Kitabı oku: «für immer 8 Bit»
Uwe Post
für immer 8 BIT
© 2018 Begedia Verlag
© 2018 Uwe Post
Umschlaggestaltung — Uwe Post
ebook-Bearbeitung — Harald Giersche
ISBN13 — 978-3-95777-118-6 (epub)
Alles für das Spiel!
Mai 1983
Ohne den platten Reifen wäre alles anders gelaufen.
Alles.
Ganz anders.
Frühling 83, ich war 16. Sie wissen schon: Geier Sturzflug steigerte das Bruttosozialprodukt, der Stern druckte Hitlers Tagebücher und manche Heimcomputer hatten Tastaturen aus einer Art Radiergummi.
Ein Samstagmittag nach der Schule besiegelte mein Schicksal. Ja, damals hatten wir samstags Schule. Nicht jede Woche, aber wir hassten es trotzdem. Der Schultag endete samstags wie an den anderen Tagen um 13:05 Uhr. Eine Stunde nachdem die meisten Geschäfte in der Stadt schlossen.
Die Maisonne schien auf die menschenleeren Straßen meines Heimatstädtchens.
Ich war spät dran. Etwas bedrückt schwang ich mich auf mein Rad und trampelte Richtung Elternhaus.
Kurz vor der Einmündung in die Hauptstraße fiel ich fast vom Sattel. Nicht, weil ich grübelte, wie ich meine Eltern vom erheblichen Nutzen eines eigenen Atari überzeugen konnte. Sondern weil ein paar Meter vor mir eine Radfahrerin eine Panne hatte. Und es war nicht irgendjemand, die da den platten Hinterreifen anschrie, als könne sie damit Luft hinein pumpen.
Es war sie.
Anna. Mein heimlicher Schwarm. Mein Schicksal.
Sofort hörte ich Gesang in meinem Kopf.
The game never ends
when your whole world depends
on the turn of a friendly card ... (i)
Seit Wochen suchte ich nach einem Anlass, um sie anzusprechen.
Was hätte ich auch sagen sollen? Nach dem »Hi«, das ich gerade so heraus bekam.
»Du, Anna, ich habe mich total in dich verknallt, willst du mit mir gehen?«
Da klang: »Ich habe eine Luftpumpe dabei« deutlich besser, oder?
Zwar lautete die Antwort nicht »Dich schickt der Himmel«, sondern bloß »Gib schon her«, aber das war immer noch besser als »du bist echt peinlich, lass mich bloß in Frieden, sonst erzähle ich es in der ganzen Schule«.
Ich versuchte mich als Kavalier: »Soll ich das übernehmen?«
»Sehe ich so aus, als könne ich keine Luftpumpe bedienen, hä?«
Autsch, das saß. Tommy würde mich auslachen, wenn ich diese Chance vergeigte. Ich riss mich zusammen.
»Ich habe sonst immer eine dabei«, sagte Anna und riss mir das Gerät aus der Hand.
Während sich Anna an ihrem Hinterreifen zu schaffen machte, strengte ich meinen Grips an. Ich musste diese Gelegenheit nutzen. Diese zufällige Unterhaltung konnte der Anfang sein.
Wovon sie der Anfang war, ahnte ich freilich nicht.
Time ... is flowing like a river ... (ii)
Meine Hände waren kalt vor Schweiß, und klare Gedanken fielen schwer. »Wenn du ein Loch im Schlauch hast, wirst du an der nächsten Kreuzung wieder pumpen müssen.«
»Vermutlich fand es bloß irgendein Fünftklässler witzig, an den Ventilen zu schrauben«, knirschte Anna.
»Ich kann dir die Pumpe bis Montag leihen«, schlug ich vor.
»Danke«, sagte Anna und pumpte weiter.
Prima, ich hatte mich soeben überflüssig gemacht. Ich verzog das Gesicht. Dachte angestrengt nach. »Du, ich … äh …«
Der Reifen war vorläufig verarztet. Anna stand auf und pustete sich eine Haarsträhne aus den Augen. »Was denn?«
»Ich, äh ...« Ich schluckte. Wich ihrem Blick aus. Wie ich es immer tat. Anna saß in Englisch zwei Tische entfernt, und weil gerade U-förmige Sitzanordnung in Mode war, sah ich sie automatisch an, wenn ich geradeaus blickte. Also fast immer. Außer, wenn sie das zu spüren schien und ihrerseits mich ansah. Dann drehte ich schnell den Kopf Richtung Lehrer und bekam trotzdem nicht mit, was der erklärte.
Anna lächelte oft. Nicht nur Augen und Lippen. Auch ihre Nase und ihre Ohren brachten es irgendwie fertig, am Lächeln teilzunehmen. Ihre fast schwarzen Haare reichten bis zu den Schultern, außer wenn sie einen Pferdeschwanz trug. Sie war in Englisch viel besser als ich, denn sie sah nicht ständig einen attraktiven Jungen an, geschweige denn mich, sondern unseren Lehrer. Der hatte eine Glatze, Brille, Bauch und war in letzter Zeit ziemlich unzufrieden mit meinen Leistungen. Ich hörte plötzlich ein Lied in meinem Kopf und hörte einfach zu.
Who knows when we shall meet again
If ever ... (iii)
Genau! Das war es!
»Also, äh … Ich habe mich gefragt, ob wir nicht mal zusammen Hausaufgaben machen können. Du bist gut in Englisch, ich nicht so, aber ich bin gut in Mathe, und ...« Jetzt bloß nicht sagen: »Du nicht«. Lieber: »Ich könnte dir zum Beispiel in Ruhe diese komplizierten Ableitungsregeln erklären, wenn du willst.«
Ein oder zwei Sekunden vergingen ohne eine Reaktion. Auch wenn ich zu jenem Zeitpunkt noch nie von Schrödingers Katze gehört hatte: Diese Sekunden waren die Kiste, in der sie steckte, und gleich würde sich der Deckel öffnen. Dann würde sich entscheiden, ob die Katze tot war oder lebte. Bis dahin war sie beides.
Anna machte den Mund auf und schloss ihn wieder.
Die Katze drehte eine weitere Runde in ihrer Kiste oder war weiterhin tot.
Zuerst schaute Anna an mir vorbei. »Komische Idee«, murmelte sie dann und sah mich wieder an. »Hab aber schon ätzendere Vorschläge gehört.«
»Freut mich. Also, dass die Idee nicht völlig ätzend ist.«
»Montag wäre gut. Da haben wir beides. Englisch und Mathe. Und ich muss dir sowieso die Pumpe zurückgeben.« Anna winkte mit dem rettenden Gerät und klemmte es auf den Gepäckträger. »Aber bei mir. Ich hab keine Ahnung, wo du wohnst, und ich traue meinem Rad im Moment nicht weiter als nötig.«
Ich verkniff mir Luftsprünge und lautes Jubeln. Immer cool bleiben! »Okay, wann soll ich kommen?«
»Drei Uhr. Weißt du, wo ich wohne?«
Klar wusste ich das. Annas Eltern standen im Telefonbuch, aber ich konnte schlecht zugeben, dass ich die Adresse längst nachgeschaut hatte. »Äh ...«, ächzte ich.
»Fohlengasse 24.«
»Ah«, brachte ich hervor. »Gut. Kann ich mir merken. Falls nicht ...«
»Wir stehen im Telefonbuch.«
»Ach ja«, sagte ich und grinste vermutlich etwas schief.
»Schönes Wochenende noch«, sagte Anna und stieg auf ihr Rad.
»Oder was davon übrig ist, samstags um halb Zwei«, seufzte ich. »Und gute Fahrt.« Ich zeigte auf ihr Hinterrad.
Dann schwang ich mich auf meinen Sattel und trat in die Pedale. Irgendwie klappte das nicht so gut wie sonst. Ich verschaltete mich und um ein Haar sprang die Kette ab. Erst jetzt merkte ich, dass ich am ganzen Leib zitterte.
Ich hatte meine erste Verabredung. Mit einem Mädchen. Mit dem Mädchen.
Am Nachmittag erzählte ich alles meinem Freund Tommy. Der kam gar nicht zu Wort, so sprudelte es aus mir hervor.
Irgendwann hielt er mir den Mund zu.
»Mmpf«, machte ich, dann wartete ich ab, was Tommy zu sagen hatte.
»Schwachkopf«, sagte Tommy. »Du hast keinen Plan.«
»Ich habe eine Verabredung!«
»Du sabberst rum wie die Jungs in Eis am Stiel. Hast wohl den Brief vergessen.«
Hatte ich nicht. Jedenfalls nicht ganz. Ich warf der Schublade einen Blick zu, in der ich das geheimnisvolle Dokument aufbewahrte.
Tommy zeigte mir einen Vogel. »Hast bloß die Hälfte der Botschaft entschlüsselt, und Knutschen hilft beim Rest ganz sicher nicht.«
Ich trottete zum Schreibtisch. Zog die unterste Schublade ganz heraus und griff tief in die Öffnung.
»Viel Erfolg«, sagte Tommy hämisch. »Ich spiele so lange mit deiner Eisenbahn.«
Wie oft ich den Brief in die Hand genommen hatte, seit ich ihn vor ein paar Wochen erhalten hatte? Keine Ahnung.
Es war ein Luftpost-Umschlag, mit blauen und roten Streifen am Rand. Ganz leichtes Papier, damit sich das Flugzeug nicht überanstrengte. Zwei australische Olympia-Briefmarken aus dem Jahr 1976, ein Air Mail-Aufkleber, abgestempelt am 31. März 1983 in Melbourne. Mit roten Filzstift stand ordentlich meine Adresse drauf geschrieben, aber kein Absender, weder vorn noch hinten.
Im Umschlag steckte eine gefaltete Seite mit Kästchenpapier, anscheinend aus einem Schulheft gerissen. Einige wenige Kästchen waren angekreuzt, das war alles. Die Kreuze bildeten grob gesagt zwei Gruppen zu je vier Zeilen, und das obere der beiden Muster war fast symmetrisch.
Ungefähr eine Woche hatte ich gebraucht, bis ich kapiert hatte, dass es sich um simplen Binärcode handelte. Ein angekreuztes Kästchen war eine 1, ein nicht angekreuztes eine 0. Die ersten vier Zeilen standen für vier Bytes, und jedes entsprach nach dem geläufigen ASCII-Code, zu dem es in einigen Computerzeitschriften Tabellen gab, einem Buchstaben.
A-n-n-a.
Die zweite Gruppe Kreuzchen bildete auch vier Zeichen, aber die ergaben keinen Sinn.
Ohnehin hätte mich nichts mehr elektrisieren können als die ersten vier Buchstaben. Jemand hatte mir aus Melbourne einen Brief mit einer Botschaft geschickt, die zur Hälfte aus dem Vornamen einer Mitschülerin bestand. Ich hoffte, dass der Rest der Nachricht nicht »auf jeden Fall meiden« lautete.
Der Brief verdrängte die Langeweile aus meinem Leben. Und brachte Anna hinein.
Ich war bis Montag, 15 Uhr, der mit Abstand nervöseste Mensch der Welt und dachte keine Sekunde an meinen zweitsehnlichsten Wunsch: Einen Atari.
Eins nach dem anderen.
Am folgenden Montag
Der Unterricht floss an mir vorbei wie die Zeit im Song von Alan Parsons. Nur in Englisch versuchte ich mich zu konzentrieren und weniger als sonst rüber zu Anna zu schauen, um am Nachmittag nicht wie der Ochs vorm Berg dazustehen. In der Pause fragte mich einer meiner Freunde nach meiner Meinung zu den Bundesliga-Ergebnissen. Ich wusste nur, dass die Offenbacher Kickers nach einer saftigen 3:7-Pleite gegen Werder Bremen nunmehr als Absteiger feststanden. Aber dieses Spiel war schon Freitagabend ausgetragen worden. Also einige Stunden vor dem Zwischenfall mit der Luftpumpe. Die Ergebnisse vom Samstag? »Äh, keine Ahnung.«
Mein Klassenkamerad Micky versuchte, mich in eine Diskussion über den TI 99/4A zu verwickeln.
»Wusstest du, dass das der einzige Heimcomputer ist, der 16 Bit auf einmal verarbeiten kann?«
»Ja«, seufzte ich, »dafür hat er bloß einen einsamen Joystickport, und der sieht auch nur so aus wie einer. Atari-kompatible Joysticks passen rein, funktionieren aber nicht.«
»Pah«, machte Micky und pikte mir den Finger in die Seite. Das tat er immer, wenn ihm ein Gespräch unangenehm wurde. Oder wenn ihn jemand Micky nannte.
In der letzten Stunde hatten wir Mathe. Danach beeilte ich mich, nach Hause zu kommen. Nach dem Mittagessen lief ich eine Weile in meinem Zimmer auf und ab. Dann zog ich frische Socken an. Anschließend lief ich wieder eine Weile hin und her. Ich sah mir die Englisch-Aufgaben an. Tigerte erneut hin und her. Schaute dauernd auf die Uhr. Notierte in mein Tagebuch ein einziges Wort, aber das in Großbuchstaben: »NERVÖS!«
Endlich war es halb Drei. Nicht, dass ich eine halbe Stunde gebraucht hätte, um zu Anna zu fahren, aber ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
Ich fuhr einen Umweg, um nicht zu früh anzukommen, aber immerhin war ich schonmal unterwegs. Das fühlte sich viel besser an, als zu Hause hin und her zu tigern, obwohl leichter Nieselregen meine Kleidung durchnässte.
Die Fohlengasse lag in einem Viertel mit Einfamilienhäusern. Vor Annas Haus stand ein roter VW Golf. Ich kettete mein Fahrrad an den Jägerzaun und lief zur Haustür. Es gab nur eine Klingel. Annas Eltern verdienten eine Menge Geld, verriet das bronzene Namensschild.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war eine Quarzuhr mit LCD-Digitalanzeige. Sie besaß unter anderem eine Stoppuhr-Funktion, mit der ich in langweiligen Unterrichtsstunden spielte: Ich drückte die Taste zum Starten und Stoppen der Uhr zweimal hintereinander, so schnell ich konnte. Mein Rekord stand bei 13 Millisekunden. Die Uhrzeit wurde leider nur sekundengenau angezeigt. Ich wartete eine ganze Weile. Erst um exakt 15:00:00 drückte ich auf den Klingelknopf. Ich rutschte fast ab, so feucht war mein Zeigefinger.
Anna öffnete und begrüßte mich mit »Schuhe aus!«. Gut, dass ich frische Socken angezogen hatte. Auch Anna trug keine Schuhe. Ansonsten sah sie aus wie während der Englisch-Stunde: Ein dunkelroter Strickpullover mit langen Ärmeln, eine schwarze Jeans. Meine Jeans war blau und mein Pullover weiß.
Der Eingangsraum des Hauses wirkte kahl. Es gab eine Treppe nach oben. Anna schloss die Tür hinter mir, dann zeigte sie auf die Stufen. Ich ging vor und blieb oben stehen. Anna überholte mich und bog links ab. Ihr Zimmer lag also auf der Straßen-Seite des Hauses. Durch das Fenster sah ich den Golf und mein angekettetes Rad. Vermutlich hatte Anna meine Ankunft verfolgt. Vielleicht fragte sie sich, warum ich so lange nach der Klingel gesucht hatte.
Anna stand mitten in ihrem Zimmer. »Ich habe einen Küchenstuhl vor den Schreibtisch gestellt. Es ist etwas eng.«
»Okay«, sagte ich und ging langsam zum Schreibtisch, der unterhalb des Fensters stand.
Annas Zimmer hatte eine Dachschräge und war kleiner als meins, enthielt jedoch deutlich mehr Kuscheltiere. Auf dem Sofa, das sich vermutlich abends in ein Bett verwandelte, saßen einträchtig ein Nashorn, ein Bär und ein Elefant nebeneinander. Sie starrten mich an, als wäre ich ein möglicher Konkurrent um Streicheleinheiten. Schön wär‘s, Sportsfreunde!
Gegenüber gab es Schränke und Regale, in denen ein kleiner Fernseher stand. Daneben warteten einige Singles und LPs auf ihren nächsten Einsatz auf dem silbernen Sony-Plattenspieler. Oben auf dem Schrank stand eine mit einem Tuch abgedeckte Schreibmaschine.
»Okay«, sagte Anna, »shall we start with English?«
»Äh«, machte ich. Streng genommen war es logisch, die Englisch-Hausaufgaben nicht auf Deutsch zu besprechen, aber überrumpelt fühlte ich mich trotzdem. Ich brachte ein gestelztes »jäss« hervor.
Wir mussten einen längeren Text aus einer älteren Zeitung lesen, zusammenfassen und Verständnisfragen dazu beantworten. Anna schlug vor, den Text abwechselnd laut vorzulesen. Sie musste mich mehrmals korrigieren.
Zwischen Frage Drei und Frage Vier kamen wir uns unter dem Tisch mit den Füßen in die Quere. Ich fragte mich, wie jemand, der dicke Wollsocken trug, derart kalte Füße haben konnte. Ich grinste Anna an und sagte: »Cold.«
Sie verdrehte die Augen, schob ihre Zehen unter meine Füße und las die Frage vor.
Ich war in diesem Moment sehr erleichtert. Erleichtert darüber, dass offenbar die lange Zeit vorüber war, in der jegliche Interaktion mit Mädchen für mich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen war. Eine Zeitspanne, die immerhin in etwa seit meiner Geburt bestand, mindestens aber seit dem Zeitpunkt, an dem ich begriffen hatte, dass Mädchen keine Jungs waren. Ich hatte keine Waage zur Hand, war aber sicher, dass meine Erleichterung messbar war. Im wahrsten Sinne des Wortes unbeschwert verliefen die restlichen Englisch-Hausaufgaben.
»Das war doch gar nicht schlecht«, sagte Anna, als wir fertig waren. Fand ich auch, und meinte damit nicht zuletzt das Füßeln.
»Warum sprichst du so gut Englisch?«, fragte ich.
»Ich war mit meinen Eltern zweimal in England und einmal in Schottland im Urlaub.«
»Hm. Meine fahren mit mir leider bestenfalls nach Österreich.«
Anna lachte. »Und? Kannst du Österreichisch?«
»Genauso wenig wie meine Eltern Englisch können. Oder irgendeine andere Fremdsprache. Deshalb fahren wir nie weiter weg. Außerdem ist es teuer.«
»Erklärst du mir die Quotientenregel?«
»Nö«, sagte ich und fühlte mich plötzlich viel besser. »Wir werden sie stattdessen gemeinsam herleiten.«
»Ist solche Folter nötig, um die heutigen Aufgaben zu lösen?«
»Du hast zwei Möglichkeiten«, sagte ich und zeigte ihr zwei Finger der linken Hand. »a) Du lernst die ganzen Formeln auswendig. Kann man machen. Find ich aber recht anstrengend, und wenn du dir bloß ein Rechenzeichen verkehrt herum merkst, ist alles vorbei. b) Du verstehst die Formeln. Dann musst du sie dir nicht merken, weil du sie dir jederzeit herleiten kannst.«
»Aber ich muss mir die Herleitung merken.«
»Nein.« Ich sah Hilfe suchend zu Nashorn, Bär und Elefant. »Beziehungsweise: Ja. Aber das ist viel leichter. Hast du ein leeres Blatt Kästchenpapier? Also, schreib: f(x) durch g(x), in großen Klammern, Strich oben dran. Genau. Und jetzt ...«
Während wir arbeiteten, stellte sich heraus, dass Anna Probleme mit Bruchrechnung hatte. »Damit bist du nicht alleine«, sagte ich. »Aber das ist Übungssache. Wir können bei Gelegenheit mal eine Stunde Bruchrechnen üben. Kürzen, Erweitern, Brüche addieren und so weiter. Das wird in der Oberstufe vorausgesetzt, aber viele können nicht sicher damit umgehen.«
Anna seufzte demonstrativ. »Mir macht das keinen Spaß.«
»Spaß?« Ich hatte gerade welchen, denn Anna hatte meinen versteckten Vorschlag, sich erneut zu treffen, nicht brüsk abgelehnt. »Doch, es macht Spaß. Es macht Spaß zu sehen, wie die Zahlen und Buchstaben umher tanzen und sich doch immer an ihre Regeln halten. Wie am Ende ein Ergebnis erscheint, dem manchmal sogar eine gewisse Eleganz nicht abgesprochen werden kann. Und nicht zuletzt macht es Spaß, etwas zu können, das nicht jeder kann. So wie Schreibmaschine schreiben.« Ich zeigte zu dem abgedeckten Gegenstand auf dem Schrank.
»Das ist keine Schreibmaschine«, sagte Anna. »Das ist ein Computer.«
»Äh«, machte ich. »What?«
»Ein Com-pu-ter.«
Ich überlegte, ob ich mich kneifen sollte.
Sweet dreams are made of this ... (iv)
»Mein Vater hat ihn ausrangiert. Er wollte damit irgendwas für die Arbeit machen, aber es hat anscheinend nicht funktioniert. Da hat er ihn mir überlassen. Er hielt es für schlau, wenn ich mich damit beschäftigen würde.«
Who has the mind to disagree ... (v)
»Ich neige dazu, dem Mann zuzustimmen«, sagte ich vorsichtig. »Was für einer ist es denn?«
»Ein Atari 800 oder so.«
»Ein ...« Mir blieb die Luft weg. Vielleicht, weil ihre Worte klangen wie »Nashorn oder Elefant, ist doch egal«: Es mangelte ihnen an Ehrfurcht. Atemlos schwelgte ich in Erinnerungen: »Letzten Sommer, beim Schüleraustausch in Frankreich, haben wir auf der Rückfahrt in Paris angehalten. An der Sacre Coeur wurden wir ausgeladen, neun Jungs und 21 Mädchen, ich aß das Baguette au Jambon, das mir die Mutter meines kleinen Franzosen mitgegeben hatte, danach war uns langweilig.«
Anna lehnte sich zurück, griff zu ihrem Stoffelefanten, setzte ihn sich auf den Schoß und ließ mich reden.
»Wir gingen die Treppen runter, nach Montmartre, und irgendwo in der Nähe einer dieser hammermäßigen überirdischen Jugendstil-Metro-Stationen betraten fünf der neun Jungs einen kleinen Computerladen. Dort habe ich zum ersten Mal einen echten Atari 800 gesehen und darauf herum getippt.«
»Herum getippt?«
Ich nickte. »Es war kein Steckmodul drin. In dem Fall ist der Atari nicht mehr als ein ziemlich schwerer und teurer Notizblock mit weißen Buchstaben auf blauem Hintergrund, der beim Ausschalten alles vergisst.«
»Keine gute Eigenschaft für einen Notizblock.«
Es war der zweiterotischste Moment meines Lebens gewesen, direkt nach dem heutigen Füßeln mit dicken Socken. Allerdings behielt ich diesen Gedanken für mich.
»Du kannst ihn dir ansehen, wenn du willst«, sagte Anna. »Aber es ist kein Spiel dabei.«
Ich schob meinen Stuhl zum Regal und kletterte hinauf. »Ja und?«
»Weil«, sagte Anna, »diese Dinger sind doch nur zum Spielen gut.«
»Warum klingt das Wort Spielen bei dir wie im Dreck wühlen?«
Anna zuckte mit den Schultern. »Spielen ist Zeitverschwendung.«
»Genau wie Fernsehen«, sagte ich, während ich den schweren Computer vom Schrank hievte. Dahinter verbarg sich ein Schuhkarton mit Netzteil und Kabeln. »Aber Computer sind vor allem dafür gut, um uns Menschen unangenehme Arbeit abzunehmen. Es gibt tatsächlich etwas viel Spannenderes, das man mit diesem Wunderwerk der Technik anstellen kann.« Ich stellte das Gerät auf den Stuhl, zog das staubige Tuch fort und starrte den Atari an wie eine heilige Reliquie.
»Spannender als Spielen?«
»Ja.« Ich hob andächtig die Hände. »Spiele erschaffen.«
Anna drehte ihren Schreibtischstuhl und legte die Füße aufs Sofa. »Kannst du das?«
Ich entnahm dem Schuhkarton das BASIC-Steckmodul. »Klar«, sagte ich. »Wir schließen den Atari an deinen Fernseher an, dann zeige ich es dir.«
»Muss ich mir das dann merken, wie die Quotientenregel?«
Vorsichtig fummelte ich das eingesteckte Antennenkabel aus der Rückseite des Fernsehers und stöpselte das Atari-Kabel ein. »Hast du sie dir denn jetzt gemerkt?«
»Nein«, sagte Anna und tat so, als würde ihr Elefant die nächsten Worte sprechen: »Aber die Herleitung, hoffe ich.«
»Perfekt«, sagte ich und schob den Netzstecker des Atari in die Dose neben der Tür. Ich knipste den Fernseher an.
»Kanal 20«, sagte Anna. »Einmal habe ich ihn angeschaltet, aber ...«
»Er verhielt sich nur wie ein vergesslicher Notizblock.«
»Langweilig.«
Ich beobachtete, wie nach und nach das Fernsehbild erschien. Die Röhre heizte sich ziemlich langsam auf. Als ich auf Kanal 20 wechselte, sahen wir Schnee und hörten Rauschen.
»Weil das Modul fehlt.« Ich öffnete die Gehäuseklappe des Computers und schob das BASIC-Modul an die richtige Stelle. Dann schaltete ich den Atari an. Nach einem knurrigen Brummen erschien ein blauer Bildschirm mit fünf weißen Buchstaben:
READY
Darunter wartete der Cursor auf Befehle, ein weißes Quadrat.
Ich kniete mich vor den Atari. »Kannst du von deinem Stuhl aus alles sehen?«
»Alles, was ich sehen will«, versetzte Anna und streichelte die Elefantenohren.
Ich ließ mich nicht beirren und tippte ein:
10 Z=RND(10)+1
20 PRINT "Errate die Zahl zwischen 1 und 10!"
30 INPUT R
40 IF R>Z THEN PRINT "ZU GROSS!":GOTO 20
50 IF R<Z THEN PRINT "ZU KLEIN!":GOTO 20
60 PRINT "RICHTIG GERATEN!!"
»Dauert das noch lange?«, fragte Anna, als habe sie noch einen wichtigen Termin mit ihrem Elefanten.
»Nö, schon fertig.«
»Erklärst du mir, was du da machst?«, sagte Anna.
»Also, das ist ein ziemlich einfaches BASIC-Programm. Jede Zeile beginnt mit einer Nummer und enthält eine oder mehrere Anweisungen. Wenn ich jetzt den Befehl RUN tippe und die Return-Taste drücke, arbeitet der Atari die Zeilen von oben nach unten ab.«
»Und das soll ein Spiel sein?«
»Es ist eins«, sagte ich fest. »Ein sehr einfaches. Aber es ist tatsächlich eines, bei dem man mit einer guten Strategie schneller zur Lösung kommt als mit einer schlechten. Das ist wichtig bei Spielen. Es gibt immer ein Ziel und verschiedene Möglichkeiten, es zu erreichen. Bist du ein guter Spieler, erreichst du das Ziel schneller. Ein Spiel ist eine Art Test.«
»Du willst mich testen?«
Statt einer Antwort startete ich das Programm, das uns aufforderte, eine Zahl zu erraten. »So, der Atari hat sich jetzt eine zufällige Zahl zwischen eins und zehn ausgedacht, und wir müssen sie erraten.«
»Fünf«, sagte Anna.
»Sehr gut«, sagte ich und tippte auf die Taste mit der Ziffer 5, dann auf Return. Der Computer antwortete »Zu klein.«
»Acht«, sagte Anna.
»Kennst du das Spiel?«, fragte ich, denn sie hatte auf Anhieb die richtige Strategie gewählt.
»Ich rate.«
»Du rätst gut.« Ich gab die 8 ein und zeigte auf den Bildschirm. »Gratulation, du hast gewonnen. Das ging ziemlich schnell. Wir können den Glücksfaktor verringern, indem wir Zahlen zwischen 1 und 1000 nehmen.«
»Und wer soll das kaufen?«
Ich drehte mich zu Anna um. »Wie meinst du das?«
Sie warf mir den Elefanten zu und griff zum Nashorn. »Mein Vater sagt immer: Was niemand kauft, taugt nichts. Keiner würde dein Spiel kaufen.«
»Es ist ja auch ein sehr einfaches Spiel. Ich wollte dir nur zeigen, dass ...« Ja, was eigentlich? Wollte ich ihr beweisen, was für ein toller Hecht ich war, indem ich einen Computer, der sie nicht interessierte, mit einem Spielchen fütterte, das sie nicht interessierte? Oder hatte mich eine unsichtbare Macht dazu gezwungen, irgendein Spiel zu programmieren, und dieses war mir als erstes eingefallen, weil ich es in der Bücherei in einer Computerzeitschrift gesehen hatte?
»Kannst du ein besseres Spiel programmieren?«, unterbrach Anna meine Gedanken. »Eines, das, sagen wir … tausend Leute kaufen, zu einem Preis von … 20 Mark?«
Ich zuckte mit den Schultern und zeigte auf den Atari. »Man braucht nur eine Idee und etwas Zeit. Na ja, und man muss sich um Vervielfältigung und Verkauf kümmern, dazu braucht man eine Datasette oder ein Diskettenlaufwerk. Man muss eine Anleitung schreiben und eine hübsche Verpackung entwerfen. Dann muss man eine Anzeige in einer Zeitschrift schalten und warten. Aber im Prinzip spricht nichts dagegen.« Ich streichelte den Elefanten. In die Stille hinein knurrte mein Magen. Ich sah auf die Uhr: Viertel vor Sechs. »So ein Computer ist zwar nur ein Kasten mit etwas Elektronik drin. So ähnlich wie ein Videospiel. Aber mit einem entscheidenden Unterschied: Man kann unendlich viele Dinge damit tun. Man kann etwas erschaffen, das es vorher nicht gab. Eine eigene Welt.«
»Eine eigene Welt«, wiederholte Anna geistesabwesend und streichelte ihr Nashorn.
Zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, ich wäre ein Kuscheltier.
Als ich später Tommy davon erzählte, behauptete er allen Ernstes, dass ich alles total verkehrt anstellte. Man müsse ein Mädchen zu einem Eis oder ins Kino einladen!
Den Nieselregen als Argument gegen die Idee mit der Eisdiele ließ Tommy zum Glück gelten. Allgemein war er der mutigere von uns beiden. Er warf mir dauernd vor, dass ich schüchtern war, und das zu Recht.
»Sagte ich schon, dass du ein behämmerter Idiot bist?«, raunzte er mich an und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Besucht ein Mädchen und streichelt bloß ihren Elefanten.«
»Ich wollte nicht rausgeschmissen werden.«
»Mich wundert, dass sie nicht vor Langeweile eingeschlafen ist.« Tommy machte die Augen zu, den Mund auf und schnarchte.
Er war mein bester Freund. Mein einziger, genau genommen. Gut, er existierte nur in meiner Fantasie, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass die Anzahl meiner Freunde genau Eins betrug. Natürlich hatte ich Schulkameraden. Aber richtige Freunde sind Typen, die nicht bloß mit dir abhängen, sondern die sofort da sind, wenn‘s dir dreckig geht, und die dir Bescheid stoßen, wenn du Mist gebaut hast. Was ist ein Junge ohne Freunde? Einsam. Ich wollte nicht einsam sein. Meine Schulkameraden waren manchmal ganz okay. Aber keine Freunde. Ich führte sogar eine Liste über die Gründe. Für Tommy gab es eine solche Liste nicht. Das wäre mir dann doch komisch vorgekommen. Komischer jedenfalls, als abends im Bett Selbstgespräche zu führen.
Kurz vorm Einschlafen meinte Tommy noch, etwas mehr Mut könne auch einem unverbesserlichen Idioten wie mir nicht schaden, notfalls müsse man ihn mir einprügeln.
»Fang schonmal ohne mich an«, murmelte ich schlapp, dann umfingen mich süße Träume.