einem gewissen Maße Aufschluss über die Besitzerin der Karte. Das kleine Ding in seiner Hand war von erlesener Ausgewogenheit und Schönheit.

Stimmt was nicht mit meiner Karte?

Nein, nein. Verzeihen Sie.

Tanner lächelte sie an.

Wer wird eigentlich eines Tages Ihr Vermögen erben, Frau von Sachsenstein?

Zum größten Teil mein Bruder. Und es wird schon bald sein, denn meine Krankheit ist unheilbar. Die Verwandtschaft meines verstorbenen Mannes ist in den letzten Jahren arg geschrumpft. Sein eigener Sohn ist vor etlichen Jahren bei einer spektakulären Polarexpedition umgekommen. Vielleicht haben Sie davon in der Zeitung gelesen. Haben Sie sonst noch Fragen?

Ja, zu André.

Fragen Sie.

Was war sein Problem?

Er hat sehr früh seinen Vater verloren.

Und Herr von Sachsenstein?

Kam ja erst spät, und André hat ihn verachtet. Und Winfried hatte kein besonderes Geschick, das irgendwie zu ändern.

Sollte in Ihren Augen Ihr Bruder eine Art Vaterersatz sein?

Das hat sich vielleicht mein Bruder eingebildet. Ich wollte André einfach aus der Schusslinie haben.

Schusslinie?

Mein Mann hatte etwas antiquierte Vorstellungen davon, wie ein junger Mann zu sein hat.

Aha. Ich verstehe.

Tanner steckte die Karte ein und dachte, dass wahrscheinlich ein draufgängerischer Polarforscher mehr nach dem Geschmack des Herrn von Sachsenstein gewesen wäre, als ein grüblerischer Junge, der Kochen lernen wollte und die Musik von Björk liebte.

Wollte er denn wirklich Koch werden?

Es schien für ihn zumindest eine Möglichkeit zu sein, der Welt meines Mannes zu entfliehen. Mehr noch: meinem Mann mit diesem Berufswunsch eins auszuwischen. Das ist ihm auch ganz gut gelungen.

Über ihr äußerst beherrschtes Gesicht huschte bei dieser Bemerkung ein Lächeln, als freute sie sich darüber noch im Nachhinein. Dann wirkte sie erneut eigenartig abwesend, wie zu Beginn des Gesprächs, und er beschloss, keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Die wichtigsten Fragen, nämlich welchen gefährlichen Umgang ihr Sohn gepflegt hatte und vor wem er denn so panische Angst gehabt hatte, würde sie ihm auch nicht beantworten können.

Tanner wälzte sich in seinem Bett zum zehnten Mal auf die andere Seite und hoffte, dass wenigstens Solveig im Nebenzimmer den Rest der Nacht durchschlafen würde.

Schließlich löschte er das Licht, wild entschlossen, doch noch einmal einzuschlafen. Es zumindest zu versuchen, denn mit Grübeln kam er auch nicht weiter.

Drei Stunden später weckte ihn ein energisches Klopfen an der Tür, und gleich darauf erkannte er Solveigs Stimme, die ihn zum Frühstück rief.

Sie hatte alles liebevoll vorbereitet, hatte Kaffee gekocht, Milch geschäumt, Brot geröstet, inklusive Frühstücksei. Nachdem er sein Ei gegessen hatte, wollte sie wissen, warum er geweint hatte. Zögernd und stockend begann er von Elsie und von allem, was mit ihr zusammenhing, zu erzählen. Dass es in Marokko eine Reihe bestialischer Kindsmorde gegeben hatte und eines der ermordeten Kinder das Kind der Tochter seiner Haushälterin in Marokko gewesen war. Dass er versprochen hatte, den Mörder zu finden, dass man ihn deswegen des Landes verwiesen und ihn eine Spur und vage Vermutung hierher in diese Landschaft verschlagen hatte, denn hier waren vor Jahren auch eine Reihe von Kindern auf dieselbe bestialische Art umgekommen. Da hatte er Elsie kennen gelernt. Auch sie hatte ein Kind verloren, und sowaren sie eben ein Paar geworden.

Über die Umstände ihres Todes vermochte er an diesem Morgen keine Details zu erzählen. Solveig war sensibel genug, ihn nicht zu drängen.

Nachdem er eine Weile gesprochen hatte, fühlte Tanner sich leer und auf eine merkwürdige Art desorientiert. Als wäre der Boden, auf dem er sich bewegte, durch das Erzählen ein Stück weit weich und unsicher geworden. Solveig verstand und wechselte das Thema. Sie wollte auf die andere Seeseite gefahren werden, denn sie hatte sich dazu entschieden, den Arbeitsplatz zu wechseln. Nachdem Tanner sie zu Stocker gefahren hatte, setzte er sich wie in Trance zurück an den Frühstückstisch und bereute, dass er sie einfach so hatte ziehen lassen. Unfähig, sich zu bewegen oder irgendetwas Vernünftiges zu unternehmen, saß er da. Erst nachdem er schließlich doch den Frühstückstisch aufgeräumt und das Geschirr von Hand gewaschen und abgetrocknet hatte – er hatte doch allen Ernstes vergessen, dass es einen Geschirrspüler gab –, gelangte er allmählich zurück in die Wirklichkeit.

Dann raffte er sich auf und rief seinen Freund, den Semiotiker an, der aber mit der Entschlüsselung der Zeichen noch nicht weitergekommen war. Die Zeichen seien keinen ihm bekannten Bild- oder Zeichensystemen entlehnt, das ließe sich mit Sicherheit sagen. Er sei nicht einmal sicher, ob man darin jemals so etwas wie eine Systematik oder einen Sinn würde entdecken können. Tanner dürfe nicht allzu viel von ihm erwarten – immerhin habe man für die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen auch den Stein von Rosette als Vergleichsmaterial gebraucht. Abgesehen davon, sagte der Semiotiker, gehe es dem Täter ja vielleicht nur um den Symbolgehalt des Blutes, und die Formensprache der Zeichen selbst sei purer Unsinn. Dass sich einige Zeichen glichen, müsse man dann in diesem Falle mit einem Mangel an Fantasie erklären. Aber Tanner möge bitte nicht verzweifeln, er werde weiter an dem Problem arbeiten und sich sofort melden, sollte etwas dabei herauskommen.

Tanner war zwar nicht verzweifelt, aber enttäuscht war er durchaus, hatte er sich doch schneller eine Lösung des Rätsels erhofft. Zum Beispiel eine Antwort auf die Frage nach der kulturellen Herkunft der Zeichensprache, ob die Zeichen also an irgendetwas erinnerten und man Vergleiche ziehen und wenigstens spekulieren könnte. Irgendetwas eben, das Hoffnung auf eine mögliche Enträtselung machte.

Gleich anschließend wählte er die Nummer von Michel.

Lieber Michel, mein Semiotiker kann sich noch keinen Reim auf die Zeichen machen. Und sonst?

Auch hier nichts Neues, bis auf eine verschwundene Zeugin aus dem Restaurant von diesem Marnier. Ich habe es vorhin zufällig mitbekommen, als der Lerch lauthals ausrief, dass er immer die unangenehmen Sachen erledigen müsse und der Thommen den Chef spiele.

Ja, in etwa so stelle ich mir das Gespann Thommen-Lerch auch vor.

Du, Tanner, du weißt nichts von der verschwundenen Dame? Nur so rein zufällig. Sie heißt Sanders.

Solveig Sanders. Doch, rein zufällig kenne ich sie und ich weiß auch, wo sie sich aufhält. Sie hat die Stelle gewechselt und arbeitet ab heute drüben beim Stocker.

Wow, ich bin beeindruckt! Danke für die Information. Ich werde dieses Wissen aber vorerst für mich behalten, wenn du gestattest. Der Lerch soll sich nur mal ein bisschen abrackern.

Beide schwiegen eine Weile.

Sag mal, Tanner, kann es sein, dass es dir nicht gut geht? Du klingst so entrückt, wenn ich das mal sagen darf.

Nein, nein. Es ist nichts. Ich habe nur nicht besonders gut geschlafen.

Okay, ich verstehe. Was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend wieder einmal beim Stocker zum Essen treffen? Ich würde dich sogar einladen.

Tanner zögerte. Aber nur kurz.

Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee, Michel. Und was verschafft mir die seltene Ehre?

Es gibt keinen besonderen Anlass. Und tu nicht so, als hätte ich dich noch nie eingeladen! Also, um acht Uhr beim Stocker. Ich melde uns an.

Tanner stand am Fenster und starrte eine Weile auf See und Hügel. Die Nebelschwaden drückten schwer auf die Landschaft. Der Regen hatte den Schnee zum Teil aufgeweicht, zum Teil weggespült. Die Landschaft wirkte verlebt und öde wie der Boden einer alten Bahnhofshalle.

Dies war definitiv kein Tag zum Spazierengehen.

Nachdem er lange ruhelos durch die Wohnung gegangen war – man konnte veritable Rundgänge durch diese Wohnung machen, denn sie war wirklich groß – und lange und ergebnislos die Bilder der Blutzeichen studiert hatte, griff er schließlich zum Telefonhörer.

Hallo, Marnier. Hier ist Tanner. Ich wollte Sie –

Was für ein Zufall! Gerade wollte ich Sie auch anrufen.

Aha. Das trifft sich ja gut.

Ja, Tanner. Ich muss mit Ihnen reden. Kann ich zu Ihnen kommen? Ich möchte nicht so gern gehen ins Restaurant, verstehen Sie?

Zehn Minuten später stand Marnier mit einem in Zeitungspapier eingewickelten Paket vor der Haustür.

Guten Tag. Ich habe Ihnen hier eine Rest von Wildterrine mitgebracht. Etwas Brot und hier –

Er zog umständlich eine Weinflasche aus seiner Manteltasche.

… ein Rotwein. Damit will ich mich äh … für meine letzte Auftritt entschuldigen, verstehen Sie? Es tut mir leid, dass ich Sie so … äh … übergefahren habe.

Ist gut. Sie müssen sich nicht entschuldigen. Kommen Sie, wir gehen in die Küche.

Tanner stellte Gläser, Teller und Besteck auf den Tisch. Marnier entkorkte die Flasche, Tanner schnitt das Brot. Sie stießen an und kosteten von der Terrine.

Oh là là, Marnier. Die Terrine ist großartig und der Wein das beste Gegenmittel gegen dieses trübe Wetter. Also, herzlichen Dank für diese überraschende Einladung.

Warum haben Sie mich eigentlich angerufen, Tanner?

Erstens wollte ich Ihnen mitteilen, dass Frau Sanders ab sofort nicht mehr bei Ihnen arbeiten kann. Und zwar aus psychischen Gründen. Diese zufällige Mitwisserschaft um Ihre bislang ungeklärte Handlung mit dem Motorrad von André hat sie in einen Loyalitätskonflikt gebracht, der sie innerlich zu zerreißen droht. Darüber hinaus wollte ich Ihnen fairerweise mitteilen, dass es jetzt nur noch eine Frage der Zeit ist, bis Solveig ihre Beobachtung der Polizei mitteilen muss. Ich betone: muss. Marnier, seien Sie bitte vernünftig. Es wäre tausendmal besser, Sie würden der Polizei den Hergang aus freien Stücken schildern, bevor sie die Sache von Solveig erfährt.

Marnier stützte seinen Kopf auf die Hände und starrte auf seinen Teller. Dann gab er sich einen Ruck und blickte Tanner an.

Also gut. Sie haben Recht. Und ich war eine Idiot, dass ich es nicht gleich offen erzählt habe. Aber die Sache ist so verwickelt, und ich hatte Angst, dass alles nur gegen mich spricht. Die Angst habe ich natürlich immer noch, aber – was soll’s!

Erzählen Sie doch einfach mal der Reihe nach, Marnier.

Tanner füllte beide Gläser randvoll mit Wein. Er war wild entschlossen, so lange mit Marnier zu trinken, bis er die Wahrheit erfuhr. Auch wenn er sonst tagsüber nie Alkohol zu sich nahm – jetzt fühlte er eine unbändige Lust zu trinken. Und sollte er unter dem Tisch landen … egal, solange es der Wahrheitsfindung diente!

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