Kitabı oku: «Draußen abtauchen», sayfa 3
2.Die moderne Naturphilosophie im Gegenüber zur Naturwissenschaft
Machen wir einen Sprung von rund 2500 Jahren und hören wir der heutigen Naturphilosophie zu, die sich im kritischen Gegenüber zur Naturwissenschaft versteht. Wie lässt sich aus ihrer Sicht ein vollständiges Bild der Realität gewinnen? Stimmt es, dass es wissenschaftlichen Abstraktionen und Quantifizierungen gelingt, unsere individuellen und einzigartigen Erfahrungen in und mit der Welt angemessen zu beschreiben? Kann Naturwissenschaft mehr als Gesetzmäßigkeiten erfassen? Kann sie auch das Zufällige bestimmen? „Ein Physikalist hätte zu erklären, weshalb eine Theorieform, die Qualitäten nur als quantifizierbare zulässt, die nichts von Normen, Zielen und Zwecken weiß, die das konkret situierte, leibhaftige Subjekt durch eine Registrierapparatur ersetzt, warum eine solche Theorieform, die derart stark auf stilisierte Laborerfahrung zurückgreift, den Anspruch stellen darf, die ganze Erfahrung zur Geltung gebracht zu haben.“22
Und könnte es sein, dass die ökologische Krise eben aus jenem mit der Naturwissenschaft verbundenen Naturverständnis erwachsen ist, das in der Natur nichts als eine tote berechenbare Ressource sieht?23
In den letzten Jahrzehnten war es unter anderem der amerikanische Philosoph Thomas Nagel, der gegen diese verkürzte naturalistische Haltung argumentierte. Da der Mensch, so Nagel, bemüht ist, die ihn umgebende Realität möglichst genau zu erfassen, übersteigt er seine subjektive Perspektive auf die Realität. Wenn ich ein Phänomen, z. B. einen Wasserfall, möglichst genau erfassen möchte, werde ich nicht nur mein individuelles Erleben der herabstürzenden Wassermassen zugrunde legen, sondern weitere Perspektiven auf dieses Naturphänomen in meine Betrachtung mit einbeziehen. Wie erleben andere diesen Wasserfall? Welche Bedeutung hat der Wasserfall aus biologischer Sicht für Fauna und Flora? Welche geologischen Erkenntnisse ergeben sich aus seinem jetzigen Verlauf? Welche gesellschaftliche Bedeutung kommt ihm für die Menschen zu, die am unteren Wasserlauf leben? Und dennoch bleibe ich durch meine persönlichen Erinnerungen mit dem Wasserfall auf besondere Weise verbunden. Allerdings bleibt die subjektive Komponente ein wesentliches Element der Erkenntnis: „Zu einem objektiveren Standpunkt kommt es jeweils, wenn man eine subjektivere, individuellere oder bloß menschliche Perspektive hinter sich lässt. Es gibt jedoch Aspekte der Welt, des konkreten Lebens und unserer selbst, die von einem weitestgehend objektiven Standpunkt aus gerade nicht angemessen verstanden werden könnten, wie sehr er unser Verständnis auch über seinen ursprünglichen Ausgangspunkt hinaus erweitern mag. Vieles ist wesentlich an eine besondere Perspektive – oder vielmehr an eine besondere Gattung von Perspektiven – gebunden, und das Unternehmen einer vollständigen Erklärung der Welt in einer bloß objektiven Begrifflichkeit, die sich von diesen Perspektiven lossagt, würde unweigerlich zu verfehlten Reduktionen … führen …“24
Mit anderen Worten: Bestimmte Phänomene erschließen sich nur durch individuelle Perspektiven. Objektive Erkenntnis, die diese subjektiven Perspektiven ausblendet, erfasst die Realität der Welt nur teilweise, weil ja jede subjektive Perspektive auch Teil der Realität ist. Auf die Spitze getrieben formuliert Thomas Nagel: „Die objektive Wirklichkeit ist nicht die gesamte Wirklichkeit. Nicht allein in der philosophischen Psychologie, sondern auch in anderen Gebieten erschließen wir uns die Wahrheit häufig gerade nicht dadurch, dass wir uns so weit wie möglich von unserer persönlichen Perspektive entfernen.“25
Jede naturwissenschaftliche oder mathematische Erfassung der Realität reduziert gezwungenermaßen die Weite und Vielgestaltigkeit dieser Realität. Weil die subjektiven Perspektiven auf die Realität dabei nicht miterfasst werden können, enthält ein solcher Zugang eine entscheidende Leerstelle: „Der objektive Blick kann, wenn er sich auf menschliche oder auch andere lebende Wesen richtet, die alle unleugbar ein Stück der Welt sind, schlechterdings nur aufdecken, wie sie an sich sind. Und wenn die Weise, wie die Dinge für solche Subjekte sind, nicht zum Ansichsein dieser Dinge hinzugehört, lässt eine rein objektive Auffassung, was immer sie ans Licht bringen wird, stets etwas aus. Dann muss aber geschlossen werden, dass die umfassendere Realität nicht einfach nur mit der objektiven Realität gleichgesetzt werden kann und das Streben nach Objektivität mithin nicht für alles und jedes ein gleichermaßen geeignetes Verfahren sein kann, die Wahrheit zu ermitteln.“26
Nagel kann also nachweisen, dass jede objektiv ermittelte Erfassung der Realität nur einen Ausschnitt der Realität erfasst. Die, wie Nagel es nennt, „umfassendere“ Realität ist deutlich größer. Damit erweist sich der Anspruch der Naturwissenschaft, Realität vollständig und umfassend beschreiben zu können, als hinfällig.
3.Die geheime Abhängigkeit und das geheime Leben der Pflanzen – biologische Aspekte
Es mag merkwürdig erscheinen, dass der biologische Zugang zur Natur erst jetzt so richtig zur Sprache kommt. Möglicherweise gehört es aber eben zur Logik der Wahrnehmung, dass das Grundlegende als Letztes wahrgenommen und sprachlich erfasst wird. In den letzten Jahren waren es vor allem die Pflanzen, denen sich Forscher intensiv zugewandt haben. Herausgekommen ist nicht nur eine neue Sicht auf Pflanzen, sondern auch eine Einsicht in die Beziehung zwischen Mensch und Pflanze27.
Der italienische Biologe Stefano Mancuso weist zu Anfang seines Buches „Die Intelligenz der Pflanzen“ darauf hin, dass es eine lange Tradition in Religion und Philosophie gibt, Pflanzen schlichtweg zu übersehen. So erzählt die Sintflutgeschichte der Bibel zwar davon, dass Noah alles Lebendige in seine Arche lud, von Pflanzen allerdings ist nirgends die Rede. „In die Schöpfungsgeschichte schleicht sich also, vom Leser beinahe unbemerkt, der Gedanke ein, dass Pflanzen keine Lebewesen seien.“28 Und das, obwohl der Mensch in vielfacher Hinsicht von Pflanzen absolut abhängig ist. 99,5 Prozent der Biomasse auf der Erde kommt aus dem Pflanzenreich, der tierische Anteil liegt zwischen 0,1 und 0,5 Prozent. Pflanzen stehen am Anfang der Nahrungskette: „Alles, was wir essen, auch Fleisch oder Fisch, ist entweder pflanzlicher Natur oder ernährt sich von Pflanzen.“29 Sauerstoff und Energieressourcen sind zu 100 Prozent von der Pflanzenwelt abhängig. Fossile Brennstoffe sind nichts anderes als durch Pflanzen gespeicherte Sonnenenergie. In der Medizin sind Pflanzen nicht wegzudenken.
Und dennoch (oder gerade deswegen) tut sich der Mensch mit der Wahrnehmung der Pflanzen und dem Anerkennen dieser Abhängigkeit unendlich schwer. Die Fremdheit der Pflanzen, ihre vom Tierreich so unterschiedliche Weise, ohne Organe zu fühlen, zu hören und zu riechen, verstellt den Blick auf sie. „Ihr Körper ist modular aufgebaut, das heißt, jedes Körperteil ist wichtig, aber letztlich keines unverzichtbar … Während sich in der Tierwelt im Laufe der Evolution beinah alle lebenswichtigen Funktionen in nur wenigen Organen wie Gehirn, Lunge oder Magen konzentriert haben, hüteten sich die wehrlosen Pflanzen davor, ihre Fähigkeiten in nur wenigen neuralgischen Bereichen zusammenzufassen … Pflanzliche Funktionen sind nicht an bestimmte Organe gebunden: Pflanzen atmen ohne Lungen, ernähren sich ohne Mund und Magen, stehen aufrecht ohne Skelett und treffen, wie wir sehen werden, Entscheidungen, obwohl sie kein Gehirn besitzen.“30
Diese Andersartigkeit scheint es zu sein, die fast so etwas wie eine psychische Blockade in Bezug auf Pflanzen auslöst. Der Mensch möchte nicht anerkennen, dass er abhängig ist, weil dies sein Selbstbild als eines freien Lebewesens beschädigen würde. „Unsere Abhängigkeit von den Pflanzen ist so umfassend, dass wir sie am liebsten vollständig verdrängen möchten.“31 Vielleicht liegt in dieser verdrängten Abhängigkeit die große Ambivalenz, in der sich der Mensch gegenüber der Natur befindet: Einerseits versucht er sich so weit als möglich vom Natürlichen fernzuhalten, indem er natürliche Prozesse so weit als möglich technisch überwacht und steuert, wie etwa in der Nahrungsmittelerzeugung, andererseits möchte er nichts so sehr, wie (wieder) Teil der Natur zu sein. Technische Denaturierung und romantische Natursehnsucht sind die beiden Pole, zwischen denen der Mensch hin- und herschwankt. Ihren Ursprung könnte diese unauflösliche Ambivalenz in der Verdrängung der beschriebenen Abhängigkeit haben.
Aus diesen pflanzenbiologischen Erkenntnissen hat der französische Philosoph Emanuele Coccia metaphorische Konsequenzen gezogen und nach Beschreibungen gesucht, die die Verflochtenheit menschlichen Lebens mit der biologischen (Pflanzen-)Welt erfassen könnte. „Die Wurzeln der Welt. Eine Philosophie der Pflanzen“ verdeutlichen dieses neue Verständnis der Verflochtenheit mit der Metapher des Eintauchens, die ja in leichter Variation auch meinem Buch zugrunde liegt: „Der Fisch ist damit nicht mehr nur eine der Etappen in der Evolution der Lebewesen, sondern paradigmatisch für alle Lebewesen. Genauso darf das Meer nicht mehr lediglich als eine für bestimmte Lebewesen spezifische Umwelt betrachtet werden, sondern als Metapher der Welt an sich. Das Inder-Welt-Sein alles Lebendigen wäre demnach aus der Welterfahrung des Fischs heraus zu verstehen. Dieses In-der-Welt-Sein, das also auch unseres ist, ist immer ein Im-Meer-der-Welt-Sein. Es ist eine Form des Eintauchens.“32
In der Bewegung des Schwimmens verschwimmen die Grenzen zwischen aktivem Durchdringen und passivem Durchdrungen-Werden. Der Fisch in der Strömung durchquert das Wasser, während das Wasser seinerseits ihn durchquert. Beide sind ineinander und gegenseitig voneinander durchdrungen. Subjekt und Umwelt durchziehen sich gegenseitig. Damit schwinden die scharfen Trennlinien, und das Ineinander-Verwoben-Sein wird deutlich.
Durch Photosynthese haben die Pflanzen das Klima und die Atmosphäre überhaupt erst erschaffen und so die Erde mit einem alles mit allem verbindenden Fluidum zu einem zweiten Meer gemacht. „Das Leben hat den fließenden Raum nie hinter sich gelassen. Als es zu Urzeiten das Meer verließ, fand und erschuf es rund um sich ein Fluidum mit unterschiedlichen Merkmalen hinsichtlich der Konsistenz, Zusammensetzung, Beschaffenheit. Mit der Besiedelung des Festlandes außerhalb des maritimen Milieus wandelte sich die trockne Welt zu einem unermesslich fließenden Körper, in dem die große Mehrheit des Lebendigen in wechselseitigem Austausch zwischen Subjekt und Milieu leben kann … Wir sind nicht Erdbewohner; wir bewohnen die Atmosphäre.“33
An dieser Stelle zeigt sich die Nähe dieser Metaphorik zu der der Atmosphären in der neueren Ästhetik. Beide versuchen sie, das Erleben von Natur leiblich und jenseits der Spaltung von Subjekt und Objekt zu fassen. „Näher betrachtet ist die Natur das, was das Sein in der Welt ermöglicht, und umgekehrt ist alles, was ein Ding mit der Welt verbindet, Teil seiner Natur.“34 Nur in dieser doppelten Bedeutung zeigt sich, was Natur ist: Grundlage für das Leben und durch die Atmosphäre Verbindung mit der Welt und all ihren Kreaturen. Die gegenseitige Teilhabe und Durchdringung aller Kreaturen ist Teil ihrer Natur.
Damit hat sich gezeigt: Mit guten Gründen lässt sich daran zweifeln, dass der naturwissenschaftliche Zugang zur Natur ausreichend und vollständig ist, um zu erfassen, was Natur ist und wie sie der Mensch erlebt. Nicht erst die ökologische Krise hat gezeigt, dass es weitere Zugänge zur Natur braucht, um sie und unsere Beziehung zu ihr umfassend zu beschreiben.
4.Vom Sog – was zieht uns in die Natur?
Folgen wir also unserer Anfangsspur, dem unwiderstehlichen Sog, der Menschen in die Natur zieht. Was suchen Menschen in der Natur?
Wenn wir die Wanderschuhe schnüren, den Rucksack aufsetzen und dann endlich die Haustür abschließen, verlassen wir unsere sozial gebaute Welt. Wir atmen auf, weil wir die gesellschaftlichen Ansprüche, die an uns in Familie und Beruf gestellt werden, hinter uns lassen. Die Natur fordert nichts und erwartet nichts von uns. Wir dürfen einfach da sein, auf einem Felsen hocken oder am Strand den Wellen beim Spiel zuschauen. In der Natur werfen wir sozialen und gesellschaftlichen Ballast ab. In der Natur lassen wir unser gesellschaftlich konstruiertes Ich hinter uns und nähern uns der Tiefe und Weite unseres Selbst.35 So gewinnen wir in der Natur nicht nur innerlich Weite. Fast von allein hebt sich der Blick in die Weite, in den Himmel, zum nächsten Hügel. Indem wir die häusliche Enge hinter uns lassen, erleben wir das Gefühl von Freiheit. Und wir werden ruhiger. Das Geheimnisvolle der Natur muss nicht entschlüsselt und verstanden werden – hier müssen wir nicht verstehen, warum sich Kolleginnen und Mitarbeiter so oder so verhalten und welche Motive sie für ihr Handeln haben. In der Natur müssen wir nicht alles verstehen und durchschauen. Wir tauchen einfach ins Grün der Wiesen, ins Blau des Meeres ein und erleben, wie unsere Gedanken zur Ruhe kommen.
In der Natur rücken wir aus dem Zentrum und werden Teil eines Ganzen. In diesen Augenblicken braucht es unser Handeln und Tun nicht. Ins Vogelgezwitscher und in den Weg der Ameisen müssen wir nicht eingreifen. Die finden ihren Ton und ihren Weg schon allein. In der Natur gibt es erst einmal nichts für uns zu tun. Wir sind Gäste und spüren die Erhabenheit, das Überwältigende der Natur. Sie erhebt uns über uns hinaus und versetzt uns in eine rezeptive, eine passiv-empfangende Haltung. Dem Übermächtigen gegenüber stehen wir machtlos und staunend gegenüber.
In der schier unendlichen Vielfalt der Natur hören, sehen, tasten, riechen und schmecken wir und erleben uns selbst ebenfalls als vielfältig.
Im Grünen sind wir gegenwärtig. Die Zeitrhythmen des Alltags fallen von uns ab und wir passen uns der ganz anderen Zeitlichkeit der Natur an.
Die vielfältige Natur spricht uns schließlich in ihrer unmittelbaren Sinnlichkeit an. Über unsere Sinne treten wir unmittelbar mit der Natur in Kontakt.
Es sind diese Motive, die der Psychiater und Achtsamkeitslehrer Michael Huppertz36 ausgemacht hat, die die menschliche Beziehung zur Natur prägen. Schauen wir uns nach diesem Überblick die dahinterliegenden Muster nun genauer an.
5.Pull and push – psychologische Aspekte
Die Psychologin Antje Flade hat versucht, die Einsichten ihres Kollegen Huppertz und die vieler anderer zum Thema Natur zu systematisieren und die Ergebnisse unzähliger Studien zum Thema Natur zusammenzustellen.
Die vorher genannten Motive lassen sich psychologisch in zwei grundlegende Kategorien einordnen: die sogenannten Push- und Pull-Faktoren. „Push meint das Streben, an einen anderen Ort zu gelangen, weil man es dort, wo man ist, unangenehm und belastend findet, wohingegen Pull bedeutet, dass es einen zu einem bestimmten Ort hinzieht.“37 Es gibt also die negativen Gründe, die uns aus dem Alltag in die Natur treiben, und es gibt den anziehenden Drang, den Sog, der uns bewusst in die Natur zieht, weil wir dort positiv etwas erwarten, was über den Fluchtimpuls „bloß weg hier“ hinausgeht.
Die Push-Faktoren, also all jene Motive, die mit dem „bloß weg hier“ zusammenhängen, lassen sich am besten soziologisch analysieren, weil es gesellschaftliche Bedingungen und Zwänge sind, denen Menschen in der Natur entfliehen möchten, dazu im 7. Abschnitt mehr. Mit psychologischen Mitteln lassen sich dafür die Pull-Faktoren, die das Anziehende der Natur beschreiben, am Klarsten fassen.
So zeigt sich aus psychologischer Sicht: Wenn es um Landschaft und Natur geht, suchen fast alle Menschen ein gutes Gleichgewicht zwischen Lustgewinn und Anregung. So zeigt die Mehrheit aller psychologischen Studien, dass es uns in Landschaften zieht, die harmonisch und kohärent wirken, in denen man sich gut orientieren kann, die aber nicht monoton sind, sondern eher eine komplexe Struktur haben und vor allem eine Spur „mystery“ aufweisen. Geheimnisvolles zieht an und macht neugierig auf Erkundung. Natur ist anziehend, wenn sie in uns Neugier und Entdeckerfreude weckt. Kinder und auch das Kind im Mann (und in der Frau) sind dafür ein guter Gradmesser. In eintönigen und reizlosen Naturräumen sinkt die Stimmung erstaunlich schnell.
6.Natur tut gut – medizinische Motive
Medizinische Untersuchungen konnten nachweisen, was viele „Naturgänger“ intuitiv immer schon wussten: Natur tut gut. Aber wie genau kommt es nun zum gewünschten Erholungseffekt?
In Stress geraten wir, wenn wir uns in Situationen befinden, die wir als bedrohlich und überfordernd erleben. Um auf solche Situationen angemessen reagieren zu können, müssen wir auf kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene alle Kräfte mobilisieren, was über längere Zeit hinweg zu Ermüdung und Erschöpfung führen kann. Unsere derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erzeugen über Leistungs-, Wettbewerbs- und Beschleunigungsdruck solche Stresssituationen fast durchgehend.
In einer Versuchsreihe wurde Studierenden zunächst ein Film über Unfälle am Arbeitsplatz gezeigt und am Ende des Films die Herzschlagfrequenz gemessen, die als Indikator für den Erregungszustand gilt. Im Anschluss daran wurde die Gruppe dann in mehrere Untergruppen aufgeteilt, denen man verschiedene Filme zeigte, darunter auch einen über Naturlandschaften. Im Anschluss daran wurde wiederum die Herzfrequenz gemessen. Es zeigte sich, dass in der Gruppe, die den Naturfilm gesehen hatte, die Herzfrequenz und damit das Erregungsniveau am deutlichsten gesunken war. Emotionale Reaktionen gelten als reflexartig und unwillkürlich, das bedeutet, sie unterliegen nicht der willentlichen Kontrolle des Menschen. Offenbar versetzt (allein schon) der Anblick von Natur, vermittelt durch die unwillkürliche emotionale Reaktion, die physiologischen und vegetativen Prozesse des Körpers in Ruhe. Anstelle des Sympathicus, der für Stress zuständig ist, tritt sein für Ruhe und Entspannung zuständiger Gegenpol, der Parasympathicus, in Aktion. Auch auf mentaler Ebene zeigt sich, dass der Kontakt mit der Natur einen regenerativen Effekt hat.
Die Aufmerksamkeitserholungstheorie, die in vielen Experimenten nachgewiesen werden konnte, geht davon aus, dass die Beschäftigung mit Aufgaben, die ein hohes Maß an Konzentration erfordern, Ermüdung hervorruft. Um schwierige Aufgaben lösen zu können, braucht es gerichtete bzw. willkürliche, also gewollte, Aufmerksamkeit, damit die Gedanken angesichts einer eher reizarmen Umwelt nicht abschweifen. Wenn nun nach konzentrierter Arbeit Versuchspersonen bei einem Spaziergang mit Natur in Kontakt gebracht wurden, konnten sie sich sehr viel schneller von den Anstrengungen erholen als andere Versuchspersonen, die etwa einen Stadtrundgang machten. Natur gilt auch auf kognitiver Ebene als erholsam, weil ihre vielfältigen sinnlichen Reize unwillkürliche Aufmerksamkeit erregen, d. h., die Natur fesselt und fasziniert so sehr, dass es keinen willentlichen Entschluss braucht, sich mit ihr zu beschäftigen. Kurz gesagt: Natürliche Reize entspannen, weil sie mühelos und von ganz allein die Aufmerksamkeit des Betrachtenden fesseln.38
7.Ort der Resonanz
Wer etwas über Natur und Resonanz lernen will, muss sich in einen der Hörsäle der Universität Jena setzen, in denen der Soziologe Hartmut Rosa lehrt. Im Rahmen seiner Resonanztheorie, die sich auf der Suche nach Bedingungen für gelingendes Leben macht, schreibt er der Natur eine herausragende Rolle zu, weil Natur als „Gegenwelt“ erlebt und aufgesucht wird. „Der Rückzug in die (‚unberührte‘) äußere Natur gilt noch immer als eine der verlässlichsten Methoden, die Stimme unserer inneren Natur (gegen den ‚Lärm der sozialen Welt‘) vernehmbar zu machen. In dieser Vorstellung lebt die in ihrem Ursprung romantische Idee einer heimlichen Korrespondenz und Resonanz zwischen innerer und äußerer Natur weiter … Höre in dich hinein! und Höre auf die Natur! werden auf diese Weise zu zwei komplementären Imperativen …“39
Bis in unsere Gegenwart wirkt also die in der Romantik aufgekommene Idee nach, die Natur spreche mit eigener Stimme und habe dem einzelnen Menschen etwas zu sagen.40 Die äußere Natur, so die Vorstellung der Romantik, kommuniziert mit der inneren Natur des Menschen. Der Mensch orientiert sich dann nicht mehr – wie in der Antike vorgestellt – an der äußeren Ordnung der Natur, die dem Menschen seinen Ort und seine Identität zuweist. Es war Augustinus, der die Hinwendung nach innen zur neuen Bewegungsrichtung erklärt hatte: Gottes- und Selbsterkenntnis sind nicht länger in der Hinwendung nach außen, sondern in der Einkehr nach innen zu finden: Geh nicht nach außen; kehr in dich selbst zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit, so Augustinus.41
Diese Hinwendung zum Inneren wird dann etliche Jahrhunderte später Rousseau und die sich auf ihn beziehende Romantik verstärken und sich den je eigenen Empfindungen des Menschen zuwenden. Die Natur wird nun vollständig ins je eigene Innere verlegt. Nicht mehr die äußere und allgemeine Natur wird zur Orientierungsmarke, vielmehr geht es nun darum, die eigene Natur in den Empfindungen wahrzunehmen und zu artikulieren. Die Natur spricht nun nicht mehr allgemein zu allen, sondern ganz individuell zu jedem Einzelnen.42 Im Hören auf die äußere Natur findet der Mensch seine eigene, innere Natur, sich selbst, seine Bestimmung und seinen Ort im Gefüge der Welt.
So könnte die Tiefendimension der ökologischen Krise weniger in der Sorge um das Ende natürlicher Ressourcen als vielmehr in der Angst, die Natur könne verstummen und als sprechendes Gegenüber für immer verloren gehen, liegen. Die Hoffnung, die Natur als resonantes Gegenüber zu erleben, ihre Stimme vernehmen zu können, liegt allerdings quer zum alltäglichen und modernen Verhältnis zur Natur, in dem wissenschaftliche Naturerforschung und technische Naturbeherrschung längst schon die Natur zum Verstummen gebracht haben. Das langsam ins Bewusstsein dringende Bienen- und Insektensterben veranschaulicht dieses Verstummen auf erschreckend eindrückliche Weise.43
Ohnehin versteht sich der Mensch nicht länger als offenporiger resonanzfähiger Leib, der mit seiner Umwelt kommuniziert und in sie eingebunden ist, sondern nur noch als punktförmiges und körperloses Subjekt, das der objektiven Welt gegenübersteht. Damit verliert die objektiv in Zahlen und Werten kategorisierte Welt ihre Farben und kann nicht mehr als Resonanzraum wirken. Sprichwörtlich könnte man sagen, der Mensch entwurzelt sich.44
Die instrumentelle Haltung zur Natur, in der diese nur zur Rohstoffgewinnung und Verwirklichung menschlicher Absichten in den Blick kommt, steht in der Moderne somit unvermittelt neben der Erwartung, die Natur möge Resonanzsphäre sein und bleiben. „Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Natur in der Kultur der Moderne als die zentrale Resonanzsphäre des Menschen konzipiert wird. In ihr begegnen die Subjekte einer Entität, welche die für die Resonanz konstitutive Bedingung des tendenziell Unverfügbaren, Widerständigen, Eigensinnigen, aber eben auch des Antwortenden erfüllt …; wir sind im Wald, auf dem Berg oder am Meer auf eine andere Weise in die Welt gestellt als im Büro oder im Shopping-Center.“45
Allerdings finden solche Naturbegegnungen in der Regel nur noch jenseits des Alltags statt, so dass die Natur als prägender Resonanzraum ausfällt, weil diese punktuellen, „außeralltäglichen“ Berührungspunkte zu schwach sind, um die Natur als alltagswirksame Resonanzachse zu etablieren. Hinzu kommt noch, dass die gegenwärtigen Naturerfahrungen, die auf Resonanz zielen, fast ausschließlich den passiv-rezipierenden Anteil der Naturerfahrung betonen und den Aspekt der aktiven Naturaneignung, die durch aktives Tun und Umgehen mit der Natur erreicht wird, stark vernachlässigen.46 Im Sinne der handwerklichen Dimension von Freestyle Religion wird darauf zurückzukommen sein.
Damit haben wir die wesentlichsten Pull-Faktoren, die sich aus psychologischer und soziologischer Sicht erkennen lassen, zusammengetragen – und können leise den Hörsaal in Jena wieder verlassen.
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