Kitabı oku: «Geburtsort: Königsberg», sayfa 2

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Er steckte sein Zettelchen mit diesen Notizen in die Hosentasche und zeigte sich immer noch etwas enttäuscht – war das doch so ein schöner Name einer Stadt und es stand so wenig im Lexikon. An seiner Reaktion merkte ich, dass er ganz andere Informationen erhofft hatte. Aber ich konnte ihm auch keine geben. Jedoch allein dadurch, dass er im Lexikon nachgelesen hatte, wurde mir bewusst, dass ihn alles, was um mich herum war, interessierte. Oder betrachtete er mich als eine Art Exot, weil ich nun einmal nicht in der jetzigen DDR geboren war? Es gab doch hier viele Umsiedler, das hätte ihn doch gar nicht so tief bewegen dürfen. Oder war es die Situation, dass er – wohl behütet – auch jünger an Jahren, den Krieg nie bewusst erlebt hatte? Betrachtete er mich als Beispiel einer lebendigen Geschichte?

Aber eigentlich waren diese Fragen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war, dass wir uns gern hatten und uns äußerst gut verstanden.

Nur eine Tatsache hatte ich ihm bisher verschwiegen: meine Eltern waren tief gläubig und hatten uns auch in diesem Sinne erzogen. Mutti mahnte uns immer an, nur mit einem Partner eine Verbindung zu planen, der auch gläubig war – sonst liege kein Segen darauf. Bisher hatte ich dieses Thema der kirchlichen Erziehung nie angesprochen und Gerd war auf diese Problematik nie gekommen. (Zum Kaffeetrinken bei seinen Eltern war mir sofort aufgefallen, dass vor dem Essen kein Gebet gesprochen worden war.) Wie sollte ich das nur Gerd beibringen? Ich hatte Angst, dass er für unseren Glauben kein Verständnis haben könnte. Würde er mich dann trotzdem noch gern haben? Allmählich beschlich mich Angst, wenn ich an dieses Thema dachte, befürchtete ich doch, dass sich dann unsere Verbindung lösen könnte. Darum überließ ich diese Problematik erst einmal dem Selbstlauf und genoss die augenblickliche Situation.

In der DDR hatte sich, das sei zum allgemeinen Verständnis gesagt, die Ideologie des Materialismus als Staatslehre durchgesetzt. Damit war verbunden, dass das In-die-Kirche-gehen unmodern geworden war, ja geradezu als altmodisch und überlebt dargestellt wurde. Darum lenkte auch der Staat die Erziehung der Jugendlichen im Geiste des Marxismus-Leninismus, forcierte die Feiern der Jugendweihen und zog mit allerhand Aktivitäten und Fördermaßnahmen die Jugendlichen an sich.

Dass Gerd nicht konfirmiert worden war, sondern über die Feier der Jugendweihe berichtet hatte, machte mir nur allzu deutlich bewusst, dass er nicht Mitglied einer Kirche oder Kirchengemeinde war. Daraus ließ sich leicht schlussfolgern, dass er auch nicht die Anforderungen meiner Eltern in den Glaubensfragen erfüllte, also aus der Sicht meiner Mutti für mich als Mann nicht in Frage kam.

Und so kam, was kommen musste: eine kleine Katastrophe.

Mutti war es nicht mehr zu verheimlichen, dass alle meine Gedanken nur noch um Gerd kreisten. So kam ich auch nicht mit der nächst möglichen Waldbahn am Sonnabend nach Hause, sondern erst mit der übernächsten, die Gespräche Zuhause interessierten mich nicht mehr – ich beteiligte mich also nur in Spurenelementen daran, war schweigsam, erledigte die kleinen Hausarbeiten, die am Wochenende Zuhause auf uns warteten, las viel, ging brav am Sonntag mit in die Kirche, sang im Kirchenchor mit, verhielt mich für meine Begriffe ruhig und erwachsen und war doch wiederum manchmal spontan, unruhig und gereizt. Mutti, die uns immer interessiert und liebevoll beobachtete, stellte nach mehreren Wochenenden unvermutet an mich die Frage: „Na, du hast wohl den Gerd sehr gern? Du hast dich so verändert. Erzähle mir doch etwas über ihn.“

Wo sollte ich anfangen, was war für meine Mutti von Interesse? Ich druckste herum. „Na, wie sieht er denn aus“, war die diplomatische Frage von Mutti. Damit war der Bann gebrochen. „Ach, Mutti, er ist wunderschön. Er hat dunkle Locken, ist einen Kopf größer als ich, schlank, sportlich, ganz Kavalier, immer zu Späßen aufgelegt, aber man kann sich auch wunderbar über ernste Themen mit ihm unterhalten. Er hat die Facharbeiterausbildung als Dreher, die er im VEB Getriebewerk Gotha gemacht hat, wo auch sein Vater als Dreher arbeitet. Und du weißt ja, dass er mit mir in der Volkshochschule war. Seine Mutti ist Postfrau. Seine Eltern sind sehr nett; ich habe dir ja schon erzählt, dass ich dort zum Kaffeetrinken eingeladen war.“ Nun sprudelte es nur so aus mir heraus, und ich war glücklich, endlich einmal so richtig ausführlich darüber sprechen zu können, denn Geheimnisse konnten und wollten wir nicht lange vor unserer Mutti verbergen.

Sie merkte auch mit dem Instinkt einer Mutti, dass diese Situation einer Klärung bedurfte. Und so war es nach der Unterhaltung wie selbstverständlich, dass sie sagte: „Na, dann lade doch deinen Gerd zum Sonntagnachmittag zu uns ein, dann will ich mir den Prinzen ja auch einmal ansehen.“

Das war ein wichtiger Satz. Wir durften zwar als Mädchen unsere Freundinnen und Werner – unser Bruder – seine Freunde mit nach Hause bringen, aber umgekehrt war Mutti nicht begeistert; dann musste es schon etwas „Festes“ sein. Also schlussfolgerte ich, dass Mutti einsah, dass Gerd für mich keine vorübergehende Freundschaft war.

Dieser Gedanke bewirkte in mir ein großes Glücksgefühl. Schnell stand ich auf, umarmte Mutti glücklich und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

Die Woche, die zwischen Sonntag und dem nächsten Sonntag lag, war sehr lang. Außerdem trafen wir uns nur zweimal, so dass ich schon Angst hatte, ich könnte ihm die Einladung zu uns nach Hause gar nicht mitteilen.

Am Sonntag hörte ich die Predigt wie durch einen Schleier und musste mir Mühe geben, mich zu konzentrieren, was der Prediger sagte. Aber während einer Predigt sieht ja keiner, welche Gedanken einen bewegen, und so war ich froh, als wir nach Hause gehen konnten, um Mittag zu essen und nach dem Mittagessen konnte ich Gerd von der Bahn abholen.

Der Himmel war strahlendblau. Die Bäume hatten zwar Ende November keine Blätter mehr, aber das Laub lag in allen Farben leuchtend auf der Erde. Er nahm mich in seine Arme und die Welt war noch viel schöner. In der Hand hielt er einen kleinen Blumenstrauß. Freudestrahlend sagte er: „Der ist für deine Mutti!“ Mein erster Gedanke war: „Na, da sammelt er aber Punkte.“ Aber mein Gerd war eben ganz Kavalier und wusste, was sich gehörte. Alle Achtung! Langsam schlenderten wir zu uns – verliebt und glücklich.

Nun führte ich Gerd in das Haus, in dem wir wohnten. Die Treppe war zwar blitzsauber gebohnert, aber Farbe war an den Wänden kaum zu erkennen.

Mein Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als wir die Türe öffneten. Auch hier war der Tisch gedeckt (wie bei seinen Eltern). Artig sagte Gerd zu meiner Mutti: „Ich danke Ihnen für diese Einladung“ und überreichte ihr strahlend lächelnd die Blumen. Muttis Augen leuchteten – wie lange war das her, dass sie – ohne dass sie Geburtstag gehabt hätte – Blumen bekommen hatte!

Auch bei uns stand ein Tisch in der Mitte des Zimmers, aber er hatte dreierlei Stühle, ein Stuhl stand neben dem kleinen transportablen Kachelofen und Besuch musste sich immer auf das „Sofa“ setzen. Das war zwar nur eine Kastenmatratze auf Holzklötzen, aber mit einer Decke abgedeckt und mit selbstgestickten Sofakissen zum Sofa erhoben. Auch bei uns in der Ecke war ein Radio auf einem kleinen Tischchen, aber kein Fernsehapparat zu sehen. Vor den beiden Fenstern standen zwei Holzsessel, die mit Sitzkissen versehen Bequemlichkeit ausstrahlen sollten. Die Prachtstücke unserer Einrichtung waren aber zwei Kommoden, die total unterschiedlich aussehend unsere Wäsche beherbergten. Sie waren, wie alle anderen Möbelstücke, von irgendwelchen Gemeindemitgliedern oder Bekannten nach der Umsiedlung aus Königsberg meinen Eltern geschenkt worden, damit wir überhaupt etwas in die Wohnung stellen konnten. Auf dem Fußboden lag ein einfacher Flickenteppich - das Prachtstück des Zimmers. Doch trotz aller Ärmlichkeit strahlte das Zimmer Gemütlichkeit aus, denn gestickte oder gehäkelte Deckchen und ein paar Blumentöpfe verzierten das Zimmer. Über dem Sofa hingen zwei wunderschöne Aquarelle von Dorchen, die eindeutig zeigten, dass Talent in ihr steckt. Mein Bruder Werner hatte bereits im Sommer seine Renate geheiratet. Sie hatte auch etwas zur Zimmergestaltung beigetragen und Mutti zwei Bilder mit getrockneten Blumen und Gräsern geschenkt. Als einziger Nachlass aus Königsberg hing das Bild meiner Großeltern an der Wand, das Mutti von ihrer Schwester bekommen hatte.

Aber Gerd schaute sich gar nicht lange um und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz auf das „Sofa“. Er war groß und konnte – im Gegensatz zu mir – trotzdem noch auf den Teller sehen. Der Kaffee – heute einmal richtiger Bohnenkaffee – wurde eingeschenkt und duftete herrlich. Er wurde nach einem besonderen Ritual gekocht: Die Kaffeekanne wurde zunächst mit kochendheißem Wasser ausgespült, die Kaffeelöffel voll Kaffee abgezählt in die Kanne gegeben und danach mit kochendem Wasser übergossen. Sorgfältig wurde der Schnabel der Kanne mit Papier verschlossen, damit kein Aroma entweichen konnte. Bis dann der Gast kam, wurde die Kanne unter einer Kaffeemütze warmgehalten, so dass der Kaffee auch richtig durchziehen konnte. Der Deckel der Kaffeekanne wurde mit einem Deckelhalter, der auch gleichzeitig als Tropfenfänger fungierte, festgehalten. Bevor der Kaffee eingeschenkt wurde, musste der Pfropfen aus dem Kaffeegrund, der sich in dem Schnabel gebildet hatte, erst entfernt werden. Danach erst konnte der Bohnenkaffee durch ein Sieb gegossen werden und landete in der Tasse.

Jeder nahm sich nun ein Stück Kuchen vom Kuchenteller. Für Gerd war es das Zeichen: jetzt kann ich essen. Aber erschrocken hörte er meinen Papa sagen: „Wir wollen erst einmal danken.“ Nun war es heraus. Gerd nahm den Kuchenlöffel wieder aus dem Mund, legte ihn auf den Teller und schaute mich fragend an. Ich – ängstlich, aber tapfer – lächelte ihn an, senkte meinen Kopf, schloss die Augen und faltete die Hände. Aus meinen Augenwinkeln heraus konnte ich erkennen, dass er es mir alles genau nachgemacht hatte. Gott sei Dank! Das war gut gegangen. Von ihm kamen nach dem Gebet keine Fragen, Bemerkungen oder eine andere Reaktion. Mir saß immer noch der Schrecken in den Gliedern, obwohl ich es doch hätte wissen müssen, was passiert. Aber ich war zu feige. Doch Gerd lächelte mich nur an und wollte mit dem Essen beginnen. Da es zur Feier des Tages einen belegten Tortenboden gab, drückte er den Kuchenlöffel in den Kuchenrand – und schwups – war das Stückchen auf seiner Hose. In Blitzesschnelle hatte er einen hochroten Kopf . Erschrocken suchte er das Stückchen auf dem Fußboden, fand es und steckte es in den Mund. Mutti tröstete sofort: „Das ist nicht schlimm, das Ihnen das passiert ist. Der Kuchenrand ist etwas hart geraten. Ich muss mich dafür bei Ihnen entschuldigen. Ihre Hose ist doch nicht beschmutzt?“

Aber in unserer Familie gab es immer genug Gesprächsthemen und Mutti lenkte gleich ab.

Unter dem Tisch fanden sich unsere Hände, die wir verstohlen drückten. Schneller als vermutet, hieß es dann aber: „Nun muss Gerd aber gehen, sonst verpasst er die Waldbahn.“

Ich brachte ihn die Treppe hinunter. Er nahm mich ganz fest in seine Arme. Der lange, innige Kuss hatte mich so aufgewühlt, dass ich vor lauter Freude und Erregung drei Stufen mit einem Mal nahm, bis ich wieder, viel zu früh, in der Wohnung war. Ich war noch total erregt und nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, als ich – wie aus der Ferne – meine Mutti hörte: „Na, wie hat es ihm bei uns gefallen?“ „Das kann ich dir gar nicht so eindeutig sagen, ich habe ihn nicht gefragt“, war meine schnelle Antwort. Mein Gedanke war nur: hoffentlich fragt sie nicht, was wir so lange im Flur gemacht haben. Wir hatten uns nämlich über nichts unterhalten, sondern nur immer und immer wieder geküsst. Und das war für mich das Wichtigste, denn es gab mir doch gleich Bestätigung, dass wir für ihn nicht zu ärmlich wohnten, er gegen das Beten nichts hatte und er mich ebenfalls liebte.

Nach diesem Besuch von Gerd bei uns lag mein Leben in Gedanken klar vor mir: es war ein gemeinsames, schönes Leben mit Gerd. Ich war mir meiner Sache so sicher, dass gar keine Fragen oder Zweifel mehr aufkamen.

Mir fiel nur auf, dass er gelegentlich nach Königsberg fragte, obwohl für mich mein Geburtsort keine so große Bedeutung hatte, denn ich lebte ja jetzt im Frieden, brauchte keine Angst mehr zu haben, hatte mein Essen, mein Zuhause und war außerdem noch glücklich und verliebt. Wenn er jedoch danach fragte, erzählte ich ihm dann so ein paar Einzelheiten aus dem Krieg. Für ihn waren dann meine Erzählungen wie Geschichten aus einem Bilderbuch.

*

Die Zeit verging in Riesenschritten. Wir verloren allmählich die Einstufung bei den Einheimischen, „Flüchtlinge“ zu sein.

Jedoch die folgenden Beispiele brachten mir meine Vergangenheit im Laufe der Zeit wieder etwas zurück.

Wir wollten heiraten und meldeten uns beim Standesamt an. Zunächst musste ich natürlich dem Standesbeamten eingestehen, dass ich keine Geburtsurkunde besaß, sondern nur einen „Auszug aus dem Taufregister der Evangelischen Kirchengemeinde Königsberg/​Pr.- Ponarth“. Diese Urkunde – von Mutti für die Lebensmittelkarten-Beschaffung über viele Beamtenwege - heiß erstritten wurde von uns immer lächelnd als „Existenzberechtigungsschein“ bezeichnet. Hier stutzte der Beamte, denn eigentlich war eine Heirat ohne Geburtsurkunde beamtenrechtlich gar nicht möglich. Zum anderen war ich angeblich in einem Ort geboren, den es gar nicht mehr gab. Darum machte er den Vorschlag: „Na, da schreiben wir doch beim Geburtsort Kaliningrad hin, das hat doch wenigstens eine konkrete Aussage!“ Kleinlaut protestierte ich: „Aber in der Bescheinigung steht doch „Königsberg/​Pr.“, da kann man doch nicht einfach einen anderen Namen einsetzen – oder geht das?“ Er schüttelte nur verständnislos den Kopf und fügte sich dieser besonderen Situation.

*

Viele Jahre später: unsere Tochter war – wie ich damals – verliebt. Eines Tages fragte mich der junge Mann: „Stimmt das wirklich, dass Sie in Grönland geboren sind?“ Ich schaute ihn zunächst verständnislos an. Er versuchte mich aufzuklären. „Na, Ihre Tochter hat doch gesagt, dass Sie ganz oben im Norden geboren sind – in Grönland.“ Da dämmerte bei mir etwas: Im Atlas war mein Geburtsort nicht mehr zu finden und ich hatte immer gesagt, dass Königsberg im Norden liegt. In der Folgezeit lächelten wir noch öfter über dieses Missverständnis.

*

Die Informationen im West-Fernsehen wurden über die ehemaligen deutschen Gebiete immer umfangreicher – Kriegsfilme spiegelten Fluchtgeschichten wider, Berichte über Samland, Kurisches Haff, Königsberg, Masuren, das Bernsteinzimmer u. ä. kamen zwar vereinzelt, brachten mir aber ab und an Informationen über meine Heimat, die ich nur von Kriegserlebnissen her kannte. Äußerst interessiert hörten wir uns diese Berichte an, sahen die Filme und ich erkannte in einigen Situationen die eigene Vergangenheit.

Auch unsere Nachschlagewerke gaben uns nun schon mehr Informationen. So las ich im Universallexikon, das 1986 erschienen war, Königsberg:

1255 Gründung der Burg Königsberg

1457/​1525 Sitz der Hochmeister des Deutschen Ritterordens

1525/​1618 Sitz der Herzöge von Preußen

1618 ging Preußen an Brandenburg

1813 Ausgangsort der Erhebung Preußens gegen Napoleon I. K. hat 375.000 Einwohner, Industrie- und Kulturzentrum, Verkehrsknotenpunkt, Theater, landeskundliches Museum, zoologischer Garten, Fernsehsender, Maschinenbau, Lokomotiv- und Waggonbau, Reparaturwerft, Zellstoff- und Papierindustrie, Nahrungsmittelindustrie/​Fischverarbeitung, Universität, 2 Hochschulen, bei K. mehrere Seebäder. Im 2. Weltkrieg wurde die zur Festung erklärte Stadt von faschistisch-deutschen Truppen von Januar 1945 bis zum 9. 4. 1945 hartnäckig verteidigt und dabei stark zerstört. Die faschistischen Truppen in K. wurden am 9. 4. 1945 von der Roten Armee zur Kapitulation gezwungen. Auf Beschluss der Potsdamer Konferenz wurde die Stadt mit etwa ein Drittel des ehemaligen Ostpreußens an die UdSSR übergeben. 1946 Umbenennung in Kaliningrad. Rascher Neuaufbau der Stadt.

Nun wurde es für mich und meinen Mann interessant. Das waren Informationen, die für uns völliges Neuland waren.

Dann kam die alles entscheidende Situation: Die Grenze zwischen der BRD und der DDR fiel über Nacht am 9. November 1989. Nun konnten wir in alle Länder reisen und unsere Verwandten in Westdeutschland besuchen. Meine Tante übergab mir während eines Besuches zwei Bücher mit Bildmaterial über Königsberg mit vielsagendem Blick und der Bemerkung: „Hier hast du die Bücher, damit du weißt, wo du herkommst, ich kenne das ja alles.“ Zunächst betrachtete ich diese Bücher als reine Information über eine Stadt, die ich nicht kannte. Aber je mehr ich mich mit der Geschichte der Stadt vertraut machte, um so verbundener fühlte ich mich mit ihr. Mutti hatte uns in unserer Kindheit auch anhand von familiären Erlebnissen viel aus der Zeit Königsbergs erzählt, als der zweite Weltkrieg diese Residenzstadt noch nicht zerstört hatte. Diese Erzählungen kamen spontan wieder hoch und anhand der Bücher wurden einige Begriffe vorstellbar.

Das Maschennetz der Neugierde über Königsberg zog sich immer enger. So berichtete mir auch mein Cousin, dass er mit einem Reiseunternehmen schon eine Bustour nach Königsberg gemacht hatte. Mein Mann war Feuer und Flamme: „Nächstes Jahr, wenn du Rentner bist, fahren wir mit unserem Auto nach Königsberg! Das sehen wir uns einmal richtig an. Vielleicht steht auch noch der Rest von dem Haus deines Großvaters, von dem du mir erzählt hast. Würdest du dich darüber freuen?“

Doch meine Reaktion war sehr verhalten darüber, denn ich konnte mich ja an das Königsberg aus der Literatur fast gar nicht erinnern. Ich hatte schlicht Angst, in eine Stadt zu fahren, die ich kennen sollte, aber nicht kannte. So wurde ich in meinen Gedanken hin- und hergerissen.

Zunächst besorgte ich mir weitere Literatur und versuchte, die historischen Seiten kennenzulernen. In einem Bildband fand ich in einer Straßenkarte auch den Platz, an dem das Haus meines Großvaters gestanden hatte. Ich war furchtbar aufgeregt, in Gedanken ging ich immer und immer wieder in das Haus hinein, in der Wohnung herum, versuchte den Weg zur Wohnung meiner Eltern mit der Straßenbahn nachzuvollziehen und konnte mehrere Nächte nacheinander nicht schlafen. Alle Erinnerungen aus dem eigenen Erleben - vermischt mit den Erzählungen meiner Mutti - kamen in mir hoch und ich fragte mich: Wie war wohl ihr Leben im Schoß der Familie zu Kaisers Zeiten, nach dem Ersten Weltkrieg, während der Inflation und der Hitlerzeit gewesen? Woher hatte sie die Kraft genommen, uns 4 Kinder in den Kriegsjahren vor allen Gefahren einer Fehlentwicklung zu beschützen? Fragen über Fragen, die mich – nun auch Mutter und Oma – bewegten.

Und so unterlag ich meiner Neugierde und dem Zwang des Alters, an die Wurzeln meiner Vergangenheit zurückzukehren.

*

Zuhause in „56“
(1918-1925)

In der Ponarther Straße 56 war zu Ostern 1918 hellste Aufregung: Hanna, die zweitälteste von den fünf Kindern von Otto und Anna Krohn sollte in die Schule kommen. Ostern war für die Kinder ein besonderer Feiertag, denn zu diesem Fest bekamen sie fast alle ein neues Kleidchen und durften, falls das Wetter es erlaubte, das erste Mal Kniestrümpfe anziehen. Für jedes der Kinder lagen die Kleidungsstücke fein sortiert, gewaschen und gebügelt als Kleiderhäufchen auf dem roten Plüschsofa. Das war das Prachtstück in der Wohnstube, auf dem sie nur selten herumtollen durften. Das Exemplar war aber auch besonders hübsch: in dem Plüsch waren Ornamente eingedrückt und an der geschwungenen Rückenlehne in Kopfhöhe kleine gehäkelte Deckchen, damit der Stoff nicht schmutzig werden konnte.

Lisbeth, die Älteste mit ihren acht einhalb Jahren, ging der Mutter schon tüchtig zur Hand. Zum einen konnte sie sich - und auch Hanna - bereits alleine anziehen und zum anderen halfen beide, wenn auch noch linkisch, den Geschwistern. Herta mit ihren fünf Jahren brauchte Hilfe bei den Zöpfen, Fritz mit drei einhalb Jahren brachte die Mädchen völlig mit seinem eigenwilligen Köpfchen durcheinander und riss immer aus, sobald z. B. ein Strumpf angezogen war. Er war eben ein richtiger Lorbass Der Vater saß im Ohrensessel, der neben dem großen, grünen Kachelofen stand. Gedankenverloren zwirbelte er an seinem Kaiserschnauzer herum und schaute dem Treiben einfach zu. Hin und wieder rief er zur Ordnung und mit Windeseile reagierten die Kinder auf den Tadel. Sie liebten ihren Vater sehr, fürchteten aber auch seine strenge Hand. Nur Lotte wurde von der Mutter betreut. Sie hatte den Vorteil, noch von ihr gefüttert und angezogen zu werden, denn sie war ja erst 14 Monate alt.

Vor dem Frühstück sprach Vater gemeinsam mit allen das Gebet: „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was DU uns bescheret hast. Amen.“ Dabei falteten alle am Tisch die Hände, schlossen die Augen und senkten die Köpfe, damit sie nicht von dieser Zwiesprache abgelenkt werden konnten.

Nachdem der Tisch abgeräumt war – alle mussten helfen – wurde die Morgenandacht gehalten. Vater nahm die Bibel und las: „Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein von der Tür … Die Hüter aber erschraken vor Furcht und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel antwortete und sprach zu den Weibern: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesum, den Gekreuzigten, suchet. Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und sehet die Stätte, da der Herr gelegen hat. Und gehet eilend hin und sagt es seinen Jüngern, dass er auferstanden sei von den Toten … “. Nach alter Gewohnheit knieten alle nieder, falteten die Hände, legten sie auf den Stuhl, auf dem sie gesessen hatten, und nahmen die gleiche feierliche Haltung ein wie beim Tischgebet. Vater dankte Gott für die Gnade, die sie alle durch die Auferstehung Jesu erhalten durften, dankte für die erholsame Nacht und bat um den Segen für den jetzigen Tag. Nach dem „Amen“ standen alle wieder auf und machten sich für den Kirchgang fertig.

Trotz aller Aufregungen wegen Ostern und der Schuleinführung waren dann doch endlich alle Familienmitglieder zum Kirchgang angezogen. Vater konnte nun das große Haus verschließen, in dem 12 Familien wohnten.

Stolz gingen die vier Kinder vor den Eltern her, die Mutter schob den Kinderwagen und der Vater kontrollierte mit strenger Miene die Familienprozession. Neu war dies für keinen in der Familie, denn zum Sonntag gingen sie immer alle in die Kirche in die Speichersdorfer Straße und immer waren alle besonders hübsch angezogen.

Das war gar nicht so einfach, denn der Krieg, der schon 1914 begonnen hatte, brachte für alle Menschen auch in Königsberg Hunger und Not. Aber die Mutter hatte alle Kinder ohne ernsthaftere Erkrankungen durchgebracht, denn die kleine Selbstversorgung mit einem Gemüsegarten, den Kaninchen und dem Schwein hatte alle vor dem großen Hunger bewahrt, als der Vater Soldat war. Aber schwer war das Leben schon in den Jahren von 1914 bis 1918, als der Mann und Vater nicht bei der Familie sein konnte. Doch in solchen schweren Stunden half der Mutter der Glaube an Gott und seine Hilfe in der Not. Und im Stillen sagte sie zu sich, was in der Bibel stand: „Sorget nicht für den morgigen Tag. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ Das Wort machte sie still und die Kinder sahen nicht, dass Mutter Sorgen hatte, summte sie doch dann ein Lied vor sich hin und war getröstet.

Und darum war der Kirchgang in dieser Familie nicht eine traditionelle Zeremonie, sondern ein Bedürfnis und eine Möglichkeit, mit den Gemeindemitgliedern Gott zu danken für alle Hilfe, Liebe und Fürsorge, die sie bisher erfahren hatte. Und Anna hatte täglich wenigstens einen Grund, um Gott zu danken.

Ihr innigstes Dankgebet war aber vor ein paar Wochen, als Otto aus dem Krieg nach Hause kam. Die Kinder spielten gerade vor dem Haus auf dem Bürgersteig, als ein Soldat mit müden Schritten auf das Haus zuging. Hanna sah sich den Mann an: Was wollte der in ihrem Haus? Doch der Mann – unrasiert, verschmutzt und etwas hinkend - sah Lisbeth und Hanna - länger als fremde Menschen das tun -an, kam auf die beiden mit ausgebreiteten Armen zu. In seinen Augen war ein eigenartiges Leuchten, als er sagte: „Lisbeth, Hanna, ich bin wieder Zuhause! Ich bin euer Vater! Ich darf jetzt hier bleiben.“ Die beiden sahen sich ängstlich an. Doch dann kam die Erinnerung bei Lisbeth: „Vater, du bist wieder da! Da wird sich Mutter aber freuen! Komm rein, es gibt bald Mittagessen!“

Hanna ging den beiden mit eigenartigen Gedanken hinterher. Das sollte der Vater sein? Er hatte zwar den Kaiserschnauzer, von dem die Mutter immer so geschwärmt hatte, aber sonst stimmte nichts an der Beschreibung. Dieser Mann hier war nicht so schön, wie Mutter ihn beschrieben hatte. Aber Lisbeth hatte ja bestätigt, was der Mann gesagt hatte, dass er der Vater sei.

Es war schon eigenartig: Da kam ein Mann daher und sagte: „Ich bin euer Vater!“ Bisher waren sie doch ganz gut alleine mit Mutter ausgekommen. Gab es vielleicht jetzt noch weniger zu essen, wenn nun ein Esser mehr am Tisch saß? Die Gedanken wirbelten Hanna nur so im Kopf herum und langsam ging sie den beiden hinterher.

„Mutter, Mutter! Vater ist wieder da!“ Lisbeth stürmte in die Wohnung und Mutter kam sofort aus der Küche. Mit einem Aufschrei der Freude fielen sich beide in die Arme und hielten sich eng umschlungen. Mutter weinte. Das hatte Hanna noch nie gesehen. Vater drückte Mutter und küsste sie immer und immer wieder. Ihre Augen suchten und fanden sich. In ihnen war ein Leuchten und eine Freude! Auch das hatte Hanna bei Mutter bisher nicht gesehen. Lange standen so alle im Korridor. Herta, Fritz und Lotte kamen aus der Stube und wunderten sich noch mehr als die beiden Großen über den fremden Mann und die Freude der Mutter. Liebevoll streichelte Mutter das Gesicht von Vater und sagte: „Du bist schmal geworden, du wirst Hunger haben. Das Essen ist gleich fertig. Zieh dir die Wehrmachtklamotten aus! Ich hole dir frische Wäsche und deine Haushose! Du kannst dich auch erst ein bisschen waschen! Kinder, geht mal in die Stube und deckt schon den Tisch. Wartet, bis wir in die Stube kommen! Beschäftigt euch mit Fritz und Lotte! Herta soll euch helfen!“ Doch nach dieser Organisationsflut sah sich Vater erst einmal um, nahm die Kleinen - Lotte und Fritz - auf den Arm, drückte und küsste sie, streichelte die Wangen der drei Großen und auch dabei leuchteten seine Augen voll Liebe und voller Stolz. „Seid ihr aber alle groß geworden! Und so hübsch seht ihr aus! Jetzt bleibe ich bei euch. Ich muss auch nicht wieder fort, der Krieg ist für mich zu Ende. Gleich morgen gehe ich in meinen Betrieb und arbeite, dann hat Mutter wieder mehr Geld und kann euch etwas Schönes zu essen kochen.“

Das Letztere waren verheißungsvolle Worte. Nun konnten sie sich auf den fremden Mann, der ihr Vater sein sollte, auch freuen.

Und schneller als gedacht, hatten sich die Kinder wieder an den Vater gewöhnt und auch dass er ab und zu einmal ein Machtwort sprach. Darum gingen die Kinder am heutigen Ostersonntag zum Gottesdienst zwar wohlerzogen vor ihren Eltern her, aber innerlich kribbelte und krabbelte es am ganzen Körper, denn heute früh hatte jedes der Kinder als Osterüberraschung ein neues Kleidungsstück erhalten und ein paar Bonbons. Und solche Überraschungen gab es nur noch zu Weihnachten.

In der Sonntagsschule für die Kinder in der Gemeinde Speichersdorfer Straße, die parallel zum Gottesdienst für die Erwachsenen war, erzählte Onkel Fritz, der Bruder von Opa, wunderbare Geschichten und zeigte dazu schöne Bilder. Und heute – zu Ostern – war die Geschichte besonders ergreifend, denn Jesus war auferstanden von den Toten und darüber freuten sich alle. Hanna kannte zwar die Geschichte, aber Onkel Fritz erzählte so schön. Oft bekamen sie auch kleine Bilder geschenkt, über die sie sich ganz besonders freuten, denn sie wurden in einem kleinen Buch, das extra dafür geschaffen worden war, gesammelt. Wenn die Kinder also regelmäßig in die Sonntagsschule kamen, hatten sie auch eine komplette Bildersammlung für die biblischen Geschichten. Eifrig wurden auch manchmal zu den Festlichkeiten in der Kirche Gedichte gelernt, die die Kinder vor der ganzen Gemeinde vortragen durften. Das Herzchen schlug dann zwar bis zum Hals, aber Onkel Fritz saß immer in der ersten Reihe und half, falls einer nicht weiter wusste. Besonders schön klangen auch die Lieder mit Harmoniumbegleitung. Die Kinder sangen aus voller Kehle mit, achteten aber immer auf den Mund von Onkel Fritz, denn der kannte den Text. Aber mit der Zeit prägten sich die Lieder ein, ohne dass die Kleinen lesen konnten. Stolz hielt aber jedes Kind das Kinderliederbuch „Das Singvöglein“ in der Hand und erkannte die Lieder an den dazugehörigen Zeichnungen. Besonders gern sang Hanna das Lied:

Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin

Über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten,

der mich liebt und der mich kennt und bei meinem Namen nennt.

Das Stillsitzen in der Kirche war trotzdem für Hanna eine Qual, war sie doch ein so temperamentvolles Kind. Darum wurde der Weg nach Hause als Wettlaufstrecke genutzt, obwohl sie immer nur bis zur nächsten Ecke laufen durften. Aber es war ja so befreiend, nach dem langen Sitzen laufen zu können.

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22 aralık 2023
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9783867775977
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