Kitabı oku: «Geburtsort: Königsberg», sayfa 9
So harmonisch verliefen alle Familienfeiern. Darum war es auch gar nicht so wichtig, wieviel Kuchen auf dem Tisch stand oder was – wie heute – für Getränke gereicht wurden. Es war einzig und alleine die Freude des Zusammenseins und des gemeinsamen Gesangs.
Diese Harmonie der Familienfeiern war Tradition und wurde von Kindern und Kindeskindern übernommen.
Doch nicht nur in der Familie Krohn wurde gefeiert, sondern auch in der Stadt. Am folgenden Ostermontag, so war überall zu lesen, ist die „Kantfeier“. Der berühmteste Königsberger wurde zu seinem 200. Geburtstag geehrt.
Schon lange vor diesem Tag wurden in der Universität Vorlesungen besonderen Inhalts von Gastprofessoren gehalten, Schriften veröffentlicht und dem neu gegründeten Stadtgeschichtlichen Museum Dokumente aus fernen Ländern übergeben, die von Kant stammten oder über ihn berichteten, denn eine Abteilung war ihm gewidmet. Zwar war der Nachlass des kinderlosen Philosophen nach seinem Tode verkauft und verstreut worden, aber was erhalten geblieben oder später mühsam wieder zusammengetragen worden war, bildete einen besonderen Anziehungspunkt für die Besucher aus aller Welt. Der Weltweise war kein Heimatromantiker, aber bewusst ein Königsberger. Er hat seine Geburtsstadt nur selten, Ostpreußen nie verlassen hat. Er scheute nicht die Welt, sondern blieb in seiner Vaterstadt, weil er nach seiner Meinung in ihr alles vorfand, was er brauchte. Als die Stadt eine Kantmedaille stiftete und mit ihr verdiente Frauen und Männer auszeichnete, ehrte sie damit nicht nur ihren größten Mitbürger, sie bekannte sich damit auch zu seiner Heimatgeborgenheit und Weltoffenheit, die sie siebenhundert Jahre lang in besonderer Weise ausgezeichnet hat.
Und so strömte, alles, was Beine hatte, zum Dom und Kneiphof, um wenigstens den Festzug sehen zu können. Die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ vom 22. April 1924 lässt (auszugsweise) erkennen, in welchem Umfang das geschah:
„Als eine Kantfeier besonderer Art ist unter den Veranstaltungen des ersten Haupttages noch ein Essen zu verzeichnen, zu dem die Königsberger Allgemeine Zeitung eingeladen hatte, das am Sonntag Abend in der Wohnung des Chefredakteurs Wyneken stattfand. Es war der Wunsch der Zeitung gewesen, einige Stunden im Zeichen Kants gesellig mit den Persönlichkeiten aus aller Herren Länder zu verleben, wie es Kant getan hätte. Alle, die an der Festzeitung mitgewirkt hatten, Vorlesungen und Diskussionen vorbereitet und Studien zum Thema „Kant“ veröffentlicht hatten, waren eingeladen. Und so wurde beim Essen im Kreis honoriger Herren, wie es die Überlieferung aussagte, gefachsimpelt, Theorien aufgestellt und wieder verworfen. Doch alle waren sich einig, dass die wissenschaftlichen Leistungen Kants unantastbar waren.“
Wie die Feierlichkeiten im Dom abliefen, beschreibt die Zeitung folgendermaßen: „Regenschwer und windbewegt hat der 2. Ostertag begonnen, grau und tief hängen die Wolken über den Straßen der Stadt. Der Himmel zeigt sich Kants Verehrern von der rauhesten und unfreundlichsten Seite; durchnäßte Kleider und aufgespannte Schirme scheinen das Kennzeichen des Tages werden zu wollen.
Trotzdem ist Leben und Zudrang zum Kneiphof. Ein Teil der Brodbänkenstraße und das große Rund des Domplatzes sind von einer dichten harrenden Menschenmenge eingerahmt, die von einem Spalier von Sicherheitsbeamten zurückgehalten werden – trotz des Regens und der nordischen missmutigen Witterung ein Bild von verhaltener Teilnahme und Erwartung, wie man es seit vielen Jahren in unserer Stadt entbehrt hat. Man ist sich bewusst, ein großes und einmaliges Ereignis zu erleben. Die Menschen wollen wenigstens aus der Ferne dabei gewesen sein, sie wollen davon erzählen, wollen sich daran erinnern können.
Aber erst, wenn man den Dom betritt, wird man in eine andere Welt von der Stimmung der weihevollen Gehobenheit empfangen und getragen. Die graue, regenschwere Nüchternheit des Tages ist zurückgeblieben – hier unter den hohen gotischen Spitzbögen leuchten die zahllosen Kerzen der großen Kronleuchter, goldene Schnitzereien, lateinische Inschriften funkeln auf, im Hintergrund streben die goldenen Zierrate des Altars empor. In diesem gedämpften Licht, mitten unter alter Architektur, ist alles Sammlung und Andacht und Erinnerung. Das große Schiff der Kirche und die Orgelempore sind von einer dichten Menschenmenge gefüllt.
Die Hoffnung der draußen auf den Zugangsstraßen geduldig wartenden Zuschauer wurde leider enttäuscht. Denn der Festzug durch die Straßen musste ausfallen und sich auf den kurzen Weg vom Stadtgymnasium bis zum Dom beschränken. So staute sich denn die neugierige Menge um so dichter auf dem Domplatz, der durch Schupobeamte (Polizei) zu Pferde und zu Fuß recht streng abgesperrt war. Galt es doch, den recht umfangreichen Auto- und Wagenverkehr zu regeln, der sich bei Anfahrt der Gäste in dem sich sonst verhältnismäßig ruhigen Domviertel entwickelte.
Als dann unter den wuchtigen Akkorden der Orgel der Festzug im Portal des Domes erschien, und sich in würdigem Schritt durch den Mittelgang zum Altar bewegte – welch farbenprächtiges Bild! Im Dämmerdunkel des Kirchenraumes gestaltete es sich um so wirkungsvoller. Jeder empfand aber zugleich in dem Äußeren des Bildes dessen symbolische Bedeutung: Ein Huldigungszug Deutschlands, Europas, ja der Welt vor Königsbergs größtem Sohn, der zu einem Genius der Menschheit geworden ist. Das Licht des Weisen, der niemals über die Grenzen Ostpreußens hinausgekommen ist, hat inzwischen längst den Siegeszug über die Ozeane angetreten, so dass in Japan, wie der erste Festredner des Tages, Stadtschulrat Stettiner, später bemerkte, von einer weitverzweigten Gesellschaft der Geburtstag Kants regelmäßig festlich begangen wird.
Der Zug wurde eröffnet durch den Oberbürgermeister Lohmeyer im Schmuck der schlichten Amtskette, die auch Zeuge und Zeichen der deutschen Not- und Kampfjahre Königsbergs ist. Mit dem Oberbürgermeister schritten Bürgermeister Goerdeler und Stadtschulrat Stettiner. Dann folgte Kultusminister Boelitz in Begleitung des Kurators Hoffmann, hinter ihnen die Studenten als ein wandelnder Wald von Fahnen und Bannern, bestickt mit den tapferen Sprüchen akademischer Jugend. Die Königsbergs Studentenschaft nahm mit Recht bei dieser Huldigung einen breiten Platz ein. Denn sie ehrte, wie sie da festlich mit Pekesche und Schläger aufmarschierte, zugleich mit dem Weltweisen den größten Professor der Albertina, der ihr unsterblichen Ruhm bereitet hat. Mahnte schon dieses Bild der studentischen Verbindungen an die Tatsachen, welche Mächte die Traditionen und ehrwürdigen Bräuche der Universität darstellen, so wurde dieser Eindruck noch verstärkt, als jetzt im imposanten Zuge die Rektoren der anderen Universitäten mit dem Barett, den feierlichen Sammetmänteln und der Rektorkette bekleidet, vorbeizogen. Man glaubte, dass hier ein Bild Dürers lebendig geworden sei, wenn man in der ehrwürdigen Umrahmung diesen und jenen Charakterkopf bemerkte, der durch langes Forschen jenen unverkennbaren Stempel der Denkarbeit bekommen hatte, wie es ein besonderer Geleitbrief der geistigen Menschen ist. Zugleich wurde man aber auch an ein Wort Kaiser Wilhelms erinnert, der einmal dem Rektor der Berliner Universität sagte, dass er verstanden hätte, wie ein König zu repräsentieren. Auch diese Rektoren, jeder ein kleiner König im Reich der Wissenschaft, hatten diese selbstverständliche Würde.
Es folgten in kaum übersehbarer Fülle die Professoren der verschiedenen Fakultäten, auch sie in ihrer überlieferten, vielgestaltigen Tracht. Dann leuchteten zwei scharlachrote Mäntel auf: die Universitätspedelle mit den zepterartigen Stäben. Sie schreiten vor der Magnifizenz, die die Universität gewissermaßen inkarniert (verkörpert), vor dem Rektor der Albertina, Professor Uckeley. Ihm, dem das feierliche Ornat des Rektors besonders gut ansteht, folgt wiederum eine Fülle von Professoren und Gästen. Am Altar teilt sich der Zug.“
Der Gottesdienst beginnt. Auch Vater Krohn war – mit einem Schirm bewaffnet – in den Reihen der Wartenden. An der Hand hielt er Hanna und Fritz. Beide Kinder waren hell begeistert über das, was sie gesehen hatten. Aber in den Dom kamen sie nicht mehr hinein.
Und so machte Vater aus der Not eine Tugend und zeigte den Kindern das Grabmahl Kants, das anlässlich dieses Tages erneuert und im Farbton dem Dom angepasst worden war. Es war an diesem Tag besonders reich mit Blumen und Kränzen geschmückt, die direkt am Sarkophag lagen und auch vor dem Eisengitter. Hanna konnte nur mit Mühe die Inschrift lesen, da sie teilweise von Blumen verdeckt war: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“
„Versteht ihr das?“ Hanna antwortete nach kurzem Nachdenken: „Na, ja, je öfter ich am Abend den Sternenhimmel anschaue, desto schöner erscheint er mir, aber auch immer wieder neu. Man kann sich eigentlich gar nicht satt daran sehen, so schön ist er. Und je älter ich werde, um so lieber schaue ich mir abends einmal die Sterne an.“ „Und was meint Kant mit dem moralischen Gesetz in uns?“ Darauf wussten beide keine Antwort und Vater erklärte: „Als ihr noch viel kleiner gewesen seid, habt ihr euch um vieles keine Gedanken gemacht. Wenn ihr etwas Verbotenes getan habt, wurdet ihr bestraft oder wir haben euch euer Fehlverhalten erklärt. Nun ist Lisbeth zum Beispiel erwachsen und muss selbst bestimmen, was falsch und richtig ist. Diese Entscheidungen über falsches und richtiges Handeln werden immer schwieriger, weil man sich – wenn man älter ist – über alles mehr Gedanken macht über Wenn und Aber, weil man alles komplex betrachtet. Als Jugendlicher urteilt man oft spontan, im Alter wägt man seine Entscheidungen und Worte länger ab.“ Das hatten sie begriffen.
Obwohl es immer noch regnete, zeigte Vater seinen beiden Kindern auch noch das Denkmal für Julius Rupp, das von Käthe Kollwitz geschaffen worden war, denn es war ihr Großvater. Hanna erinnerte sich, dass sie über ihn schon einmal etwas gehört hatte. Aber sie wusste es nicht mehr so genau und Vater erzählte: „Julius Rupp war Verfechter der philosophischen Ideen Kants, die er als Königsberger Divisionsprediger in die kirchliche Lehre einbringen wollte. Es kam zum Streit zwischen den kirchlichen Würdenträgern und Rupp. Er wurde aus der Kirche ausgeschlossen und durfte keine kirchlichen Handlungen mehr vornehmen. Darum gründete er eine Freie evangelisch-katholische Gemeinde. Rupp blieb aber in Königsberg, auch wenn er nach der Revolution seine Dozentur an der Universität verlor. Er betätigte sich weiter kirchlich und literarisch. Somit ist auch er als Königsberger ein Sinnbild des freien Denkens.“
Die Inschrift auf dem Denkmal war noch recht gut zu erkennen: „Wer nach der Wahrheit, die er bekennt, nicht lebt, ist der gefährlichste Feind der Wahrheit selbst“. Das begriffen die Kinder sofort. Lügen durften sie nicht.
Langsam entfernten sie sich vom Domgelände und Vater erzählte noch ergänzend, dass der Dom auf mehreren hundert Eichenpfählen ruht, die in den moorigen Untergrund gerammt wurden, damit das Fundament fest war. „Als die Mauern des Chores bereits hochgezogen waren, ahnte der Hochmeister Luther von Braunschweig, welch gewaltiges Bauwerk entstehen würde, eine richtige Kirchenburg. Das wollte aber der Orden nicht dulden und es wurden viele Veränderungen nachträglich festgelegt, da der Dom auf keinen Fall die Ordensburg in den Schatten stellen sollte. Erst nach 50 Jahren, nämlich 1380, war der Dom fertiggestellt und wurde trotzdem zum eigentlichen Wahrzeichen unserer Stadt.“
Als die Kinder von weitem die Straßenbahn sahen, freuten sie sich wieder auf Zuhause, denn nun war es durch den Regen und Wind doch empfindlich kalt geworden. Mutter machte schnell einen warmen Tee und die Kinder erzählten begeistert von den Erlebnissen. Fritz äffte die Professoren mit steifem Rücken und ernsten Gesichtern nach, erzählte aber auch, was sie für schöne Kleidung angehabt hatten.
*
Ein paar Wochen später, am 14. Juni 1924, wurde der Flughafen Devau feierlich eingeweiht. Und wieder strömten die Königsberger hin. In der Königsberger Hartungschen Zeitung hieß es an diesem Tage: „Eine ganze Anzahl Straßenbahnwagen beförderte gegen 4 Uhr die Schar der Festteilnehmer nach dem festlich geschmückten Flugplatz Devau hinaus zur Einweihungsfeierlichkeit … Zwei Fokker und ein Junkersflugzeug sowie A. G. G. Doppeldecker des Aero Lloyd waren vor den Hallen zur Begrüßung aufgestellt und ließen mitunter den kraftvollen Gesang ihrer Motoren ertönen. In den Hallen sah man weitere Flugzeuge … “
Der Luftverkehr für die abgetrennte Provinz Ostpreußen hatte eine immense Bedeutung. Die wichtigste Linie war „Berlin – Danzig – Königsberg“, brachte sie doch die schnelle Verbindung zum Reich. Aber ebenso wichtig auch für den Handel waren die beiden anderen Verbindungen in den Norden und Osten: von „Königsberg nach Moskau“ und von „Berlin – Königsberg – Insterburg – mit Anschluss an die Linie Stockholm – Petersburg“. Hiermit hatten Reisende die Möglichkeit, innerhalb eines Tages von Berlin nach Moskau zu gelangen. Natürlich war das nur für Geschäftsleute und Politiker erschwinglich, denn ein Hin- und Rückflug nach Berlin kostete nach dem 30. 8. immerhin 82,50 Reichsmark.
Es wurden aber auch für die Flüge zum Teil Nachtstunden ausgenutzt. Und so wurde die Luftlinie „Berlin – Königsberg“ als eine der ersten mit Nachtbeleuchtung ausgestattet, so dass hier für das gesamte deutsche Flugwesen sehr wertvolle Erfahrungen gesammelt werden konnten.
Ein weiterer wichtiger Fortschritt war im gleichen Jahr die Inbetriebnahme des Königsberger Rundfunkbetriebes, den der Kaufmann Walter Zabel gegründet hatte. Weithin sichtbar waren die großen, hohen Sendemasten neben der Alten Pillauer Landstraße zu sehen, die alle Königsberger ehrfurchtsvoll bestaunten. Keiner konnte sich so richtig vorstellen, wie ein Rundfunk funktionieren sollte, dass Musik aus einem Kasten kam, in dem keine Musiker saßen.
Bei den „Reichen“ erfreute sich aber diese technische Neuerung großer Beliebtheit, wurden doch Sinfonie- und Künstlerkonzerte übertragen. Mit dem Rundfunk wurde der Dirigent Hermann Scherchen ab 1930 bekannter, als wenn er „nur“ im Saal dirigiert hätte.
Die letztgenannten Ereignisse hatten zwar wieder einen optimistischen Charakter, sie täuschten aber nicht darüber hinweg, dass das Leben nicht einfach war. Zwar war im April 1925 Hindenburg zum Reichspräsident gewählt worden und alle Menschen hofften auf Besserung, aber die wirtschaftliche Entwicklung wollte nicht kommen. Im Gegenteil: in diesem Jahr musste Königsberg 139 Konkurse registrieren.
Und so lebten Otto und Anna mit ihren Kindern immer im Glauben an eine bessere Zukunft und im Vertrauen auf Gott.
*
Hanna wird erwachsen
(1926 - 1935)
Die Kinder lebten glücklich und zufrieden, wohlbehütet von ihren Eltern. Für Hanna war Ostern 1926 ein lang ersehntes Datum, denn sie wurde aus der Volksschule entlassen, konfirmiert und begann die Ausbildung in der Haushaltungsschule. Das waren alles grundlegende Veränderungen in ihrem bisherigen Leben, die sie heiß ersehnte.
Die Volksschule hatte ihr ja von Anfang an keine so besondere Freude gemacht und sie war froh, ihr nun endlich den Rücken kehren zu können. Zwar brauchte sie niemals eine Klasse zu wiederholen, aber die Zensuren boten auch keinen Anlass für Lobeshymnen. Oft hatte die Mutter gemahnt, sie solle sich hinsetzen und lernen. Aber Hanna spielte lieber oder half stattdessen der Mutter freiwillig im Haushalt. Doch von alleine gab es keine guten Zensuren in der Schule.
Und so hielt sie trotzdem voller Stolz am letzten Schultag ihr Abschlusszeugnis in den Händen, denn nun war sie ja kein Schulkind mehr. Nach den Osterferien würde sie dann in die Haushaltungsschule gehen und außerdem hatte sie morgen, am Palmsonntag, Konfirmation. Das war für sie viel wichtiger, denn da wurde sie – wie ihre Schwester Lisbeth – in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. In ihr war ein Glücksgefühl, das sie keinem beschreiben konnte. Was wollte sie da nicht alles – wie es eben Erwachsene tun – erledigen. Auf alle Fälle nahm sie sich vor, alles selbstständig zu tun, was erledigt werden musste und nicht erst auf Mutters Hinweis zu warten. Als Erwachsene musste sie auch ihren kleineren Geschwistern Vorbild sein und der Mutter bei der Erziehung helfen. Wenn Vater nach Hause kam, wollte sie ihm die Pantoffeln holen und seine Jacke weghängen. Auf ihre eigenen Sachen wollte sie besser achten und der Mutter mehr bei der Wäsche, beim Bügeln und Ausbessern helfen. Ach, es gab ja so viel zu tun!
Gerne hatte sie der Mutter schon bei den Vorbereitungen zur Konfirmation geholfen. Doch die erste Maßnahme, die Mutter festgelegt hatte, war, dass Hanna zur Konfirmation ein Korselett anziehen musste. So ein Ding hatte zwar Mutter auch täglich an, aber dass auch sie eines anziehen sollte, behagte ihr nicht so sehr. Doch seit sie mit Herta in den Ferien bei Tante Hedwig gewesen war, hatte sich ihre Figur sehr gekräftigt und nach Mutters Meinung bekam sie einen „Krohnschen Arsch“. Alle Tanten (die Krohns) waren ab Hüftbereich sehr kräftig gebaut. Wenn nun Hanna ein Konfirmationskleid mit modernem Schnitt haben wollte, brauchte sie dazu auch eine entsprechende Figur. Und das ging eben nur mit einem Korselett, obwohl es bereits aus der Mode gekommen war. Aber es blieb Hanna nichts anderes übrig, als sich in das Gewühl von Schnüren, Stoff und Metallstäben zu zwängen, weil Mutter es so wollte. Sie zog den Bauch ein, jammerte „Ich kann mich ja gar nicht bewegen“ und „Ich kriege ja gar nicht richtig Luft“, doch letztlich machte Hanna gute Miene zum bösen Spiel, denn wer erwachsen sein wollte, musste so ein Ding auch anziehen. Außerdem war mit dem Korselett verbunden, dass sie kein Leibchen mehr anziehen musste. Denn das hatte allmählich den Nachteil, dass die wachsende Brust breitgedrückt wurde und etwas schmerzte. Außerdem gab es zur Konfirmation das erste Mal dünne Seidenstrümpfe, die nur an dem Korselett befestigt werden konnten und nicht am Leibchen. Also, was half es? Sie musste sich fügen. Mutter tröstete sie lächelnd: „Wer schön sein will, muss leiden.“ Das leuchtete Hanna nun wieder ein, denn das neue Kleid und die schönen Strümpfe mussten zur Konfirmation sein. Also zog sie den Bauch ein, ging kerzengerade und bewegte sich wie eine Erwachsene.
Lisbeth, obwohl sie ja erst ein Jahr Schneiderlehre hinter sich hatte, nähte mit Mutters Hilfe das Konfirmationskleid, während Hanna dann aufräumte, den Abwasch machte, den Fußboden fegte und bohnerte und auf den Möbeln den Staub wegwischte. Diese Arbeiten machte sie nun wieder gerne, denn danach sah sie, was sie gemacht hatte.
Und das Kleid wurde ein Prachtexemplar: Mutter hatte einen Schnittmusterbogen für ein ganz modernes Kleid gekauft, gemeinsam hatten sie die Ärmel, das Oberteil den Kragen und den Rock auf Papier ausgeradelt, mit den Körpermaßen von Hanna ergänzt und danach den Stoff nach dieser Vorlage zugeschnitten. Schon alleine das war eine erregende Situation, war es doch im Schnitt ein Kleid, wie es die reichen Leute in der Stadt trugen. Nur der Stoff war schwarze einfache Baumwolle und keine Seide. Aber die verlängerte Taille war eine Wucht! Der Rock wurde in kleine Falten gelegt und der Saum war genau eine Handbreite unter dem Knie, der natürlich noch eine Reserve beinhaltete, falls Hanna noch wachsen sollte. Nachdem die hauptsächlichen Teile zusammengeheftet waren, die erste Anprobe auch mit Korselett erfolgversprechend war, wurden die Teile endgültig zusammengenäht. Die Kanten mussten aber alle noch gesäubert werden, wie Lisbeth fachmännisch betonte. Das bedeutete, dass alle Nähte noch einmal umnäht wurden, damit der Stoff an den Nähten nicht ausfransen konnten. Dabei konnte nun Hanna auch schon helfen, während Lisbeth und Mutter die anderen Arbeiten am Kleid machten.
Denn das Vorderteil wurde mit eng aneinander liegenden selbst bezogenen Knöpfen geschlossen. Das war eine aufwendige Arbeit: Insgesamt - so hatten Lisbeth und Mutter ausgerechnet - wurden 30 kleine Waschknöpfe bezogen. Dafür mussten 30 gleiche kleine Stoffkreise ausgeschnitten werden. Die Knöpfe wurden mit etwas Watte belegt. Lisbeth achtete darauf, dass es ja immer die gleiche kleine Menge war, „Sonst hast du unterschiedlich große Knöpfe am Kleid“, erklärte sie ihrer Schwester. „Den kleinen Stoffkreis legst du auf die Watte und den Knopf und am äußeren Kreisende machst du feine Heftstiche, die dann, wenn der Faden zusammengezogen und vernäht wurde, den Knopfstiel darstellen. Dann ist ein Knopf fertig. Sieh mal, so wird das gemacht!“ Hanna beobachtete alles genau und half freudig an den Knöpfen mit, waren sie doch für ihr Kleid. Doch wenn manchmal ein Knopf misslang, die Hände vor lauter Anstrengung schweißnass waren und sie den Knopf noch einmal machen musste, wollte ihr der Mut sinken. Doch dann sah sie die fleißigen und geschickten Hände von Mutter und Lisbeth und sie machte sich wieder an die Arbeit. Auch an den Ärmelbündchen waren diese vielen, kleinen, selbstbezogenen Knöpfe. Diese Arbeit wollte kein Ende nehmen. Aber gerade diese Knöpfe machten die Zierde des Kleides aus und gaben ihm eine vornehme Note. Außerdem sollte am halsfernen Kragen noch eine große Schleife aus dem gleichen Stoff gebunden werden. Das war auch gerade modern und gab dem Kleid etwas Verspieltes.
Gerade noch rechtzeitig wurde das Kleid fertig, denn spätestens am Freitag Abend musste der Hefeteig angesetzt werden, damit am Sonnabend der Kuchen gebacken werden konnte. Alles lief wie ein Uhrwerk ab, obwohl der allgemeine Haushalt ja ebenfalls noch weiter laufen musste. Denn am Sonntag sollte es zur Feier des Tages Hasenbraten und Schmorkraut geben und zum Nachtisch Vanillepudding mit Schokoladensoße. Kartoffeln mussten auch noch geschält werden, damit nach der Kirche das Essen schneller fertig war.
Und was am meisten Zeit in Anspruch nahm, war die sonnabendliche Reinigungsaktion. Aber immer, wenn alles wie ein Bienenschwarm durcheinander zu gehen schien, gab Mutter nur eindeutige, freundlich-formulierte Aufträge und summte ein Lied nach dem anderen vor sich hin. Hanna konnte ihre Mutter nicht begreifen. Sie selbst war so aufgeregt, dass sie alles anfing und nichts fertig brachte, sich darüber ärgerte, aber keinerlei Zeit und Musse für ein Lied hatte.
Doch am Sonnabendabend war alle Arbeit geschafft: Das Konfirmationskleid hing auf einem Bügel am Schrank, ebenfalls Vaters Rock und Mutters Kleid. Für die Kleinen lagen die „Häufchen“ aller notwendigen Anziehsachen auf dem Sofa, die geputzten Schuhe standen davor. Und freudig, aufgeregt und doch wieder glücklich und zufrieden legte sich Hanna nach dem Abendgebet schlafen. Wenn sie morgen früh aufwachte, war sie erwachsen … waren ihre letzten Gedanken vor dem Schlaf.
Früher als notwendig wurde Hanna an ihrem Ehrentage munter. „Hurra!“ konnte sie nun als „Erwachsene“ nicht mehr rufen, aber so ähnlich war ihr zu Mute. Wie mit einer unbekannten Energie getrieben, stieg sie aus dem Bett und war bemüht, Lisbeth nicht zu wecken. Die anderen Geschwister schliefen auch noch alle, nur Mutter und Vater waren in ihrem Bett nicht mehr zu sehen. Interessiert kam Hanna in die Küche. „Guten Morgen, Mutter, guten Morgen, Vater“, strahlte sie die beiden an. „Na, du konntest wohl vor lauter Aufregung nicht mehr schlafen? Es ist doch erst 6 Uhr!“ „Ach, ich bin eben munter geworden, da bleibt uns noch Zeit, um alles in Ruhe zu machen, bis wir in die Kirche gehen.“ „Du kannst dich gleich waschen und den Tisch in der Stube decken. Aber dein Kleid ziehst du bitte jetzt noch nicht an, erst wenn alle Arbeit fertig ist!“ „Ja, Mutter, gerne, ich bin auch ganz leise in der Stube, damit die anderen noch ein bisschen schlafen können.“
Als dann alle um 9 Uhr in festlicher Sonntagskleidung am Frühstückstisch saßen, auf dem zur Feier des Tages zwei große Teller voll mit Streuselkuchen standen, sprachen alle in feierlicher Stimmung: „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“ Alle spürten die feierliche Stimmung und die besondere Situation, dass der Herr unter ihnen sei und sie segnet, behütet und bewahrt. Aber bald darauf ging das Geplapper der kleineren Geschwister wieder los, sie wurden ermahnt, ordentlich und langsam zu essen und nicht zu krümeln, und auf dem Stuhl still zu sitzen. Und es dauerte gar nicht lange, denn bei 7 Kindern waren die Kuchenteller bald wie leer gefegt.
Vater sagte dann: „Wir wollen jetzt unsere Hausandacht halten.“ Er holte die Bibel und las aus Markus 11, Vers 1 bis 10 vor: „Und da sie nahe an Jerusalem kamen, gen Bethphage und Bethanien an den Ölberg, sandte er seiner Jünger zwei und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt. Und alsbald, wenn ihr hineinkommt, werdet ihr finden ein Füllen angebunden, auf welchem nie ein Mensch gesessen hat; löset es ab und führet es her! Und so jemand zu euch sagen wird: Warum tut ihr das? so sprecht: Der Herr bedarf sein; so wird er's alsbald hersenden. Sie gingen hin und fanden das Füllen gebunden an die Tür, außen auf der Wegscheide, und lösten es ab. Und etliche, die dastanden, sprachen zu ihnen: Was macht ihr, dass ihr das Füllen ablöset? Sie sagten aber zu ihnen, wie ihnen Jesus geboten hatte und sie ließen's zu. Und sie führten das Füllen zu Jesu und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. Viele aber breiteten ihre Kleider auf den Weg; etliche hieben Maien von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. Und die vorne vorgingen und die hernach folgten, schrien und sprachen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!“
Vater legte die Bibel auf den Tisch und sagte: „Wir wollen beten“. Alle knieten sich vor den Stuhl, auf dem sie gesessen hatten, falteten die Hände, senkten den Kopf und schlossen die Augen, um durch nichts abgelenkt zu werden, nur an Jesus zu denken und den Worten zu folgen, die Vater sprach: „Herr, im Himmel, habe Dank, dass du zu uns auf die Erde gekommen bist. Habe Dank, dass du uns sagst, was wir im Vertrauen auf dich tun sollen. So, wie deine Jünger, werden wir dein Wort halten, deinen Auftrag erfüllen, auch wenn wir manchmal den Weg nicht gleich erkennen. Heute, am Palmsonntag, bist du wie ein König eingezogen in die Stadt, in der du nach 5 Tagen an das Kreuz geschlagen wurdest.
Herr, lass uns die Kraft besitzen, nicht nur am Palmsonntag dich zu preisen, sondern auch in den folgenden Tagen und Jahren zu dir zu stehen, wenn dich die Welt verachtet. Wenn heute unsere Hanna in deine Gemeinde aufgenommen wird, so nimm sie auch in deine Arme auf, bewahre und behüte sie in ihrem ganzen Leben, sei du ihr Berater und Beschützer in allen Lebenslagen, nimm sie an deine Hand und führe sie auf sicherem Wege durch das Leben. Wir vertrauen unser Kind – dir o Herr – an und wissen es in deiner Obhut. Lenke sie auf geradem Weg in den sicheren Schoß des Glaubens. Lass sie die Kraft deines Wortes erkennen und die Zuversicht, dass sie sich auf dich und dein Wort immer verlassen kann. Herr, wir danken dir für deine Liebe und Geborgenheit, die wir im Glauben zu dir haben dürfen. Herr, bleibe bei uns und schenke uns deinen Frieden. Amen.“
Hanna hatte ergriffen zugehört, was Vater für sie erbeten hatte. Ja, sie wollte so werden wie Mutter und Vater und immer auf Gott vertrauen, die das bisher auch immer getan hatten, auch wenn das Leben noch so schwer war. Aber anders konnte sie sich ein Leben auch nicht vorstellen. Doch wenn Vater so innig für sie gebetet hatte, musste der Glaube an Gott schon eine große Kraft bedeuten. Sie wusste, dass ihre Eltern bisher alle Sorgen und Nöte von den Kindern ferngehalten hatten, alle Probleme hatten sie bisher immer gelöst, in dem sie über alles ruhig gesprochen, die Sorgen und Nöte dem Herrn Jesus im Gebet anvertraut und dann Lösungen gesucht hatten, um zum Beispiel die Not zu beheben. Immer waren ihre Eltern – auch wenn die Probleme noch so groß waren – ruhig und zuversichtlich gewesen, und immer gab es dann später eine Lösung. Nicht, dass sie kalkuliert hätten, dass dieser Weg der bequemste sei, aber innerlich war sie davon überzeugt, dass ihr der Glaube immer helfen könnte, wenn sie nur richtig glaubte.
Als dann alle zum Kirchgang fertig anzogen waren, nahm Vater seine Tochter in die Arme, und legte ihr zum Zeichen des Glaubens ein silbernes Kettchen mit einem daran hängenden Silberkreuz um den Hals und sagte: „Mein Kind. Wir haben dich den Glauben gelehrt, der dir im Leben helfen soll. Obwohl du weiterhin unser Kind bleibst, musst du deinen Weg von nun an alleine gehen. Nimm die Hilfe des Herrn an. Ohne ihn bist du arm und hilflos.“ Er küsste Hanna auf die Wange und sah sie freudestrahlend und stolz an. Sein Blick war auf Hanna wie auf eine Erwachsene gerichtet.
Dieses Mal war der Weg zur Kirche ganz anders für Hanna. Früher, als Kind, durfte sie schon einmal schneller laufen, die kleineren Geschwister necken, so allerhand Dummheiten erzählen, unbeschwert den Tag genießen. Heute war sie erwachsen. Feierlich war ihr zumute. Und so ging sie auch. Das war nicht alleine bedingt durch die Korsage oder das neue Kleid oder den Haarknoten, denn die Zöpfe hingen nicht mehr einfach herunter, nein, in ihr war eine Wandlung vorgegangen.
Vor der Kirche waren Blumen und kleine Tannenzweige am Wegrand gestreut. Es war wie bei einer Hochzeit. Blitzartig kam ihr der Vergleich mit dem Einzug Jesus in Jerusalem. Sollte sie etwa auch viel Leid in den späteren Jahren erfahren? Gekreuzigt würde sie sicher nicht, die Zeiten waren vorbei. Aber es gab noch viel Leid auf der Welt. Doch schnell waren diese trüben Gedanken wieder weg, als sie die anderen Konfirmanden in der Türe stehen sah.