Kitabı oku: «Madame empfängt», sayfa 6

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»Guten Abend, Miss!«, riefen sie im Chor. Johann war ebenfalls aufgestanden und zögerte zunächst noch, das Wort an die Miss zu richten. Doch sie kam ihm zuvor.

»Ein Neuzugang also. Wie ist dein Name?«, bellte sie in Johanns Richtung, während sie sich hinter dem Lehrerpult niederließ und den übrigen Schülern bedeutete, sich zu setzen.

»Ich heiße Johann Konrad Friedrich und möchte eigentlich nicht Ihren Unterricht stören, aber ich hätte Sie gerne etwas gefragt. Das muss auch nicht gleich sein, sondern später, wenn Sie Zeit haben. Ich kann ja vielleicht draußen auf Sie warten«, gab Johann in bemüht munterem Tonfall von sich, als sich auch schon die Miss wie eine Harpyie auf ihn zubewegte und die Reitgerte haarscharf an seinem Ohr vorbei einen Millimeter neben seiner linken Hand auf das Pult knallen ließ.

»Ich stelle hier die Fragen und sonst niemand! Ist das klar? Für unaufgefordertes Sprechen gibt es zehn Schläge aufs blanke Hinterteil mit dem spanischen Rohr. Hosen runter, Friedrich, und übers Pult mit dir!«, zischte sie ihm ins Gesicht wie eine wütende Königskobra, die gleich zuschlagen wird.

»Aber ich möchte Sie doch nur kurz etwas fragen. Bitte, kann ich nicht irgendwo auf Sie warten? Es ist wichtig«, bat Johann sie inständig.

»Halt auf der Stelle den Mund, Friedrich, oder ich verdresche dich so, dass du in keinen Sarg mehr passt. Ab mit dir in die Eselsecke und die Eselsmütze auf. Da bleibst du so lange stehen, bis ich dir Bescheid gebe. Und sei dir gewiss, auf dich wartet heute noch eine Extralektion.« Die hochgewachsene Dame schien trotz ihrer Hagerkeit über erhebliche Körperkräfte zu verfügen, denn sie umklammerte Johanns Unterarm mit eisernem Griff und zerrte den verdatterten Mann zur Eselsecke, wo sie ihm grob die haarige Eselsmütze mit den überlangen Ohren über den Kopf stülpte. Das alles vollzog sich so schnell, dass Johann gar nicht recht wusste, wie ihm geschah, und ehe er sich besinnen konnte, war um ihn herum alles stockfinster. Er lehnte sich an die Wand und beschloss, zunächst einmal abzuwarten. Wenigstens war er so außerhalb der Gefechtslinie, und der ›Unterricht‹ ging ohne ihn weiter, was ihn in Anbetracht dessen, was er nach und nach zu hören bekam, zunehmend mit Erleichterung erfüllte. Immer wieder mussten die Schüler Aufgaben lösen und wurden für den kleinsten Fehler von der gestrengen Lehrerin gezüchtigt. Ständig vernahm Johann unter seiner Mütze das fahrige Stottern der verängstigten Kandidaten und die bösartigen Beschimpfungen der Miss, die ihre Züchtigungen begleiteten. Die Gepeinigten keuchten und stöhnten in wolllüstiger Qual um die Wette, und endlich, Johann waren vom langen Stehen schon die Beine eingeschlafen, schien der Unterricht ein Ende gefunden zu haben. Er vernahm noch die devoten Abschiedsgrüße der drangsalierten Herren, hörte, wie der Schlüssel im Türschloss gedreht wurde und dann herrschte Stille. Erschrocken riss er sich die Eselsmütze vom Kopf, doch im Klassenzimmer war alles dunkel. Er tastete nach der Tür, versuchte sie zu öffnen, musste jedoch feststellen, dass sie abgesperrt war. Ratlos lehnte er sich dagegen und überlegte, was er tun sollte, als sich von draußen Schritte näherten. Gleich darauf wurde aufgeschlossen, und Johann sah sich vis-à-vis mit der Miss, Madame Zink und einem vierschrötigen Kerl, der Johann um mindestens drei Haupteslängen überragte.

»Ja, das ist der Kerl«, näselte Madame Zink bei Johanns Anblick verärgert, worauf der Stiernacken ihn sofort in den Schwitzkasten nahm und ihn wie ein Spielzeug den Flur entlang schleifte. Sie kamen in einen kleinen, behaglich eingerichteten Salon, die beiden Frauen ließen sich auf einer Chaiselongue nieder, und Johann wurde von dem Hünen auf einen Stuhl gedrängt und mit Argusaugen bewacht.

Nachdem der Sachverhalt noch einmal ausführlich erörtert wurde und Madame Zink sich Johanns absolute Verschwiegenheit ausbedingt hatte, erklärte die Bordellbesitzerin schließlich, dass sie es der Miss überlassen möchte, Saltzwedels Angaben zu bestätigen. Diese überlegte eine Weile, ehe sie widerstrebend das Wort an Johann richtete: »Normalerweise gebe ich einem Mann ja keine Erklärungen ab«, blaffte sie, nahm sich aus einer Silberdose auf dem Tisch eine Zigarre und bedeutete dem Hünen mit herrischer Geste, sie ihr anzuzünden. Nachdem sie ein paar Züge gepafft hatte, fuhr sie in milderem Tonfall fort: »Aber das war ja eine Kollegin, die umgebracht worden ist, und verdammt noch mal, es wird Zeit, dass sie das Schwein endlich kriegen! Der Saltzwedel war es jedenfalls nicht. Der kommt jeden Samstagnachmittag um vier Uhr in meinen Unterricht, und der dauert bis halb sechs. Und am 25. August war er ebenfalls da. Der hat auch dafür bezahlt. Und so was merke ich mir immer ganz genau. Ist alles hier oben verzeichnet, da brauche ich keine Geschäftsbücher.« Sie tippte sich an die Stirn. »So, das war’s. Kann ich jetzt vielleicht endlich meinen wohlverdienten Feierabend haben?«, murrte sie mit Blick auf Madame Zink.

»Aber natürlich, Schatz«, beeilte sich diese zu flöten und beauftragte den Gorilla, Johann zur Tür zu begleiten.

»Nochmals vielen Dank, die Damen, und entschuldigen Sie bitte mein kleines Verwirrspiel.« Johann verbeugte sich höflich vor Madame Zink und küsste ihr galant die Hand. Als er sich danach auch bei der Miss auf diese Art verabschieden wollte, keifte diese angewidert, er solle sich bloß nicht unterstehen. Bestenfalls gestatte sie ihm, ihr die Stiefel zu lecken, fügte sie mit sinistrem Lächeln hinzu. Doch das, oder da müsste sie sich schon sehr in ihm getäuscht haben, käme ja für ihn nicht infrage.

»Da liegen Sie richtig, meine Dame. Mit gestrengen Gouvernanten kann ich nicht viel anfangen. Dennoch möchte ich Ihnen mein Kompliment aussprechen: Sie beherrschen Ihr Fach meisterlich. Küss die Hand, Gnädigste.« Johann, wieder ganz der alte Charmeur, verneigte sich vor der Miss, die seine Huldigung mit verhaltenem Wohlwollen entgegennahm.

7

Am Abend des 19. September 1836 verließ die stellungslose Dienstmagd Gertrud Jäger ihr winziges Mansardenzimmer im Hause des Gastwirts Wilhelm Storck in der Schäfergasse und bog nach einigen Metern in die Zeil ab. Es war ein wunderbarer Spätsommerabend, nicht mehr so warm wie im Hochsommer, aber auch noch nicht von herbstlicher Kühle. Über die Zeil wehte ein frischer Windhauch an diesem leicht diesigen Samstagabend und Gertrud fröstelte in ihrem fadenscheinigen Sommerkleid. Sie ging an der glanzvollen Fassade des ›Russischen Hofs‹ vorbei, erblickte hinter den großen, hellerleuchteten Fenstern eine Behaglichkeit, die sie nur erahnen konnte, und dachte bei sich in bitterer Gewissheit, dass schon eine der Zechen, die hier so leichthin beglichen wurden, ausgereicht hätten, ihre ärgste Not zu lindern.

Auch die fröhlichen, jungen Leute vor dem farbig illuminierten Frankfurter Vauxhall trugen nicht dazu bei, Gertruds niedergeschlagene Stimmung zu heben. Schon vor Jahren, als sie hier das erste Mal vorbeigekommen war und die flackernden Lichter dieses Feengartens wahrgenommen hatte, in dem echte Indianer ›auf den Kriegspfad‹ gingen und andere Schaustücke die Gäste in das alte Rom oder das ferne Peking entführten, hatte sie sich aus tiefstem Herzen gewünscht, nur ein einziges Mal mitsamt ihren Eltern und Geschwistern in diese Wunderwelt eintauchen zu dürfen. Sie alle wären fein herausgeputzt und hätten ihre Sonntagskleider an, würden dicke Schinkenbrote essen und eisgekühlte Waldmeisterlimonade dazu trinken. Und wenn ihre Geschwister endlich groß genug wären und ihr eigenes Geld verdienen könnten, dann würde sie sich jeden Monat etwas zurücklegen, und wenn sie genug beisammen hätte, dann würde sie sich eine Schiffskarte nach Amerika kaufen und dort ein abenteuerliches, freies Leben führen.

Solche Tagträume überkamen Gertrud auch jetzt wieder, und sie spähte sehnsüchtig durch das weite, von Pechkränzen erleuchtete Eingangsportal. Oh, wenn es ihr doch jemals gelänge, sich unter diese unbeschwerten Menschen zu mischen. Doch die raue Wirklichkeit, ihr vor Hunger knurrender Magen und die Einsamkeit inmitten dieser glücklichen Fremden holten sie rasch ein und verboten ihr streng, solchen Hirngespinsten nachzuhängen.

Jetzt, wo es kaum noch schlimmer kommen konnte und sie vor Sorgen nicht mehr ein und aus wusste.

Die hübsche, dunkelhaarige Gertrud war 19 Jahre alt und stammte aus der kleinen Ortschaft Seelenberg im Taunus. Vor vier Jahren war sie nach Frankfurt gekommen, wo sie durch die Vermittlung einer Cousine eine Stellung als Dienstmagd bei einer gut situierten Arztfamilie gefunden hatte. Ihre Herrschaft, Frau Doktor Bastian, eine wenig umgängliche Dame, machte ihr von Anfang an das Leben schwer. In allen Haushaltsdingen äußerst penibel und schwer zufriedenzustellen, war sie überdies noch ausgesprochen geizig, und die Dienstboten wurden, was die Mahlzeiten anbetraf, sehr kurz gehalten. Als nach einer Abendgesellschaft noch Schnittchen übrig geblieben waren und Gertrud sich in ihrem Hunger eines davon genommen hatte, wurde sie von ihrer Herrschaft dabei ertappt und erhielt eine fristlose Kündigung.

Seit acht Tagen war sie nun ohne Stellung, und die paar Kreuzer, die sie als ausstehenden Lohn noch erhalten hatte, waren auch bald aufgebraucht. Ihre Leute daheim wussten noch gar nichts von ihrem Unglück. Es waren arme Taunusbauern mit sechs hungrigen Kindern, die sich mit der Bewirtschaftung der kargen, steinigen Felder gerade so über Wasser halten konnten. Dankbar nahmen sie die sporadischen Geldzuwendungen ihrer ältesten Tochter Gertrud entgegen, die allerdings, wenn Gertrud nicht bald eine neue Stellung fand, ausbleiben würden. Tagelang hatte sie sich nun den Kopf zermartert, ob sie nicht doch das machen sollte, was ihre beiden Zimmernachbarinnen, ebenfalls stellungslose Mägde, gelegentlich taten, und hatte sich heute endlich dazu durchgerungen, die besagte Wirtschaft aufzusuchen. Als sie beim Roßmarkt in die Schlesinger Gasse einbog, sah sie bereits die erleuchteten Fensterscheiben des Gasthofs ›Zur feschen Mamsell‹, der gegenüber dem Junghof lag. Hier verkehrten dienstlose Mägde, welche sich in ihrer Not in Hinterzimmern mit Herren einließen. Man sah junge und in die Jahre gekommene, gepuderte, geputzte, parfümierte, hübsche, hässliche, mitunter auch sehr ärmlich wirkende Frauen. Musikanten spielten auf, und einige Mädchen tanzten mit männlichen Gästen, die sie dabei auf unzüchtige Weise anfassten. Von Zeit zu Zeit verschwand ein Mädchen mit einem Herrn durch eine Tür neben der Theke, hinter der sich mehrere kleine Kämmerchen mit durchgelegenen Betten befanden.

In der Gaststube verkehrten Herren der unterschiedlichsten Art: Verheiratete und Ledige, Bäckergesellen und Schreiber, Richter und Notare waren hier auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer. Gertrud saß allein an einem Tisch in der Ecke und fühlte sich überaus verloren unter den vielen ausgelassenen Menschen. Da spielte das Orchester einen Wiener Walzer, ein Tanz, der in letzter Zeit sehr in Mode gekommen war, und mit einem Mal stürzte alles auf die kleine Tanzfläche. Vor Gertruds Tisch stand plötzlich ein junger Herr und forderte sie mit höflicher Verbeugung zum Tanzen auf. Er war vornehm gekleidet und machte einen wohlhabenden Eindruck, doch Gertrud zögerte, und vor Schüchternheit errötend stammelte sie: »Ich kann gar nicht tanzen, der Herr.«

»Das ist doch kein Problem«, entgegnete der Mann. »Vertrauen Sie sich einfach meiner Führung an.«

Schon nach den ersten Schritten erwies sich, dass ihr Partner den Tanz gut beherrschte, und schwungvoll wirbelten sie über die Tanzfläche. Gertrud wurde von den ständigen Umdrehungen schwindlig, und sie bat den jungen Mann, nicht ganz so ausgelassen zu tanzen. Dieser lächelte amüsiert.

»Schauen Sie auf mein Ohrläppchen, das hilft gegen den Schwindel«, riet er seiner Tanzpartnerin. Gertrud hielt sich an seinen Ratschlag, und das Tanzen machte ihr allmählich sogar Spaß. Doch da war die Musik auch schon zu Ende. Der Herr, der sich während des Tanzes tadellos betragen hatte und kein einziges Mal zudringlich geworden war, wie Gertrud es zuvor bei anderen Tänzern beobachtet hatte, geleitete die junge Frau zurück zum Tisch und erkundigte sich höflich, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Gertrud stimmte zu. Der junge Mann ließ sich neben ihr auf einem Stuhl nieder und bestellte einen Krug Wein. Als der Wein eingetroffen war, prostete er ihr zu und betrachtete sie mit unergründlichem Lächeln.

»Sie sind eine sehr hübsche Dame und gefallen mir über die Maßen. Wollen wir uns nicht an einen ruhigeren Ort zurückziehen?«, flüsterte er mit leicht bebender Stimme. Gertrud wurde es bei seinen Worten siedend heiß, und betreten blickte sie sich um. Der Herr, dem ihre Scheu nicht entgangen war, versuchte zu beschwichtigen: »Sie brauchen sich doch nicht vor mir zu fürchten, meine Liebe. Fürwahr, ich möchte doch nur, dass wir es uns ein bisschen nett machen, in Ruhe ein Glas Wein zusammen trinken und uns ein wenig unterhalten. Und wenn Sie es mir erlauben, möchte ich einzig Ihre Schönheit bewundern. Mehr will ich nicht, glauben Sie mir. Schenken Sie mir einen Augenblick, sagen wir eine halbe Stunde. Ich zahle Ihnen auch einen Gulden für Ihre wertvolle Zeit.«

Gertrud schluckte, ein so großzügiges Angebot konnte sie in ihrer Situation doch nicht ausschlagen, und erklärte sich schließlich einverstanden. Ihr Begleiter orderte an der Theke noch einen Krug Wein und zwei Gläser, der Mindestverzehr für Benutzer der Séparées neben 50 Kreuzern Mietzins, und die beiden zogen sich in eines der Kämmerchen zurück. Dort verschloss der Mann, gleich, nachdem sie eingetreten waren, mit dem von innen steckenden Schlüssel die Tür und forderte Gertrud auf, sich doch schon auszuziehen, er wolle inzwischen den Wein einschenken. Als die junge Frau kurz darauf im flackernden Licht der Petroleumlampe nackt vor ihm stand, reichte er ihr ein volles Glas und prostete ihr zu. Um sich Mut anzutrinken, leerte Gertrud ihr Glas in wenigen Zügen und setzte sich auf den Rand des Bettes.

Sie ziere sich ja so, sie mache so etwas doch bestimmt nicht zum ersten Mal, bemerkte der Herr, der immer noch vollständig angekleidet war, mit spöttischem Unterton. Als Gertrud ihm verlegen eingestand, dass genau das der Fall sei, entgegnete er verächtlich, dass früher oder später doch jede zur Hure werde.

Von dieser abfälligen Bemerkung zutiefst gedemütigt, schämte sich die junge Frau plötzlich unsäglich ihrer Nacktheit und wollte unwillkürlich nach der Bettdecke fassen, um ihre Blöße zu bedecken, doch ihre Hände gehorchten ihr nicht mehr. Schlagartig wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst, sie fühlte sich wie ein Tier in einer unsichtbaren Falle, schutzlos ihrem Peiniger ausgeliefert. Von wilder Panik erfüllt, versuchte sie mit aller Kraft, dem Unheil zu entrinnen, doch sie war außerstande, einen Laut von sich zu geben oder sich von der Stelle zu bewegen.

Gertruds Todeskampf dauerte fast eine halbe Stunde. Nachdem ihr klar geworden war, dass sie rettungslos verloren war, sehnte sie nur noch den Tod herbei, um endlich von ihren Höllenqualen erlöst zu sein.

Bis zum Schluss flehte sie den Herrgott an, er möge sie aus den Klauen dieses Teufels erretten, der sie die ganze Zeit über mit einem kalten Blick beobachtete, der nichts Menschliches hatte.

Als Gertrud tot war, beendete der Mörder seine Notizen und warf einen Blick auf die Taschenuhr.

Schon besser als beim letzten Mal!, dachte er sich. Immerhin hat es fast 30 Minuten gedauert, bis sie verreckt ist.

Er würde die Dosis noch verändern müssen, damit die Qual länger andauerte.

*

Die Leiche der jungen Gertrud Jäger wurde erst frühmorgens um vier Uhr vom Wirt der ›Feschen Mamsell‹, Kurt Hensel, entdeckt.

Hensel, als alter Kneipier ein eher abgeklärter Zeitgenosse, den so leicht nichts aus der Ruhe brachte, war von dem schrecklichen Anblick der Toten, ihren verzerrten Gesichtszügen und verkrümmten Gliedmaßen so erschüttert, dass er sich, einer Ohnmacht nahe, zunächst ein Glas Branntwein genehmigen musste, um wieder zu sich zu kommen. Eilends schickte er seinen Hausknecht zur nahe gelegenen Hauptwache, um die Gendarmerie zu verständigen. Dem diensthabenden Wachmann blieb in Anbetracht der Dringlichkeit nichts anderes übrig, als Oberinspektor Brand herausklingeln zu lassen.

Der Polizeiinspektor, der in einem schmucken Häuschen in der Hohen Straße lebte, war ob der frühen Störung mehr als ungehalten. Am gestrigen Samstagabend war es spät geworden. Er war im renommierten Gasthaus ›Weidenhof‹ unweit der Hauptwache zum Essen eingeladen gewesen. Der Wein war vortrefflich und in Strömen geflossen, und Brand, alles andere als ein Kostverächter, hatte ihm wacker zugesprochen. Zu wacker, wie sich an diesem unheilvollen Sonntagmorgen herausstellte, denn der In­spek­tor hatte einen ausgewachsenen Kater. Aber wie hätte er auch ahnen können, dass man ihn zu solch unchristlicher Zeit behelligen würde. Als er das Stichwort ›Mord‹ vernahm, läuteten bei ihm die Alarmglocken, und obgleich er ein wahrer Meister im Delegieren unangenehmer Aufgaben war, kam er in diesem Fall leider nicht umhin, in die Kleider zu springen und sich seinem jungen Kollegen Max Wilde anzuschließen, wollte er nicht wieder zu Polizeisenator Hessenberg zitiert werden.

Mit grauem Gesicht, denkbar schlechter Laune und einer Alkoholfahne wie ein Branntweinkutscher, traf er in der ›Feschen Mamsell‹ ein und stellte den Wirt barsch zur Rede. Kurt Hensel, verärgert über den rüden Ton und normalerweise ein Mann, der sich nichts gefallen ließ, bemühte sich dennoch um Contenance, nicht zuletzt wegen seiner stundenweise vermieteten Kämmerchen, die offiziell als Fremdenzimmer deklariert waren. Es sei allerdings angemerkt, dass Hensel im Rahmen einer stillen Übereinkunft seit vielen Jahren Sonderzahlungen an die Polizeibehörde leistete, die im Gegenzug die Fremdenzimmer auch als solche akzeptierte. Hensel, der sich nicht ganz sicher war, inwieweit Brand ihm diesbezüglich Schonung gewähren würde, führte den Inspektor und seinen jungen Gehilfen schließlich zu der Toten. Vorsichtig berichtete er, wie er die Leiche in der Kammer vorgefunden hatte.

»Die ist ja splitterfasernackt. Haben Sie die so gefunden?«, erkundigte sich der junge Inspektoren-Anwärter Max Wilde.

»Ja, genau so. Ich habe nichts verändert«, erwiderte Hensel.

»Kennen Sie den Namen der Person? Seit wann hat sie denn das Zimmer bei Ihnen angemietet? Sie haben doch bestimmt ein Vermietungsbuch, wo das alles eingetragen ist. Können Sie uns das bitte vorlegen?«, hakte Wilde nach und wurde sofort von Brand unterbrochen.

»Gemach, gemach, junger Freund. Die Ermittlungen führe immer noch ich«, was den in die Enge getriebenen Hensel erleichtert aufatmen ließ. »Alles zu seiner Zeit. Jetzt wollen wir doch erst mal die Umgebung inspizieren«, fuhr Brand resolut fort, während er mit spitzen Fingern die Kleidung der Toten, die auf einem Schemel lag, durchsuchte. Sein Gehilfe wandte sich dem Bett zu.

»Das ist ja vielleicht eine Schweinerei. Na, die muss es ja toll getrieben haben«, bemerkte er mit Blick auf das mit getrockneten Ejakulationsflecken übersäte Leinentuch. Der Wirt schaute bei seinen Worten verlegen zu Boden, und Brand tat, als habe er nichts gehört. Stattdessen hielt er triumphierend einen Schlüsselbund in die Höhe.

»Der war da drin.« Er deutete auf ein kleines, mit Kreuzstichen besticktes Handtäschchen, das auf dem Boden lag. ›Pension Storck‹ steht da drauf. Und die ist, wenn ich mich nicht täusche, in der Schäfergasse. Gehen Sie doch mal da hin, Wilde. Das ist hier ganz in der Nähe, und knöpfen Sie sich den Vermieter vor. Vielleicht bringen Sie ja was in Erfahrung, das uns weiterhilft. Ich mach solange hier weiter«, knarzte Brand seinem Gehilfen zu, der sich gleich darauf mit dem Schlüsselbund in den Händen entfernte.

Zu Hensels Erleichterung waren Brands Ermittlungen nach dem Aufbruch seines Untergebenen bald beendet. Die weiteren Hintergründe und auch der Zimmernachweis schienen den Inspektor nicht näher zu interessieren. Er fragte Hensel lediglich, ob er die Tote kenne. Als der Wirt dies verneinte und außerdem bemerkte, dass er sie bislang noch nie in seinem Lokal gesehen und sie auch am gestrigen Abend nicht bemerkt habe, erkundigte sich Brand, ob ihm denn am Vortag unter seinen Gästen ein Mann aufgefallen sei, der sich sonderbar verhalten habe. Doch auch dazu konnte Hensel nichts sagen. Brand ließ die Tote da­raufhin in die Rechtsmedizin bringen.

Am Nachmittag beauftragte der Inspektor seinen Assistenten, das Personal der Gastwirtschaft zu befragen. Die Angestellten waren jedoch außerstande, eine brauchbare Täterbeschreibung abzugeben. Übereinstimmend wurde zu Protokoll gegeben, keinem sei in dem großen Trubel etwas Außergewöhnliches aufgefallen. Die Leute hätten sich alle verhalten wie immer, hätten getanzt, getrunken und sich amüsiert. Es sei brechend voll gewesen und es wäre ein ständiges Kommen und Gehen gewesen.

Am Sonntagabend erhielt der Inspektor die Benachrichtigung des Leicheninspektors, die Sektion der Toten sei abgeschlossen, und er bat ihn, zur Leichenschau ins Senckenbergische Institut zu kommen. Brand, der gehofft hatte, erst am Montag damit behelligt zu werden, und gerade dabei war, sich von seinen Strapazen bei einem kleinen Abendimbiss zu erholen, stieß ob dieser erneuten sonntäglichen Störung lauthals böse Flüche aus.

»Das macht alles nur Arbeit und Ärger«, schimpfte er, als er in die Kutsche stieg, um zum Gebäude der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft nahe dem Eschenheimer Turm zu fahren.

Als er den weiß gekalkten Kellerraum der Anatomie betrat, dem neben einem süßlichen Verwesungshauch auch ein strenger Chemikaliengeruch anhaftete, drehte sich ihm förmlich der Magen um, was beim Anblick des blutbesudelten Kittels von Doktor Hoffmann, der ihn erwartete, nicht gerade besser wurde.

»Sie sind schon ganz grün im Gesicht, und dabei haben wir uns die Leiche noch gar nicht vorgeknöpft«, scherzte der Arzt beim Anblick des Inspektors.

»Ganz schön kalt hier unten«, entgegnete der mit belegter Stimme und stellte schlotternd seinen Kragen hoch.

»Fast so kalt wie im Keller der Eis-Konditorei Bütschly. Nur, dass wir hier nicht so leckere Sachen haben«, frotzelte der Leicheninspektor. »Nein, im Ernst, unsere Kundschaft muss es kalt haben. Sonst verfaulen die uns hier förmlich unter den Händen. Erst recht im Sommer, wenn es heiß ist. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Kandidaten aufs Eis zu legen. Wir haben übrigens, genauso wie der Bütschly, eine Eis-Grube im Keller«, plauderte Doktor Hoffmann unbekümmert und konnte sich einer gewissen Häme beim Anblick von Brands fahlem Teint nicht erwehren. »Aber dann wollen wir doch mal ran an die Buletten, wenn ich das mal so sagen darf. Folgen Sie mir bitte unauffällig.« Der Doktor steuerte mit Brand im Schlepptau auf einen der drei Seziertische zu, auf dem, bedeckt mit einem weißen Leinentuch, die sterblichen Überreste von Gertrud Jäger lagen. Bevor er das Tuch anhob, überreichte Hoffmann dem Inspektor ein mit Eukalyptustinktur getränktes Taschentuch. »Fest an die Nase pressen und tief einatmen. Und jetzt die Zähne zusammenbeißen und Haltung bewahren«, raunte er beruhigend, als er das Laken aufdeckte. Beim Anblick der unbekleideten Leiche, über deren Torso ein großer y-förmiger Schnitt verlief, der mit groben Stichen genäht war, konnte Brands ohnehin verkorkster Magen nicht mehr länger an sich halten, und der Inspektor hastete zu einem in der Nähe stehenden Kübel, in den er sich heftig übergab. Hoffmann war herbeigeeilt, um sich um ihn zu kümmern.

Er schob Brand einen Stuhl hin und reichte ihm ein Glas Wasser. »Wenn Sie das nächste Mal kotzen müssen, dann bitte nicht mehr in die Organ-Schale«, bemerkte er spöttisch, während er dem Inspektor mit einem Tuch die schweißnasse Stirn tupfte.

»Geht es wieder?«, erkundigte er sich nach einer Weile.

»Ich denke schon. Eine Frage, hätten Sie vielleicht einen Kognak da? Ich glaube, den könnte ich jetzt gebrauchen«, bat der Inspektor leicht verlegen.

»Mit so was kann ich leider nicht dienen. Das einzig Gehaltvolle, das ich hier habe, sind Ethanol und Formalin. Aber das würde ich Ihnen nicht empfehlen. Also, trinken Sie noch einen Schluck Wasser und reißen Sie sich am Riemen. Das ist doch bestimmt nicht Ihre erste Leiche, oder?«, entgegnete Hoffmann ungeduldig.

»Mitnichten, Herr Leicheninspektor, mitnichten! Aber ich habe auch nicht bei jeder Leichenschau mit einem verdorbenen Magen zu kämpfen«, erwiderte Brand leicht verschnupft.

»Sehen Sie, und da ist Schnaps das Verkehrteste, was man machen kann! Fahren Sie nach Hause, und kochen Sie sich einen Kamillentee. Aber erst mal machen wir jetzt unsere Arbeit.« Hoffmann hatte den Inspektor untergehakt wie eine schwache Wöchnerin und spazierte mit ihm zum Seziertisch. Ohne viel Federlesens forderte er Brand auf, sich die Tote einmal genauer anzuschauen. »Fällt Ihnen da was auf?«, fragte er schließlich, als von Brand noch immer nichts zu vernehmen war.

»Na ja, die sieht der anderen Toten, dieser Gerlinde Dietz, ziemlich ähnlich. Soweit man das bei den verzerrten Gesichtszügen überhaupt sagen kann«, grummelte der Inspektor nach einer Weile kleinlaut.

»Genau!«, rief der Doktor zustimmend. »Und nicht nur, dass sich die beiden Ermordeten verblüffend ähnlich sehen. ›Ermordet‹ deswegen, weil auch die hier zweifellos keines natürlichen Todes gestorben ist, das sei hinzugefügt. Damit aber nicht genug: Ich habe Grund zu der Annahme, dass die Tote hier ebenfalls mit Aconitin vergiftet wurde. Zumindest deutet alles darauf hin.«

»Also liegt die Vermutung nahe, dass hier ein Wiederholungstäter am Werk war«, stellte Brand missmutig fest.

»Sie sagen es, Herr Oberinspektor, Sie sagen es! Der Fall Dietz erscheint demnach in ganz neuem Licht, finden Sie nicht auch? Und kann unter diesen Gesichtspunkten noch lange nicht zu den Akten gelegt werden«, bemerkte Hoffmann spitz. »Das riecht nach Arbeit, lieber Herr Kollege, stellen Sie sich darauf ein, das riecht nach Arbeit«, feixte Hoffmann und klopfte dem zerknirscht dreinblickenden Inspektor mit frechem Grinsen auf die Schulter.

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
Hacim:
413 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783839234723
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