Kitabı oku: «Wie im Flug», sayfa 3
Die Ursulinen
Die Ursulinen waren ebenfalls entscheidende Überlebenshelfer, und aus dieser Verbundenheit heraus habe ich den Namen Ursula erhalten. Als es meiner Schwester aus rassischen Gründen versagt war, eine normale weiterführende Schule, ein Gymnasium, zu besuchen, und der kindliche Ausdruck in ihrem Gesicht einem zu frühen Erwachsensein wich, wovon die Kindheitsfotos ein beredtes Zeugnis ablegen, fand sie Zuflucht bei den Ursulinen in der Johannesgasse in der Inneren Stadt.
Die Mutter meines Vaters, meine geliebte Omi, eine geborene Henriette Deipenbrock und seit Langem geschiedene Stenzel, die bis zu ihrem Tod mit 91 Jahren mit uns unter einem Dach wohnte, erinnerte sich daran, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Schwester Ella und schließlich auch ihre Tochter Vera, die ältere Schwester meines Vaters, also alle Mädchen in dieser Familie, bei den Ursulinen in die Schule gegangen waren – meine Großmutter und ihre Schwester noch in Mährisch-Ostrau, wo sie wegen der Versetzung ihres Vaters Heinrich Deipenbrock, der Inspektor bei der Nordbahn gewesen war, ihre Kindheit verbracht hatten, später die Schwester meines Vaters, Vera Stenzel, eine Absolventin der Lehrerbildungsanstalt der Ursulinen in Wien, die damals in dem altehrwürdigen Klostergemäuer in der Johannesgasse untergebracht war, wo heute die Abteilung für Kirchenmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst ihre Heimstatt gefunden hat und auch ich zur Schule gegangen bin.
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Meine Schwester als fröhliches Kleinkind.
In dieser verzweifelten und hoffnungslosen Situation meiner Schwester Marianne entsannen sich meine Großmama und meine Eltern also der Ursulinen. Es muss das Jahr 1942 oder 1943 gewesen sein. Meine Mutter nahm meine Schwester an der Hand und klopfte an die Klosterpforte. Eine, wie sie sagte, junge und bildhübsche Nonne, als Mater Martina stellte sie sich vor, öffnete und führte sie hinein in einen Raum, wo andere junge Mädchen, ebenfalls aus verfolgten Familien, betreut wurden. Den Ursulinen war ja wie anderen Klosterschulen der Unterricht versagt worden. Es wurde gespielt, auf jeden Fall alles unternommen, um diesen jungen Mädchen ein wenig Ablenkung und Geborgenheit zu vermitteln. Darunter befand sich auch Ursel Kehlmann, die Schwester des späteren Regisseurs Michael Kehlmann und Tante seines Sohnes, des Schriftstellers Daniel Kehlmann. Es klingt wie Namedropping, das ist es aber nicht: Die Namen der Kinder, die von den Ursulinen hier in Obsorge genommen wurden, lasen sich wie das „Who’s who“ der gutbürgerlichen Wiener Gesellschaft, Kehlmann, Maculan, Schönbichler usw.
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Mit sechs Jahren: „Mischling ersten Grades“.
Für meine Schwester Marianne waren die Stunden in der Klosterschule eine Gegenwelt zu der Qual, die sie in der Schule für „geistig Minderbemittelte“ als „Mischling ersten Grades“ ertragen musste, mit einer fanatischen Nazine als Lehrerin, die sie stundenlang mit zum Hitlergruß erhobenem Arm in der Ecke stehen ließ und ihre schriftlichen Übungen zerriss, um sie noch zusätzlich zu demütigen. Meine Schwester war verpflichtet, die Vormittage an dieser Sonderschule zu verbringen. Nach dem Ende der Hitlerjahre musste meine Schwester wie alle Mädchen ihres Jahrganges die Aufnahmeprüfung an das Gymnasium der Ursulinen nachholen, und zwar musste sie mit 13 Jahren in die dritte Gymnasialstufe springen. Sie hatte sich so gut wie möglich darauf vorbereitet. Noch während des letzten Kriegsjahres und danach hatte sie Unterricht in den wesentlichen Fächern von einem jungen, zivilcouragierten Mann namens Bader erhalten (der Vorname ist mir nicht mehr in Erinnerung), den meine Eltern – ich weiß nicht wie – aufgetrieben hatten, und natürlich auch von meinem Vater. Sie hat auch alle Gegenstände geschafft. Trotzdem wäre sie fast an dem Religionsprofessor Dr. Anton Schifauer gescheitert. Er war mit der Beantwortung einer Frage nach der geschichtlichen und religionsphilosophischen Bedeutung der Reformation und Martin Luthers nicht zufrieden. Die Ursulinen seien keine Schule für „geistig Minderbemittelte“, sagte er und wollte meine Schwester durchfallen lassen – das Beispiel eines katholischen Geistlichen, an dem offenbar der religiös motivierte Antisemitismus nicht spurlos vorübergegangen war. Meine Schwester war verzweifelt und brach in Tränen aus. Nicht so Ursel Kehlmann, die ebenfalls zur Aufnahmeprüfung angetreten war und ein ähnliches Schicksal hatte wie meine Schwester: „Du wirst doch nicht heulen, das lassen wir uns nicht bieten …“, fuhr sie meine Schwester an und nahm sie sofort mit zu sich nach Hause, wo Marianne – für die unmittelbare Nachkriegszeit eine Sensation – mit panierten Hühnerbügerln gelabt wurde, eingewickelt in weißen Papiermanschetten und serviert von einem Hausmädchen in schwarzem Kleid mit weißer Schürze. Die Tafel war wunderschön gedeckt, an dem einen Tischende saß die Mama, ein wenig an Migräne leidend, am anderen Ende der Vater Ursel Kehlmanns, ein resoluter Rechtsanwalt, der es offenbar verstanden hatte, die großbürgerliche Kultur, die diese Wohnung in der Bartensteingasse atmete, über das Kriegsende hinwegzuretten. Der Bruder Ursel Kehlmanns, Michael, ging blass und durchgeistigt mit einem locker um den Hals geworfenen Schal durch die Räume und nahm von der familiären Tischgesellschaft so gut wie keine Notiz. Er war damals schon in seiner Welt, einer Welt der Literatur, des Theaters und des Filmes, in der er sich später als Regisseur einen großen Namen erwarb. In dieser Funktion lernte ich ihn viel später an der Seite meines Mannes kennen. Meiner Schwester blieb dieser Eindruck im Hause Kehlmann unvergesslich, und sie schilderte mir gegenüber die Atmosphäre noch viele Jahre später in so plastischen Worten, dass ich sie wiedergeben kann, als ob ich dabei gewesen wäre.
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Meine Schwester mit neun Jahren: bedrückt und früh erwachsen.
Ich hatte übrigens noch das Vergnügen, Ursel Kehlmann kennenzulernen. Wir gingen nämlich in dieselbe Sauna in der Rustenschacher Allee, die es leider nicht mehr gibt, und haben diese Erinnerung zwischen mehreren Aufgüssen Revue passieren lassen. Leider ist Ursel Kehlmann viel zu früh an Krebs gestorben. Ihr Vater hat damals nach dem Drama mit der missglückten Aufnahmeprüfung meiner Schwester umgehend bei der legendären Direktorin der Ursulinen, Mater Dr. Lucia Vecerka, vorgesprochen, die den Religionsprofessor sofort entließ und meine Schwester ins Gymnasium aufnahm, das diese 1951 mit der Matura erfolgreich abschloss. In diesem Jahr wurde ich bei den Ursulinen im alten Kloster in der Johannesgasse aufgenommen, der Beginn einer Schulzeit, die prägend für mich war und der ich Freundschaften zu verdanken habe, die mich mein ganzes Leben hindurch begleitet haben.
4.Hommage an Vera und Dr. Richard Deutsch
Im Gegensatz zu meinen Eltern, die in Wien blieben, emigrierten meine Tante väterlicherseits und ihr Mann in die USA – eine Odyssee.
Sowohl Vera, die um sechs Jahre ältere Schwester meines Vaters, als auch Richard, ihr Mann, hielten die Geschichte ihrer Emigration schriftlich fest, zunächst in englischer Sprache für ihren Sohn Henry als auch für dessen vier Söhne, von denen sie die beiden ältesten noch heranwachsen sahen. Deren mittlerweile sechs Kinder, also ihre Urenkel, erlebten sie nicht mehr. Die Aufzeichnungen sind, abgesehen davon, dass sie ein dramatisches Zeugnis von dem verheerenden Rassenwahn der NS-Ideologie ablegen, eine Fundgrube an Berichten über die Geschichte der Ersten Republik, der sowohl Vera als auch Richard eng verbunden waren, zunächst als Sozialdemokraten der ersten Stunde.
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Vera und Richard Deutsch.
Sie heirateten am 10. November 1928 im Marmorsaal des Rathauses in Wien, fast auf den Tag genau zehn Jahre nach Ausrufung der Ersten Republik. Richard war als Absolvent der Handelswissenschaften bereits in einer guten Position bei der Wiener Städtischen Versicherung angestellt. Die Trauung fand mit einer Stunde Verspätung statt, weil der Trauzeuge Richards, der Direktor der Wiener Städtischen, Norbert Liebermann, an einer Feier zur Gründung der Republik teilnahm und diese nicht vorzeitig verlassen konnte, was Richard ihm zeitlebens nie verzieh. Der Standesbeamte schloss die kurze Zeremonie mit der sonst nur bei kirchlichen Hochzeiten üblichen Formel: „… bis dass der Tod euch scheidet“ – worauf der Trauzeuge meiner Tante Vera, Dr. Oswald Richter, ein bekennender Agnostiker und Sozialdemokrat, der fließend Latein und Altgriechisch sprach, unüberhörbar fallen ließ: „Das war aber so nicht vereinbart …“ Beide, sowohl Richard als auch Vera, waren damals ohne religiöses Bekenntnis. Vera war als Lehrerin Anhängerin des Glöckel-Erlasses, mit dem Schulgebete und verpflichtender Religionsunterricht abgeschafft worden waren, befürwortete den Wandel von der Drill- zur Lernschule, schrieb Artikel für eine neue Pädagogik in der „Arbeiter-Zeitung“; Richard hielt Abendkurse für Erwachsene, weil er davon überzeugt war, dass die Arbeiterklasse und die Masse der Arbeitslosen nur über Bildung den Weg zur Demokratie finden könnten.
Richard hatte eine interessante Verwandtschaft: Julius Deutsch, der Gründer des Republikanischen Schutzbundes, war in erster Ehe mit der jüngsten Schwester seiner Mutter verheiratet, also ein angeheirateter Onkel; die Namensgleichheit war ein Zufall, allerdings politisch relevant. Richard hatte kein enges Verhältnis zu ihm, war aber sehr befreundet mit seinem Sohn Gustav und verzieh Julius Deutsch vor allem eines nicht: dass er auf die Bewaffnung der Arbeitermilizen setzte. In seinen Aufzeichnungen weist er darauf hin, dass diese Milizen schlecht ausgerüstet waren, mit alten Waffen aus dem Ersten Weltkrieg, und dass ihnen daher sowohl die Polizeikräfte als auch das Militär überlegen waren. Bereits im Jahr 1927, als am 15. Juli in Reaktion auf den sogenannten Schattendorfer Prozess der Justizpalast in Brand gesetzt wurde, hatte Richard ein traumatisches Erlebnis. Er ging von seinem Büro über die menschenleere Mariahilfer Straße nach Hause, als plötzlich wieder ein Schusswechsel ausbrach. Richard suchte Deckung unter einem Haustor und ging nach Beendigung der Schießerei wieder auf die Straße, wobei er über etwas stolperte, was sich als ein blutüberströmter Schädel herausstellte, in dem noch ein Teil des Gehirnes war. Den restlichen Leichnam hatte man offenbar schon entfernt. Als er das sah, an diesem 15. Juli 1927, befand er seine Arbeit als Erwachsenenbildner für gescheitert. Bei einem Treffen der Döblinger Sektion des Schutzbundes, der Richard seit April 1926 als Sektionssekretär angehörte, wurde Kritik an dem chaotischen Vorgehen der Bundesführung laut. Auch Richard schloss sich den Kritikern an, woraufhin er einige Tage später ein Schreiben erhielt, wonach er vom Schutzbund ausgeschlossen worden sei. Er hat – wie er schreibt – diesen Brief zuerst entzweigerissen, sich dann aber besonnen, die beiden Hälften wieder zusammengeklebt und sie in seinem Schreibtisch aufbewahrt. Seine Aufzeichnungen legen beredtes Zeugnis ab von der tragischen Zerrissenheit der Ersten Republik, die in den Ständestaat und letztlich in den Jubel über den Anschluss 1938 taumelte. Die Julirevolte war nur das Vorspiel für den Bürgerkrieg vom 12. bis 15. Februar 1934, in dessen Verlauf Richard kurzzeitig verhaftet wurde und sich in der Rossauer Kaserne mit anderen inhaftierten Genossen wiederfand, die ihn mit den Worten begrüßten: „Hier kommt der Mann mit den friedlichen Waffen!“
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Veras Aufzeichnungen für ihren Sohn – Erinnerungen an eine wahre Odyssee.
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Auch Richard Deutsch hielt seine Erinnerungen fest.
Vera kontaktierte damals Dr. Ernst Karl Winter, den 3. Vizebürgermeister von Wien, einen Vordenker der „Konservativen Revolution“.3 Ihm verdankte Richard, dass er nicht nur seine Stelle bei der Wiener Städtischen behalten konnte, sondern auch noch beruflich aufstieg. Mit Winter verband ihn und Vera eine innige Freundschaft. Richard würdigt ihn als einen der herausragenden Politiker, der versuchte, eine Aussöhnung zwischen den beiden verfeindeten Lagern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der Christlichsozialen Partei herbeizuführen. Er schrieb sogar in der von Winter herausgegebenen Zeitschrift „Arbeiter-Sonntag“ einen Essay unter dem Titel „80 Jahre Semmeringbahn“. Dieses Thema lag Richard besonders nahe, da er ein begeisterter Bergsteiger und Skifahrer war.
Unter dem politischen Druck des Ständestaates drängte Vera darauf, dass sie nun „Glauben zeigen sollten“, wie Richard es wörtlich wiedergibt. Vera trat wieder in die katholische Kirche ein; sie heirateten nochmals kirchlich, in meiner Heimatpfarre St. Nepomuk, nur in Anwesenheit des Messners, und Richard hatte sich zuvor entschlossen, dem katholischen Glauben beizutreten. Er nahm dies sehr ernst, und sein Taufpate war kein Geringerer als Ernst Karl Winter, von dem Richard schreibt, niemand habe seinen Glauben „so vertieft und gefestigt wie er“. Richard schildert ihn als einen hochintelligenten Menschen, der mit seinen Versuchen, die verfeindeten politischen Lager in der Ersten Republik zu versöhnen, leider gescheitert sei, weil er als Monarchist bei den Sozialdemokraten auf Widerstand stieß. Die Taufe nahm der Jesuitenpräses P. Georg Bichlmair vor, der später die „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ mit auf den Weg brachte. All das hat Richard aber nicht erspart, dass er nach dem Anschluss im Jahr 1938 in seinem Büro in der Städtischen Versicherung verhaftet wurde. Vorher allerdings hatten Vera und er den Versuch unternommen, mit der Bahn in die Tschechoslowakei zu fahren; der Zug wurde aber nicht über die Grenze gelassen und kehrte nach Wien zurück. Am folgenden Sonntag ging Richard noch in die Kirche und am Montag ins Büro. Dort erwarteten ihn zwei Männer in SA-Uniform, einer ein ehemaliger Angestellter von ihm, und sagten, sie müssten ihn verhaften. Es kam allerdings nicht dazu, denn Richard rammte sich ein Messer in die Brust, worauf er mit der Rettung in die damalige Klinik Denk gebracht wurde. Das war sein Glück, denn eine dortige Ärztin hat ihn bis zum Abheilen seiner Wunde in einem Hinterzimmer behalten und somit geschützt. Als Vera über Umwege davon erfuhr, konnte sie ihn sogar besuchen. In der Zwischenzeit aber drangen SA-Angehörige in ihre Wohnung in Sievering ein und beschlagnahmten Pass und Dokumente ihres Mannes sowie Bargeld. Vera begann daraufhin, für die Rückgabe der Dokumente zu kämpfen. Viermal sprach sie, entnehme ich ihren Aufzeichnungen, im Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz vor, um Richards Pass wiederzuerhalten und seine Freilassung zu bewirken. Sie hatte insofern Glück, als sie mit ihrem Ansinnen an einen preußischen Offizier offenbar adeliger Herkunft geriet. Er nannte nie seinen Namen, schickte aber immer seinen österreichischen Adjutanten hinaus und bestand bei der letzten Aussprache mit ihr darauf, auch ihren Mann zu sehen, um ihm persönlich den Pass auszuhändigen. Die Vorsprachen Veras im Gestapo-Hauptquartier sind ebenfalls erschütternde Zeugnisse der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Österreich. Sie schildert die zwei Menschenschlangen vor der Zentrale am Morzinplatz, die eine besonders elend und lang, das waren die Juden, die andere kürzer, aber auch in einem aufgewühlten Zustand, das waren die nicht jüdischen Freunde oder Ehepartner, die sich um die Freilassung Inhaftierter bemühten. Bei der zweiten Vorladung verlor meine Tante offenbar die Orientierung und konnte sich nicht mehr an das Büro des preußischen Offiziers erinnern bzw. daran, in welchem Stockwerk es sich befand. Ein junger diensthabender Gestapobeamter übernahm es aber, sie anhand ihrer guten Personenbeschreibung zu dem richtigen Offizier zu führen. Ihr fiel allerdings auf, dass sie in einem Trakt war, in dem sich offenbar politische Gefangene befanden; es war der Trakt, wo der zum Rücktritt gezwungene Kanzler Schuschnigg inhaftiert war.
Der preußische Offizier händigte Vera und Richard bei der letzten Begegnung den entwendeten Pass aus, allerdings nicht das Bargeld, das sei leider in der Kantine ausgegeben worden. Zum Abschluss nahm er Haltung an und sagte, sie hätten nun 90 Tage Zeit, um das Land zu verlassen: wenn sie einmal in den USA seien, werde ihnen innerhalb von fünf Jahren die Welt gehören. Der Offizier hat sich um drei Jahre verschätzt, es hat acht Jahre gedauert. Vera und Richard konnten also am 13. Juli 1938 Wien Richtung Triest verlassen. Als sie die Grenze zu Jugoslawien passierten, summte Richard vor sich hin: „Lieb Heimatland adé“.
Damit hatte die Odyssee erst ihren Anfang genommen. Von Triest ging es mit dem Schiff nach Lussinpiccolo – heute Mali Lošinj – auf der kleinen, damals noch zum Königreich Jugoslawien gehörenden Insel Lussino, wo sie bis zum Erhalt des amerikanischen Visums zusammen mit anderen Emigranten Unterschlupf fanden. Vera kehrte von dort nach Wien zurück, um die Wohnung aufzulösen – und vor allem, um ihr gerade fünf Monate altes Baby zu versorgen und zu sich zu holen. Auf Henry hatte in der Zwischenzeit eine liebe Haushaltshilfe namens Wetti aus dem Burgenland aufgepasst. Sie kam als ganz junges Mädchen zur Familie und hat sich loyal und anständig verhalten; Richard widmet ihr aus Dankbarkeit ein ganzes Kapitel seiner Erinnerungen. Nachdem der Haushalt aufgelöst war – damit sie in der Zwischenzeit überleben konnten, hatten sie einen Teil ihrer Wohnung an Dr. Jenny Adler vermietet, die Witwe des marxistischen Philosophen Max Adler –, trat Vera mit ihrem geliebten kleinen Sohn Henry die Rückreise nach Lussinpiccolo an, und zwar mit dem Flugzeug über Zagreb. In Zagreb musste sie für die Weiterreise umsteigen und vergaß in der Aufregung und schwer bepackt einen kleinen Koffer, in dessen Innenfutter sie die wichtigsten Dokumente für die Ausreise eingenäht hatte. Dass dieser Koffer fehlte, fiel ihr allerdings erst in Lussinpiccolo auf, woraufhin Richard einige Telefonate und Telegramme an die Fluglinie richtete – keine Antwort. Darauf entschloss er sich zu einer sehr ungewöhnlichen Aktion, die auch viel Mut erforderte. Er drohte dem Direktor des Flughafens von Zagreb mit dem deutschen Botschafter in Belgrad, falls der Koffer nicht umgehend an seine Besitzerin zurückgegeben würde. Und wirklich, es geschah das Wunder, dass der Koffer innerhalb von 48 Stunden an Vera retourniert wurde. In all dieser Zeit in Lussinpiccolo waren Richard und Vera noch nicht im Besitz des Wichtigsten, nämlich des Visums für Frankreich, denn sie mussten am 23. Oktober 1938 von Lussinpiccolo nach Cherbourg, um über den Atlantik nach New York zu fahren. Aus diesem Grund verließen sie ihre kleine Unterkunft auf der idyllischen Adriainsel in Richtung Neapel. Dort weigerte sich der französische Konsul, ihnen ein Visum für Frankreich auszustellen. Er hatte strikte Order, keine Flüchtlinge nach Frankreich zu lassen, auch nicht für die Durchreise. Vera und Richard bezogen damals Quartier in einem Kloster, wo sie von Nonnen aufgenommen wurden. Dass Vera und Richard mit ihrem Säugling nur die Durchreise benötigten, um sich in Cherbourg einzuschiffen, ließ der Konsul nicht gelten; die Schiffskarten genügten ihm nicht als Beweis. Daraufhin bot sich ein Italiener an, der sich auskannte und meinte, er könne das Visum innerhalb weniger Stunden besorgen. Er tat dies auch, aber nicht, ohne zuvor ein sehr wertvolles Zahlungsmittel erhalten zu haben, nämlich die geliebte Plaubel-Kamera Richards. So begab sich die Familie dann auf die nächste Etappe ihrer Reise, nach Cherbourg und dort auf die „Bremen“. Am 27. Oktober 1938 erreichten sie New York. Am Kai erwartete sie Ernst Karl Winter, der bereits im März 1938, wenige Tage vor dem Anschluss, Österreich verlassen hatte und über die Schweiz, Frankreich und Großbritannien in die USA geflohen war. Er erwies sich erneut als guter Freund und gewährte Richard und Vera mit ihrem inzwischen acht Monate alten Säugling in seinem Haus in Tenafly für mehrere Wochen Unterkunft.
Von dort ging es zunächst nach Little Rock, wo sich Vera – wie immer politisch engagiert – für die Gleichberechtigung der Afroamerikaner einsetzte. Als die Lage dort kritisch wurde und weiße Fanatiker Steine in ihren Vorgarten warfen, übersiedelten sie nach Memphis, wo sie in einem kleinen, bescheidenen Häuschen mit dem typisch amerikanischen Rasenstück davor ihr weiteres Leben verbrachten: Richard arbeitete als Professor für Wirtschaftsgeografie am Christian Brothers College. Vera indes scharte wiederum einen interessanten Freundeskreis um sich. Einer ihrer Freunde war der Philosophieprofessor W. B. Barton jr. Mit ihm zusammen nahm sie die erste Übersetzung ins Englische von Martin Heideggers „Die Frage nach dem Ding“ vor („What Is a Thing?“, Chicago 1967), worauf sie zu einem Philosophenkongress nach Wien eingeladen wurde. Es war ihre erste Rückkehr nach ihrer Emigration. Damals traf ich auch das erste Mal mit den beiden zusammen. Vera hatte offenbar keine Hemmungen, Martin Heidegger zu übersetzen. Die Debatte über Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus (er war von 1933 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen) ging offenbar an ihr vorüber. Immerhin war ja auch eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, seine Lieblingsschülerin gewesen, zu der er auch eine intime Beziehung hatte. Vera war auf jeden Fall von seinem Werk überzeugt und ihr ganzes Leben lang eine unbequeme Nonkonformistin.
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Heidegger-Übersetzerin Vera Deutsch.