Kitabı oku: «Odessa-Komplott», sayfa 2

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Führerbunker unter der Reichskanzlei | 30.04.1945, 15.45 h

Um den Leichnam seines Führers verschwinden zu lassen, benötigte Bormann drei Dinge: genug Benzin, eine Fackel und einen möglichst tiefen Bombentrichter.

Und jede Menge Zielwasser.

Dass er nicht mehr ganz nüchtern war, bekamen die drei Männer, die neben ihm in Deckung gegangen waren, jedoch nicht mit. Jeder von ihnen, auch Bormann, wollte nur die eigene Haut retten, nur allzu verständlich angesichts des Granathagels, der sich über den Ministergärten entlud. Die Russen waren höchstens noch 300 Meter entfernt. Der Grund, weshalb das Quartett langsam nervös wurde.

Da lag er nun, der Führer und Kanzler des Großdeutschen Reiches, direkt neben Eva Braun, Gattin für eineinhalb Tage. Eingehüllt in eine Decke und von den Leichen, die überall herumlagen, kaum zu unterscheiden. Nicht viel mehr als drei Meter vom Eingang entfernt, in den sich seine vier Paladine geflüchtet hatten.

Zwei Generäle, Propagandaminister Joseph Goebbels und er, Martin Bormann, Reichsleiter und Sekretär des Führers. Der Mann mit dem Allerweltsgesicht. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil, dachte er doch nicht im Traum daran, das Schicksal der übrigen Bunkergenossen zu teilen.

Warten, bis ihn die Russen an die Wand stellen würden? Nicht mit ihm.

Was bedeutete, dass er diese Sache hier schleunigst zu Ende bringen musste.

Keine drei Meter von der Leiche entfernt, zückte Bormann sein Feuerzeug und hielt es gegen das zerknüllte Papier, aus dem er eine Art Fackel fabriziert hatte. Doch nichts geschah. Das Provisorium wollte und wollte kein Feuer fangen. Da half kein Fluchen, keine Zurechtweisung von Goebbels und schon gar nicht die Erkenntnis, wie gefährlich es hier oben war. Dieses Scheißding wollte einfach nicht brennen. Hitlers braune Eminenz geriet ins Schwitzen. Der Gestank nach Phosphor und Benzin, von dem mehr als 200 Liter für den Leichnam seines Chefs draufgegangen waren, raubte ihm fast den Atem. Ganz zu schweigen von dem Verwesungsgeruch, der über dem in eine Mondlandschaft verwandelten Garten der Reichskanzlei hing. Wo man auch hinsah, nichts als Trümmer, verkohlte Baumstümpfe und von Granaten zerfetzte Leichen. Eine Szenerie, gegenüber der die Wüste Gobi wohl wie ein Ziergarten aussah. Nicht zu vergessen war der Lärm, den die sowjetischen Raketen, Artilleriegranaten und Mörser fabrizierten.

Schrecklich.

Und dann, nach einem weiteren Granateneinschlag, wagte Bormann einen letzten Versuch, den Leichnam Hitlers in Brand zu stecken. Und hatte Glück. Die Fackel brannte. Endlich. Jetzt hieß es nur, ruhig Blut zu bewahren, richtig zu zielen und nach getaner Arbeit möglichst rasch abzuhauen. Wohin, würde sich noch zeigen.

Kaum hatte Hitlers Privatsekretär das brennende Konstrukt in hohem Bogen ins Freie geschleudert, schoss aus dem Bombentrichter, in dem der Führer des Großdeutschen Reiches lag, eine grelle Feuersäule empor. »In Deckung!«, schrie Bormann, doch die anderen drei hörten nicht auf ihn. Wie gebannt von dem grausigen Spektakel, rührten sich Goebbels, die Generäle Burgdorf und Krebs nicht von der Stelle. Bis der Propagandaminister und die beiden Militärs Haltung annahmen, den rechten Arm emporreckten und sich schleunigst in Sicherheit brachten.

Nicht so Bormann, Hitlers Schatten. Das Feuerzeug immer noch in der Hand, fingerte er eine Zigarettenschachtel aus seiner Brusttasche und begann in aller Seelenruhe zu rauchen. »Soviel zum Thema Verteidigungsabschnitt Zitadelle«, murmelte er in einem Anfall von Galgenhumor, den er sich angesichts eines neuerlichen Granathagels jedoch rasch verkniff. Dann warf er seine Kippe in den Trichter, drehte sich um und verschloss die Tür.

Kanonenfutter für die Russen? Nicht mit mir, schwor sich Bormann und stieg die 40 Stufen in den acht Meter unter der Erde gelegenen Bunker hinab.

Bevor er sich aus dem Staub machen würde, gab es noch etwas zu erledigen.

Etwas, das keinen Aufschub duldete.

*

Sie hatte es satt. Gründlich satt. Die Durchhalteparolen, die stickige, von Dieselgestank getränkte Luft und das Gequatsche von den Wunderwaffen, die es nicht gab. Sollten ihr doch alle hier unten den Buckel runterrutschen. Und der Führer, der sich heute Nachmittag die Kugel gegeben hatte, mit dazu.

Die dralle, mit hautengem Tüll, Nylons und Stöckelschuhen bekleidete Blondine rümpfte die Nase und stieß einen obszönen Fluch aus. Hier unten vor die Hunde zu gehen, während sich die Parteibonzen reihenweise dünn machten, das sah die 24-jährige Stenotypistin nicht ein. Dafür war ihr Überlebenswille, gepaart mit gesundem Erwerbssinn, einfach zu groß. Wenn die anderen nichts Besseres zu tun hatten, als dem Iwan in die Arme zu laufen, war das deren Problem. Sie jedoch, Lilian Matuschek, hatte nicht die geringste Lust dazu. Abhauen lautete die Devise, und zwar möglichst schnell.

Wenn schon, dann aber nicht ohne ein Faustpfand, aus dem man nach dem Krieg Kapital schlagen konnte.

Bormanns Büroschlüssel in der Tasche, den sie in einem unbeobachteten Moment hatte mitgehen lassen, stolzierte seine Sekretärin für gewisse Stunden den unterirdischen Korridor zwischen Vorratskeller und den Diensträumen des Reichsleiters entlang. Dies hier war sein Schattenreich, der Ort, an dem mehr Geheimakten lagerten als irgendwo sonst. Und es war Lilians Arbeitsplatz, weshalb das Bunkerpersonal, die hin- und hereilenden Ordonnanzen und Adjutanten kaum Notiz von ihr nahmen. Die hatten Wichtigeres zu tun, waren vollauf damit beschäftigt, die eigene Haut zu retten. Was bedeutete, dass sie inmitten dieses Tohuwabohus überhaupt nicht auffiel.

Lilian Matuschek konnte das nur recht sein. Sie hatte etwas vor, für das sie sich noch vor Kurzem zu Tode geschämt hätte. Jetzt aber, da das Dritte Reich den Bach runterging, hatte sie keine Hemmungen mehr. Wollte sie den Schlamassel heil überstehen, musste sie ihre Schäflein ins Trockene bringen.

So einfach war das.

Vor dem Büro des Reichsleiters, zu dem nur eine Handvoll Leute Zutritt hatte, blieb Lilian Matuschek stehen, fischte den Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Die Abgebrühtheit, mit der sie zu Werke ging, war ihr selbst nicht geheuer, aber da ihr Entschluss feststand, schob sie sämtliche Skrupel beiseite. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, schoss es der adretten Stenotypistin durch den Kopf. In einer derartigen Situation durfte man einfach keine Nerven zeigen.

Als sich die Bürotür hinter ihr schloss, lehnte sich Lilian Matuschek dagegen und atmete tief durch. Dann hängte sie das Hitlerbild hinter dem Schreibtisch ab. Dahinter befand sich ein Wandsafe, von dem man munkelte, dass er Bormann als Versteck diente. Was sie allerdings nicht wusste, war die richtige Zahlenkombination. Mit ein Grund, weshalb sie ihr Vorhaben rasch aufgeben musste.

Die Blondine verzog das Gesicht. So einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte, war die Chose also nicht. Hätte sie sich ja gleich denken können. Einer wie Bormann war mit allen Wassern gewaschen. Von ihm konnte man nur lernen.

Sich aus dem Staub machen oder weitersuchen, das war die Frage.

Lilian Matuscheks Atem ging rascher, und da ihr plötzlich heiß wurde, knöpfte sie ihre Bluse auf. Also gut, weitersuchen. Schließlich musste jeder sehen, wo er blieb. Ein paar Tage noch, und der Krieg wäre zu Ende. Führer tot, Zirkus vorbei. Und was dann? Dann würde sie etwas brauchen, wovon man profitieren konnte. Von ihrem Aussehen, so sehr es ihr auch genützt hatte, würde sie nicht leben können. Da musste sie sich schon etwas einfallen lassen.

Scheißballerei. Lilian Matuschek fuhr mit den Fingerkuppen über ihr Gesicht. Kaum zum Aushalten, so etwas. Um hier unten nicht durchzudrehen, musste man Nerven wie Drahtseile haben.

Oder abhauen, solange es noch ging.

Im Begriff, ihren Entschluss in die Tat umzusetzen, atmete die Blondine tief durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und trat den Rückzug an. Das heißt, das hatte sie vor. Denn als ihr Blick auf die halb offene Schreibtischschublade fiel, blieb Lilian Matuschek wie elektrisiert stehen. Ihr Inhalt, eine Mappe mit der Aufschrift ODESSA1, ließ sie den Beschuss, die vibrierende Bunkerdecke und den von der Decke rieselnden Verputz glatt vergessen.

Lilian Matuschek hielt den Atem an. Schließlich griff sie zu. Volltreffer! Der Ledereinband, die SS-Runen und der vergoldete Schnappverschluss allein waren schon auffällig genug. Hinzu kam der Stempel ›streng geheim‹, der sich auf dem Aktendeckel im Inneren der Mappe befand. Und der Aufdruck ›Gruppe W 45‹, ebenfalls in Runenschrift. Kein Zweifel, sie war auf die erwartete Goldader gestoßen. Die Frage war nur, wer oder was sich hinter all den Namen, Zahlenreihen und offensichtlichen Codewörtern verbarg, auf die sie beim Durchblättern der Akte stieß. Das herauszufinden würde bestimmt nicht einfach werden. Lilian Matuschek verschloss die Mappe und lauschte nach draußen. Wie auch immer, das hatte bis später Zeit. Besser, jetzt zu verduften. Schließlich konnte man ja nie wissen, wer hier alles herumschnüffelte.

In der Absicht, ihre Spuren zu verwischen, legte die Steno­­typistin die Mappe auf den Tisch, nahm das Hitlerbild und hängte es zurück an die Wand. Das Ganze dauerte keine Viertelminute, nahm sie aber derart in Anspruch, dass ihr der Sinn für Gefahr abhanden kam.

Ein Fehler, der ihr um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre.

»Na, so spät noch bei der Arbeit?«, lallte die ihr bestens bekannte Stimme im Hintergrund, woraufhin sie vor Schreck zusammenzuckte.

»Selbstverständlich, Reichsleiter«, antwortete Lilian Matuschek, bemüht, möglichst zackig zu klingen. Bei Bormann kam so etwas besonders gut an. Wäre er nüchtern gewesen, hätte sie sich gleich ihr eigenes Grab schaufeln können. So aber hatte die Blondine eine gewisse, wenn auch geringe Chance.

Und die würde sie nutzen.

»Lust auf einen Kognak, Süße?«, stieß Bormann mit schwerer Zunge hervor. »Zur Feier des Tages, sozusagen?«

»Gerne, Reichsleiter«, säuselte Lilian, geistesgegenwärtig genug, um sich zwischen Bormann und den Schreibtisch zu schieben. »Warum nicht.«

Martin Bormann, Herr der Geheimdossiers, knöpfte seinen Uniformkragen auf, unter dem ein schweißbedeckter Fettring zum Vorschein kam, holte eine Kognakflasche aus dem Schrank und schenkte ein. Dann nahm er einen kräftigen Schluck, grinste und vermachte Lilian den Rest.

Die Handflächen auf der Schreibtischkante, wusste die 24-jährige Stenotypistin genau, was von ihr erwartet wurde. Wenn man nicht nach seiner Pfeife tanzte, konnte Bormann ziemlich ungemütlich werden. Davon konnte nicht nur sie, sondern alle, die ihm in die Quere gekommen waren, ein Lied singen.

»Wie wär’s, wenn wir es uns ein bisschen bequem machen?«, schlug Hitlers Privatsekretär vor und ließ keinen Zweifel daran, wonach ihm der Sinn stand. »Um den Tag nach Gutsherrenart ausklingen zu lassen, meine ich.« Sprach’s, nahm Lilian das Glas aus der Hand und warf es über die Schulter, wo es laut klirrend an der Wand zerschellte. Dann öffnete er den Gürtel und grinste breit.

Eingedenk der Erfahrungen, die sie mit Bormann gemacht hatte, zögerte die Stenotypistin nicht lange, schob das Kleid in die Höhe und entledigte sich ihrer Nylons. Anschließend lehnte sie sich zurück auf den Schreibtisch und zog mit laszivem Lächeln ihr Höschen aus, die Mappe mit dem Ledereinband unter sich begraben.

»Bedienen Sie sich, Reichsführer«, hauchte sie mit gespreizten Beinen. »Wer weiß, vielleicht ist es das letzte Mal.«

Martin Bormann, Vater, Ehebrecher und Trauzeuge Hitlers in einer Person, wischte sich den Speichel aus dem Mundwinkel und bleckte die Zähne. So etwas wollte er sich natürlich nicht zweimal sagen lassen. Gut möglich, dachte er, dass die miese Nutte da recht behalten wird.

Ein Grund mehr, es sich noch mal richtig gut gehen zu lassen. »Na, dann wollen wir mal«, grunzte der Sekretär des Führers und ließ seine Hose fallen. »Auf uns beide, Süße.«

1 ODESSA: Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen

6

Britisches Hauptquartier in Lüneburg | 23.05.1945,23.14 h

»Hitler: Selbstmord. Goebbels: Selbstmord. Bormann: Tod durch Giftkapsel, vermutlich Zyankali.« Michael Murphy, Offizier des Secret Service, warf einen Blick in seine Unterlagen, zündete sich eine John Player an und legte eine Kunstpause ein. Dann setzte er das Verhör Himmlers fort. »Pech, dass er anscheinend nur bis zum Lehrter Bahnhof gekommen ist, finden Sie nicht auch, Reichsführer?«

Himmler verzog keine Miene. »Na, wenn schon«, antwortete er mit einem Achselzucken, bemüht, sich seine Zufriedenheit nicht anmerken zu lassen. »Ein subalterner Speichellecker, nichts weiter.«

»So subaltern, dass Sie mit ihm aneinandergeraten sind?«

Himmler nahm seine Brille ab, rieb sie am Ärmel und setzte sie mit demonstrativer Gelassenheit wieder auf. »Und woher wollen Sie das wissen?«

»Von Ihrem Adjutanten, Reichsführer.«

»Vorausgesetzt, Sie treiben kein doppeltes Spiel, Colonel – auf einen Verräter mehr oder weniger kommt es doch wohl nicht an.«

»So, meinen Sie.« Klug genug, sich seinen Groll nicht anmerken zu lassen, fläzte sich Murphy in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und zog an seiner Zigarette. »Reichlich merkwürdig, dass gerade Sie dieses Wort in den Mund nehmen.«

Himmlers Blick verengte sich. »Was wissen Sie denn schon von Treue!«, zischte er, auf dem besten Wege, die aufgesetzte Maske der Jovialität abzustreifen. Und beantwortete seine Frage gleich selbst: »Rein gar nichts.«

»Immerhin genug, um Ihnen keinen Meter über den Weg zu trauen«, konterte Murphy, streckte sich und stand wieder auf. Dann warf er einen Blick aus dem Erkerzimmer, das sich im Erdgeschoss des Backsteingebäudes in der Uelzener Straße 31a befand. »Anderes Thema, Reichsführer«, warf er abrupt ein. »Ich denke, Sie wissen, weshalb Sie hier sind, oder?«

Himmler wedelte mit der Hand, um den Zigarettenrauch zu zerstreuen. »Offen gestanden – nein«, gab er zur Antwort und zupfte seine Häftlingskleidung zurecht.

»Vorschlag zur Güte, Reichsführer: 14 Tage nach Kriegsende wird es langsam Zeit, dass Sie von Ihrem hohen Ross herunterkommen.«

Heinrich Himmler, Henker von Hitlers Gnaden, nahm den Rüffel mit teilnahmsloser Miene hin. »Und womit könnte ich Ihnen Ihrer Meinung nach zu Diensten sein, Colonel?«

»Indem Sie zur Abwechslung einmal detaillierte Angaben machen.«

»Worüber denn?« Mit Blick auf die anwesenden Offiziere, die das Verhör mit skeptischer Miene verfolgten, drückte Murphy seine Kippe aus und räusperte sich. Captain C. J. Wells, ebenfalls anwesender Militärarzt, ließ Himmler keine Sekunde aus den Augen. »Über die eine oder andere Kleinigkeit, Reichsführer«, warf Murphy mit typisch britischem Understatement ein. »So zum Beispiel über die Frage, wohin etliche Mitglieder Ihrer Führungsriege abgetaucht sind.«

»Keine Ahnung.«

Murphy nahm das gefälschte Soldbuch zur Hand, das sich bei seinen Unterlagen befand, und hielt es Himmler unter die Nase. »Mit der gleichen Masche wie Sie, Herr Ex-Feldwebel Himmler, dürften es etliche Ihrer ehemaligen Kameraden versucht haben. Aber keine Bange: Wir werden nicht lockerlassen, bis wir das Spinnennetz, dessen Mittelpunkt Sie sind, zertreten haben.«

»Spinnennetz?«

Mit der Geduld am Ende, warf Murphy das Soldbuch auf den Schreibtisch, packte den ehemaligen Reichsführer-SS am Kragen und zog ihn in die Höhe. »Du hast richtig gehört, Abschaum«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Wo sind die Henkersknechte abgeblieben, mit denen du deine Verbrechen begangen hast?«

»Ist das etwa der Dank, dass ich mich so kooperativ wie möglich …«

»Schon einmal was von Werwölfen gehört, Reichsführer?«, würgte Murphy den Gefangenen barsch ab, stieß ihn von sich und starrte ihn wie ein sprungbereites Raubtier an.

»Aber, aber, Colonel«, gab sich Himmler mäßig beeindruckt, »wo ist denn bloß Ihre gute Kinderstube geblieben.«

»Und wie steht es mit der von Ihnen ins Leben gerufenen Terrorgruppe?«, kam Major Whittaker, ein weiterer Offizier, einem neuerlichen Wutausbruch des Secret-Service-Agenten zuvor und schob ihn mit sanftem Druck beiseite. »›Gruppe W 45‹ – was fällt Ihnen dazu ein?«

»Lügenmärchen, Hirngespinste, Fantasiegebilde.«

»Trifft das auch auf die Tatsache zu, dass Sie bemüht waren, eine Nachfolgeorganisation der SS aufzubauen?«

Zum ersten Mal seit Beginn des Verhörs geriet Heinrich Himmlers emotionslose Fassade ins Wanken. »Was …«, begehrte er auf, hatte sich jedoch Zehntelsekunden später wieder im Griff.

»Was Major Whittaker damit sagen will, wollen Sie wissen?«, machte Murphy wieder auf sich aufmerksam. »Ganz einfach: Nicht jeder Ihrer sogenannten Kameraden, in deren Begleitung Sie uns ins Netz gegangen sind, ist so loyal wie Sie.« Ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, fügte der Brite hinzu: »Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Verzeihung, Gentlemen«, schaltete sich Dr. Wells mit besorgter Miene ein. »Halten Sie es nicht für besser, die Untersuchung des Gefangenen abzuschließen, bevor das Verhör fortgesetzt wird?« Die Blicke des Militärarztes und des Secret-Service-Agenten trafen sich. »Aus Sicherheitsgründen, meine ich.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Doc«, gab Murphy genervt klein bei. »Wenn’s geht, bitte schnell.«

Der Militärarzt, ein Brite wie aus dem Bilderbuch, ging über die Bemerkung des Colonels einfach hinweg, trat zu Himmler und bedeutete ihm, den Mund zu öffnen. Kein Körperteil des Reichsführers, den er während der vergangenen zwei Tage nicht untersucht hätte. Kein Quadratzoll – außer seinem Mund. Aus naheliegenden Gründen hatte er ihn sich bis zuletzt aufgespart. Wenn diese Bestie eine Zyankali-Kapsel versteckt hatte, dann hier.

Kaum war Dr. Wells der Gedanke gekommen, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz, und es kostete ihn große Mühe, den Finger aus Himmlers Mund herauszuziehen. Aber da war es bereits zu spät.

Mit einem Röcheln, das nichts Menschliches an sich hatte, bäumte sich Heinrich Himmler, Herr der Todes­lager, mehrere Sekunden lang auf. Er wirkte wie erstarrt, und sein Blick irrte ziellos umher. Dann stürzte er zu Boden, wandte, drehte und verkrampfte sich wie ein tollwütiges Tier. Der Geruch von Blausäure durchströmte den Raum, vermischt mit dem Atem des Todes, der durch den halb geöffneten Kiefer drang. Vor Schreck wie gelähmt, starrten die britischen Offiziere den verendenden Gefangenen mit einer Mischung aus Abscheu und Genugtuung an.

Endlich war es vorüber. Heinrich Himmler, einer der größten Verbrecher aller Zeiten, war tot.

Das Dritte Reich jedoch noch lange nicht.

Peter Longerich: Heinrich Himmler. München 2008, S. 735f.

›Die heute gängige Auffassung, die Werwolf-Gruppen hätten sich allesamt schlicht und einfach aufgelöst, nachdem sie von den Alliierten überrollt worden waren, trifft so nicht zu. Zwar gelang es nicht, im besetzten Deutschland eine Guerilla-Bewegung aufzubauen, dazu fehlte die entscheidende Voraussetzung, die Unterstützung aus der tatsächlich kriegsmüden Bevölkerung. Doch neuere Forschungen zeigen, dass Werwölfe und andere Fanatiker aus der Zivilbevölkerung, die auf eigene Faust den Kampf gegen die Alliierten auch nach der Besetzung fortsetzten, tatsächlich Tausende von Anschlägen verübten, denen Hunderte von alliierten Soldaten und deutsche »Kollaborateure« zum Opfer fallen sollten.‹

VITTLES

(Berlin, 30. August 1948, Tag 68 der Luftbrücke)

7

Glienicker Brücke, sowjetischer Sektor | 31.08.1948, 00.15 h

Schuld daran, dass der letzte Tag im August auch der letzte im Leben von Sascha Kirilenko war, waren seine Naivität, der Wodka und die Lust auf eine Frau.

In dieser Reihenfolge.

Der Tag, an dem der Countdown zum Dritten Weltkrieg begann, war eine Viertelstunde alt, als der 19-jährige Gefreite der Sowjetarmee die zwei Gestalten auf dem Behelfssteg neben der Glienicker Brücke zum ersten Mal sah. Obwohl Trinken im Dienst verboten war, hatte er kräftig einen zur Brust genommen. Wie im Übrigen auch die Kameraden seiner Wache. Die Nacht würde lang werden, und da sich die Yankees drüben nicht blicken ließen, hatten sie sich Machorka und eine Flasche Fusel organisiert und die Sowjetarmee, ihre Heimat und den Genossen Stalin kräftig hochleben lassen. Alles, was zu ihrem Glück noch gefehlt hätte, wäre die eine oder andere Kurwa2 gewesen. Aber wie hieß es doch so schön: Man soll sein Glück nicht überstrapazieren.

Oder etwa doch?

Der Major auf dem Behelfssteg, der im Scheinwerferlicht auf den sowjetischen Kontrollpunkt zutorkelte, schien jedenfalls mächtig einen in der Krone zu haben. Dass er Russisch mit deutschem Akzent sprach, fiel Sascha jedoch nicht auf. Die Blondine in seinem Schlepptau dafür umso mehr. Die war so scharf, dass er glatt einen Steifen bekam. Angesichts des Notstandes in seiner Einheit kein Wunder.

Der Suff und die Weiber werden dich noch mal umbringen, pflegte seine Matka3 daheim in Irkutsk zu sagen. Und damit hatte sie zweifellos recht. Seine Blauäugigkeit, der Suff und die Weiber.

Exakt in dieser Reihenfolge.

Sascha Kirilenko, Gefreiter der Sowjetarmee, lockerte seinen Uniformkragen und pfiff leise durch die Zähne. Auf sein Aussehen ließ er nichts kommen, blond, blauäugig und gut gebaut, wie er nun einmal war. Mit diesem Hurensohn von Major, höchstens zehn Meter von ihm entfernt, konnte er es jedenfalls aufnehmen.

Dachte er wenigstens.

Und übersah dabei, dass er keiner war. Weder ein Major der Roten Armee noch ein Offizier irgendeiner anderen Armee dieser Welt.

Um zu begreifen, wen er vor sich hatte, blieb Sascha Kirilenko keine Zeit. In nüchternem Zustand hätte er vielleicht eine minimale Chance gehabt. Da hätte er seine AK-47 geschnappt und draufgehalten. Oder es zumindest versucht. So aber zog er den Kürzeren.

Unweigerlich.

Keine drei Schritte von ihm entfernt, zückte der Mann, den er für einen Vorgesetzten hielt, plötzlich eine FN Browning HP. Scheißnutten!, fuhr es Sascha Kirilenko aus Irkutsk durch den Kopf. Es sollte sein letzter Gedanke sein. Einen Atemzug später jagte ihm der Mann, auf dessen Backe sich eine hässliche Narbe befand, eine Kugel durch den Kopf. Und seinem Kumpel Pjotr, der das Ganze für einen makaberen Scherz hielt, mit dazu.

Dies alles geschah lautlos, ohne Gegenwehr. Die übrigen Posten, noch halbe Kinder, wurden von der Frau liquidiert – auch sie ohne die geringste Chance. Die Aktion hatte nicht einmal eine Minute gedauert, und als sie vorüber war, packten die beiden Angreifer ihre Opfer an den Füßen, schleiften sie auf den Steg und warfen sie in die Havel.

Damit war der minutiös geplante Überfall jedoch noch nicht beendet. Kaum trieben die vier Sowjetsoldaten im Wasser, schossen aus der Dunkelheit drei motorisierte Schlauchboote heran. Ihre Besatzungen, drei Mann pro Boot und mit geschwärztem Gesicht, bargen die Leichen, gaben wieder Gas und jagten in Richtung Wannsee davon, ohne mit dem vermeintlichen Major oder der Frau auch nur ein Wort gewechselt zu haben.

Im Gegensatz zu den Männern im Schlauchboot schienen es die beiden auf der Brücke nicht sonderlich eilig zu haben. Als sei nichts geschehen, warfen sie ihre Brownings in die Havel, hakten sich unter und torkelten auf die gegenüberliegende Seite zurück. Dort angekommen, zog der Zweimetermann mit dem Schmiss und der Boxernase seine Uniformjacke aus und warf sie in hohem Bogen ins Gebüsch. Dann brach er in schallendes Gelächter aus.

Es war ein deutsches Lied, das er jetzt anstimmte – ›Lili Marleen‹. Aber das bekam Sascha Kirilenko, Gefreiter der Roten Armee, nicht mehr mit.

2 russ.: Hure

3 russ.: Mutter

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25 mayıs 2021
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