Kitabı oku: «Meine Stadt auf Яussisch»

Yazı tipi:

Übersetzer Rupert Ossweil

Korrektor Rupert Ossweil

Fotograf Kristina Podolyakova

© Valeria Fedchenko, 2021

© Rupert Ossweil, Übersetzung, 2021

© Kristina Podolyakova, Fotos, 2021

ISBN 978-5-0053-5818-9

Erstellt mithilfe des Intelligenten Verlagssystems Ridero

MEINE STADT
AUF ЯUSSISCH

Aus dem Russischen übersetzt

von Rupert Ossweil

Ludwigsburg

2021

Inhalt

Kapitel 1

 
August 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
 

Kapitel 2

 
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Rathaus
 

Kapitel 3

 
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marstall
 

Kapitel 4

 
Herbst 2005
Deutschland, Ludwigsburg, Volkshochschule
 

Kapitel 5

 
Februar 2019
Deutschland, Monte Scherbelino bei Stuttgart
 

Kapitel 6

 
Winter 2005—2006
Ein kleines Dorf am Bodensee
 

Kapitel 7

 
Winter 2005—2006
Deutschland, ein altes kleines Haus nahe Ludwigsburg
 

Kapitel 8

 
Herbst 2006
Deutschland, Marbach
Freundschaft mit Anita aus Bosnien
 

Kapitel 9

 
Januar 2008, Russland, Smolensk
Anton Denisjenko. Zwanzig Jahre danach
 

Kapitel 10

 
11. März 2009
Deutschland, Winnenden unweit von Stuttgart
Tim Kretschmer
 

Kapitel 11

 
Herbst 2009, Deutschland
Russisch für Tochter Katharina
 

Kapitel 12

 
1978—1988
Sowjetunion, ein Städtchen nahe Kaluga
Meine Liebe zum Russischen und zur Literatur
 

Kapitel 13

 
Herbst 2009
Der Name für die russische Schule
 

Kapitel 14

 
Herbst 2009
Deutschland, Marbach
Die ersten Klienten
 

Kapitel 15

 
Winter 2010
Umzug nach Ludwigsburg
 

Kapitel 16

 
August 2011
Die Gruppe «Mama und Kind»
 

Kapitel 17

 
Schuljahr 2011—2012
Übergesiedelte Mütter
 

Kapitel 18

 
Winter 2012, Ludwigsburg
Artikel der «Ludwigsburger Kreiszeitung»
 

Kapitel 19

 
Winter 2012
Marika
 

Kapitel 20

 
Frühjahr 2012
Ein unruhiger Nachbar
 

Kapitel 21

 
Frühjahr 2012
Die Rache des Nachbarn: Wir sind eine illegale Kindergartengruppe
 

Kapitel 22

 
August 2013
Flug Moskau – Frankfurt – Stuttgart; Ludwigsburg
Der verschwundene rosa Koffer
 

Kapitel 23

 
August 2013
Deutschland, Ludwigsburg
Ein Interview mit der Smolensker Zeitung «Gorod» (,Die Stadt»)
 

Kapitel 24

 
Polizei
 

Kapitel 25

Wie wir uns vergrößerten

 
Rechtsanwalt Stein
Wie wir uns vergrößerten
 

Kapitel 26

 
August 2017
Die Schule zieht um
 

Kapitel 27

 
2017. Ludwigsburg, Sonntag, spätabends
Valentina
 

Kapitel 28

 
2018, Ludwigsburg
Chila. Wenn du fest an dein Kind glaubst
 

Kapitel 29

 
Valeria
 

Kapitel 30

 
Die Zahlungsmoral der Russen
 

Kapitel 31

 
Warteraum in der Schule
Marina
 

Kapitel 32

 
Die einfach Verschwundenen
 

Kapitel 33

 
Januar 2019
Marbach, Schillers Geburtshaus
 

Kapitel 34

 
2018. Alina
 

Kapitel 35

 
Februar 2019
Marbach, Ausflug zum Schiller-Geburtshaus (Teil 2)
 

Kapitel 36

 
Juli 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Café beim Brunnen
Melina, Marina und Christian
 

Kapitel 37

 
August 2019. Ludwigsburg
Ljuba Kraft: eine Wiederbegegnung nach vierzehn Jahren
 

Kapitel 38

 
Herbst 2019
Ludwigsburg, Kulturzentrum
 

Kapitel 39

 
Frühherbst 2019
Ludwigsburg
Karin
 

Kapitel 40

 
Dima
 

Kapitel 41

 
Jelena. Neun Jahre später
 

Kapitel 42

 
8. März 2020
Ludwigsburg, die Räume der russischen Schule
«Russisches Frühstück»
 

Kapitel 43

 
10. März 2020
Ludwigsburg. Markt 8 (Haus der evanglischen Kirche)
 

Kapitel 44

 
15. März 2020
Ludwigsburg. Der Beginn der Pandemie
Briefe an die Schülereltern
 

Kapitel 44

 
15. März 2020
Ludwigsburg. Der Beginn der Pandemie
Briefe an die Schülereltern
 

Kapitel 45

 
17. Juni 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
 

Kapitel 46

 
Ein Brief an den Oberbürgermeister
 

Kapitel 47

 
31. Juli 2020
Ludwigsburg
Bildungszentrum «Katharina»
 

Epilog

 
Deutschland, Ludwigsburg
Ein Jahr später – 2021
 

Gewidmet dem zehnjährigen Bestehen der russischen Schule in Ludwigsburg

Allen Eltern und Schülern, die ich das Glück hatte kennenzulernen.

Meinen Töchtern Katharina und Julia.

Geschrieben für die Frauen und Mädchen, die sich danach sehnen,

ihr Heimatland zu verlassen, um ein besseres Leben zu suchen.

Geschrieben für alle, die sich für andere Kulturen

und Länder interessieren.

Kapitel 1

 
August 2019
Deutschland, Ludwigsburg, Marktplatz
 

Zwei Kirchen – eine größere, die evangelische, und eine kleinere, die katholische – ragen einander gegenüber und schauen schweigend auf das Treiben am Fuß ihrer Mauern. Ein Treiben, das im Vergleich zu anderen Tagen, wenn hier der Wochenmarkt oder ein Konzert stattfindet, heute nicht sehr lebhaft ist.

Ein paar Kinder rennen den Tauben nach; müdegejagt, sehen einige Vögel, einträchtig aufgereiht auf dem Sims eines Hauses, von oben zu.

Auf dem Platz halten Leute, sich in den Schatten der mächtigen Kirchenmauern bergend, Rast auf Stühlen. Die Stadt hat vorausschauend Sorge getragen, dass die Stühle nicht etwa festgeschraubt sind – so können die Einwohner sie, dem Lauf der Sonne folgend, ins Schattige rücken.

Andere haben sich in den kleinen Cafés und Restaurants niedergelassen, die um den ganzen weiten Platz herum verteilt sind, und schlürfen gemächlich leichte alkoholische Getränke – den hellgelb-klaren «Hugo» mit Minzeblättern oder den rötlichen Aperol mit Eiswürfeln. Sie essen eine Pizza oder löffeln ein Eis, in leisem Gespräch.

Viele, so ist zu spüren, genießen die letzten warmen Tage des Sommers.

Für mich ist es schon mehr der Herbst – allmählich sickert er von überall her ein. Er ist in der warmen Luft. Ist in dem gelben Blatt, das da von irgendwoher angeflattert kommt. Auf den dunkler gewordenen Blättchen der Pflanzen in den riesigen Töpfen rund um den Marktbrunnen in der Mitte des Platzes.

Meine Mädchen und ich überqueren den Platz in der Hoffnung, ein freies Tischchen draußen vor unserem Lieblingscafé zu finden, dessen italienischer Name, «Baci», auf Deutsch „Kuss“ bedeutet. Wir haben Glück; die Mädchen machen sich’s auf dem Lederbänkle bequem, das dicht vor den hohen Fenstern des Cafés steht; ich auf einem Stuhl. Das niedrige Tischchen reicht mir gerade bis zu den Knien.

Diesen Platz vor den Café-Fenstern liebe ich noch mehr, wenn ich ohne die Kinder komme. Er bietet Schutz: hinter dir die Fensterscheibe, vor dir die Säulen der Arkaden. Dabei siehst du alle, die an den Tischchen sitzen. Mit den Mädchen setze ich mich lieber an die gewöhnlichen etwas höheren runden Tische, aus Sorge, dass ihnen an den niedrigen Tischchen das Eis auf die Knie kleckert.

Es sind sehr viele Besucher da, doch die Kellnerinnen lassen es sich nicht nehmen, uns als alten Bekannten freundlich zuzunicken, während sie sich flink von Tisch zu Tisch bewegen. Eine von ihnen, die Besitzerin selbst, Angelina, ist eine schöne Italienerin mittleren Alters. Dunkelhaarig, stets geschmackvoll gekleidet, bedient sie die Gäste gemeinsam mit ihren Angestellten. Im Sonnenlicht glitzert der Schmuck, der, kundig gewählt, ihre Kleidung ergänzt.

Ich gebe rasch unsere Bestellung auf, ohne dafür in die Karte zu gucken. Weil ich für gewöhnlich, bei schönem Wetter im Sommer, immer das gleiche bestelle: kalten Kaffee mit Eiswürfeln, Vanilleeis und Sahne. Hier heißt das «Eiskaffee», ist aber was ganz anderes als der Eiskaffee“ in Moskau. Dort ist das eine Kugel Vanilleeis, die man in heißen Kaffee legt – du kannst da zusehen, wie diese Kugel deinen schwarzen heißen Kaffee allmählich in warmen Kaffee mit Milch verwandelt.

Lustigerweise bereiten die Italiener – ihnen gehören hierzulande in aller Regel die Eisdielen – diese Art kalten Eiskaffee nur in Deutschland; in Italien selbst ist dieses Getränk praktisch nirgendwo anzutreffen.

Meine ältere Tochter bestellt sich eine Eisschokolade: kalter Kakao mit Eiswürfeln, Vanilleeis und ohne Sahne. Mit Sahne findet sie das Getränk zu fett und sattmachend.

Die Jüngere bittet, ob sie eine Erwachsenen-Portion «Spaghetti-Eis» bekommen darf: Vanilleeis, durch ein Gerät in Nudelform gepresst, übergossen mit einer Erdbeersoße. Das Ganze sieht aus wie ein Teller Spaghetti mit Tomatensoße.

Unbemerkt von der Jüngeren wechsle ich einen Blick mit ihrer Schwester Katharina: uns ist klar, dass sie das nicht alles schaffen wird und jemand diese Portion wird aufessen müssen – was uns nicht lieb ist.

Die Jüngere zu überreden versuchen, eine Kinder-Portion mit einem «Überraschungs-Ei» zu nehmen, möchte ich aber auch nicht, aus Furcht, durch einen Disput die entspannte mediterrane Stimmung und die Atmosphäre, von der die Luft erfüllt ist, zu zerstören.

In dem Wissen, dass ein Teil der Portion auf dem Teller bleiben wird, erlaube ich ihr, die Bestellung zu machen. Bestellen, das mag sie gerne selber; sie tippt dann mit ihrem Fingerchen auf die Karte und heftet den Blick auf die freundlich lächelnde Kellnerin.

Ciao, bella.

Aus meinem Rucksack krame ich einen Kugelschreiber und einen langen Quittungszettel aus dem Supermarkt hervor; und mit fliegendem Stift notiere ich die Zeilen eines Gedichts, die mir im Kopf kreisen.

Dann, während ich meinen Eiscafé trinke, versuche ich, das Entstandene ein wenig in Form zu bringen.

Der Herbst

Mit durchsichtigem Flügel, fein und zart

Hat er, mit zärtlichem Seufzer,

Alles gestreift

Und goldenen Puder verstreut.

Hat Gras, Bäume, Blätter bestäubt

Und den Feldern einen Luftkuss gesandt.

Den Sonnenstrahl vergaß er in der azurblauen Spinnwebe

Und ist allmählich Sieger geblieben.

Aus dem Himmel tönt der Abschiedsruf

Derer, die sich kampflos ergeben haben.

Ich lese es meiner Tochter Katharina vor.

«Wie schön das klingt!» sagt sie.

Kapitel 2

 
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Rathaus
 

Traut euch, unpopulär zu sein. Ihr müsst nicht jeden Moment liebe Mädchen sein.

Caroline Link, Filmregisseurin

Ein Treffen der Vertreterinnen von Organisationen, Vereinen und sozialen Einrichtungen für Frauenfragen, zur Vorbereitung von Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag am 8. März.

Das Fotoshooting für Frauen unter dem Motto «Ich bin eine Blume», das ich beim vorigen Treffen vorgeschlagen habe, fällt unter den Veranstaltungen, die die Stadt im Laufe der zurückliegenden Jahre durchgeführt hat, aus der Reihe. Und ich begreife auch, warum.

Was haben die anderen denn vorgeschlagen? Ich blättere in meinem Notizblock, wo die Veranstaltungen der anderen Organisationen eingetragen sind, damit es keine zeitlichen Überschneidungen gibt.

Montag, 2. März, bis Freitag, 13. März: Ausstellung «Machen Sie mehr aus Ihrem Minijob», ausgerichtet von der Agentur für Arbeit.

Mittwoch, 4. März, 15—17 Uhr: «Mobbing».

Mittwoch, 4. März, 18—20 Uhr: Rentenberatung.

Mittwoch, 4. März, 18—20 Uhr: Workshop «Mut zum Nein».

Diese Veranstaltungen sind getragen von Untergliederungen der katholischen Kirche. Zweifellos, es sind lauter wichtige und aktuelle Themen, nichts dagegen zu sagen. Man muss das unter den russischen Frauengruppen bekannt machen …

Was gibt es außerdem?

Mittwoch, 4. März, 19 Uhr: Podiumsdiskussion: «Wohnungsnot – kreative Ideen, politische Forderungen»

Ich muss an meine Freundin Karin denken, die nun schon seit mehreren Jahren auf der Suche nach einer preiswerteren Mietwohnung ist. Sie hat drei Kinder … Angestellt ist sie bei einem Ministerium. Eine Deutsche. Vor ein paar Jahren hat sie, beunruhigt um das Wohl ihrer Kinder und ihr eigenes, ihrem Ehemann den Laufpass gegeben, der zunehmend aggressiv geworden war. Albert zog aus, und Karin blieb in dem Haus, das fast so viel an Miete kostet, wie sie im Monat verdient. Und jetzt hat sie keine Aussichten, etwas anderes zu finden; ebenso wenig Aussichten wie Tausende von schlecht Deutsch sprechenden Zuwanderern mit ihren Kindern.

«Wir möchten die Wohnung einer Familie mit zwei berufstätigen Erwachsenen geben», bekam sie von einer Vermieterin zu hören. – «Wir suchen Mieter ohne Kinder.» —«Zu vermieten: Dreizimmerwohnung für eine Einzelperson oder ein kinderloses Paar.» So etwa lauten die Wohnungsangebote in der Regionalzeitung.

Zu jener Podiumsdiskussion erwartet man den Sozialbürgermeister der Stadt. Na, der sollte sich mal anhören, was Karin zu erzählen hat …

Freitag, 6. März, 19.30 Uhr: «Nichts soll meine Schritte fesseln» – eine musikalisch-literarische Performance. Die Schauspielerin Lisa Kraus trägt Texte von Dichterinnen des 14. Jahrhunderts bis heute vor, begleitet von einem Saxophonquartett und einer Perkussionistin. Veranstalter ist die Stadtbibliothek.

Dienstag, 10. März, 19.30 Uhr: «Das Schweigen brechen – Jede vierte Frau erlebt häusliche Gewalt». Ein Film von Heidi und Bernd Umbreit, worin die Bewohnerinnen eines Frauenhauses berichten, vor welch bedrohlichem Alltag sie dort Zuflucht gefunden haben.

Ich kann gut verstehen, warum eine Veranstaltung unter dem Motto «Ich bin eine Blume» hier aus dem Rahmen fallen muss. Weil sich dabei eine Frau ganz unbefangen zu sich selber und zu ihrer Schönheit bekennen will.

In Deutschland geht das nicht.

Und nur hier, in keinem anderen Land, fällt es mir bisweilen schwer, beim Blick auf einen Menschen festzustellen, welches Geschlecht er hat.

Mein Äußeres und meine Äußerungen bei diesem Vorbereitungstreffen im Rathaus fallen aus dem Rahmen dessen, wie die anderen aussehen und was sie reden.

Wenn man sich im Saal umsieht:

Es sind Frauen mittleren Alters, Vertreterinnen sozialer Organisationen und politischer Parteien der Stadt, engagiert in Frauenfragen, mit wachem Blick für weibliche Lebensumstände und Probleme. Fast alle – betrachtet man die Gruppe aus, russischer’oder mit „männlicher“ Sicht – wirken sie in Kleidung und Aussehen recht fade. Eines freilich verbindet sie alle: sie haben sehr kluge Augen.

Problemfelder mit weiblicher Thematik gibt es in der Stadt etliche. Da ist etwa die Integration von Zuwanderinnen, die Stärkung ihrer Unabhängigkeit. Die Gebühren der Tagesstätte für Kinder zwischen einem und drei Jahren kommen dem Mindestlohn gleich – das kann sich nur die Mitarbeiterin einer großen Firma leisten – ; die Migrantinnen jedoch sind gezwungen, daheim zu bleiben, wenn nicht der ganze Verdienst für die Kita-Betreuung draufgehen soll. Da ist das Frauenhaus, wo Mütter mit ihren Kindern Zuflucht vor dem gewalttätigen Partner finden: es hat zu wenig Räume, platzt aus allen Nähten. Für eine Erweiterung, so heißt es immer wieder, hat die Stadt kein Geld. Doch davon später …

Wenn man im Saal die Reden hört …

Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, welche Blicke mich trafen, als ich kurz nach Beginn der Versammlung ums Wort bat und die Frage stellte: «Wo sind denn eigentlich die Männer?»

Ich erzählte den Damen, dass sich in Russland die Männer gewöhnlich aktiv an den Vorbereitungen solcher Veranstaltungen beteiligen. Großes Erstaunen auf den Gesichtern.

Einer der Frauen kommt ein Gedanke; sie sagt gedehnt. «Ah jaaa – ich hab mal gehört, dass man in Russland den achten März anders feiert, irgendwie schwungvoll.»

Als ich dieses Erlebnis Natalja erzähle, der Mutter meines kleinen Schülers Richard, muss die belesene Rechtsanwältin lachen.

«Die deutschen Frauen sind scheint’s der Meinung, die Rettung Ertrinkender sei Sache der Ertrinkenden selbst» – ein gängiger Ausspruch aus einem berühmten russischen Satire-Roman.

Aus den von mir vorgeschlagenen Veranstaltungen wird nur eine für verständlich und nachvollziehbar befunden: «Russisches Frühstück».

Als die Damen sich erkundigen, welches politische Thema ich bei diesem Frühstück erörtern werde, wehre ich erschrocken ab – bei dem Gedanken, wie viele Menschen und aus welchen «ehemaligen Republiken» der großen Sowjetunion da womöglich zu erwarten sind.

«Wir werden nicht über Politik diskutieren», sage ich. «Wir werden einfach nur einige Gerichte der russischen Küche kosten. Unsere Frauen können sehr gut backen». «Das Bildungszentrum Katharina" », füge ich nach einer Pause hinzu, «vereinigt unter seinem Dach Menschen, die die russische Sprache lieben, unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Die Eltern unserer Schüler sind russischsprachig, aber kommen aus ganz verschiedenen Ländern, zwischen denen die politische Lage nicht immer friedvoll ist. Das Thema Politik ist nahezu ein Tabu.»

Die Frauen nicken voll Verständnis. Unter ihnen ist Alin, eine türkische Kurdin; in ihren Augen, wenn ich verstohlen zu ihr hinschaue, bemerke ich Schmerz. Wenn sie das Wort erhält, erklärt sie als Erstes – fast wie um Entschuldigung bittend —, warum sie so gut Deutsch spricht: «Ich bin in Deutschland geboren.»

Das zweite, Begreifliche» für die Damen ist mein Vorschlag eines «Literarischen Salons, Weltweit bekannte Frauen aus Russland'». Hierzu gedenke ich heranwachsende Mädchen und ihre Mütter einzuladen. Meine Idee ist, die Mädchen dafür zu motivieren, beruflichen Erfolg zu erstreben, nach dem Vorbild solch bedeutender Frauen wie etwa der Kosmonautin Valentina Tereschkowa oder der Mathematikerin Sofja Kowalewskaja.

Nach dem zu urteilen, wie viele Hausfrauen ihre Sprösslinge zu allen möglichen Kursen und Unterrichtsstunden schleifen, sehen offenbar nicht alle für ihre Töchter die Zukunft nur als Mutter, Hausfrau, Kindermädchen oder Putzfrau. Das Thema dürfte also auf Resonanz und Interesse treffen.

Der dritte Vorschlag, «Fotoshooting für Frauen – Ich bin eine Blume», «mit oder ohne Make-up», trifft offenkundig bei der gesamten Gruppe auf eine psychologische Barriere. Er ruft Erstaunen hervor, annäherungsweise gar Angst, von leichter bis panischer, je nach dem Grad des Selbstvertrauens und der inneren Freiheit. Trotzdem wird der Vorschlag angenommen.

Der letzte Vorschlag, ein Schachturnier, sieht vor, dass kleine Mädchen (Fünfjährige, die in der russischen Schule einen Schachkurs besuchen) gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung antreten.

Mädchen, die mit erwachsenen Männern Schach spielen – gewissermaßen ein symbolisches Zeichen für Gleichberechtigung. Den Frauen werden die Augen warm. Was ich darlege, ruft Rührung, Begeisterung und große emotionale Zustimmung hervor.

«Ich will gegen den Bürgermeister spielen», erklärt meine fünfjährige Tochter, als sie von der geplanten Veranstaltung erfährt. Sie hat bereits das «Bauernabzeichen» errungen und fühlt sich durchaus sicher.

Für diese Veranstaltung stellt die Stadt sogar einen Saal in dem Gebäude gegenüber dem Rathaus zur Verfügung; und sie sorgt dafür, dass einige schachbegeisterte prominente Pensionäre, frühere Mitarbeiter der Verwaltung, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, hindernisfrei zum Ort des Geschehens gelangen können.

Beim Verlassen des Rathauses wendet sich eine ältere Dame an mich; an dem Treffen hatte sie als Vertreterin einer der politischen Parteien teilgenommen. «Wir schlagen seit dreißig Jahren immer die gleichen Veranstaltungen vor. Es ist wirklich an der Zeit, daran etwas zu ändern», sagt sie, um mich zu unterstützen.

«Es wäre nicht schlecht, wenn man die Männer mit dazu heranzieht», gebe ich nach einigem Nachdenken zur Antwort.

Nach dem Treffen kommt mir so ein Gefühl, dass die deutschen Frauen mit ihren feministischen Ideen vielleicht doch zu weit gegangen sind. Sie haben das andere Geschlecht aus den Augen verloren, Barrieren errichtet und Ängste in sich aufgebaut, und haben so den Weg zu einem konstruktiven Miteinander versperrt.

Kapitel 3

 
Januar 2020
Deutschland, Ludwigsburg, Marstall
 

Scheint mir die Sonne heut, um das zu überlegen, was gestern war?

Johann Wolfgang Goethe, «Egmont»

Auf den hohen Betonstufen sitzend, schaue ich hinunter auf den Eingang zum Einkaufszentrum «Marstall» und auf die bronzene Skulptur eines Pferdes in Lebensgröße. Manche Stellen an dem Tier sind ganz blank gerieben, wie man das von allen solchen Skulpturen auf der weiten Welt kennt. Diese Stellen werden von den Einwohnern der Stadt, den Besuchern und Touristen besonders geschätzt: an ihnen zu reiben soll Glück bringen. Wenn es möglich ist, setzt man die kleinen Kinder oben drauf und knipst Fotos. So eine Skulptur gab es auch in meiner Kindheit: den Hirsch im Park von Smolensk, mitgebracht von russischen Soldaten aus Deutschland.

Die Sitzstufen, beidseits des Einganges zum Einkaufszentrum, steigen treppenförmig hinan, die beiden Geschoss-Ebenen miteinander verbindend. In Abständen sind sie durch niedrige Tische unterbrochen, in ihre Breite eingelassen; auf solch einem hab ich jetzt meinen PC abgestellt.

Zu größerer Bequemlichkeit sind Stufen wie Tischchen auf der Oberfläche mit Holz bekleidet. Und überall verteilt, wie die Bücher im Wohnzimmerschrank der guten Hausfrau, liegen Kissen in allen möglichen Farben. Vorläufig noch schön beeinander; sorgsam aufgereiht, am Abend zuvor oder heut in der Frühe, von den Reinigungskräften.

Jetzt ist es elf Uhr an diesem späten Samstagvormittag, die Stadtbewohner werden allmählich munter, und es kommen immer mehr Menschen.

«Marstall» … Wenn ich diesem Wort nachlausche, so teilt sich’s mir in «Marsch» und «Tal». (Wobei Ersteres eines der vielen Wörter ist, die wir Russen einstmals aus dem Deutschen entlehnt haben.) Der Begriff kommt jedoch von einem alten Wort für, Pferd»: Vor dreihundert Jahren war hier der Ort, wo die Pferde des fürstlichen Hofes untergebracht waren und getummelt wurden; ein solches Gebäude wurde damals als Marstall bezeichnet. Von einer Seite des Einkaufszentrums führt eine kurze, für ihr Alter recht breite Straße geradewegs auf einen der Eingänge zum Park vor dem Schloss, der einstigen Residenz der württembergischen Herzöge.

Einstmals, vor etwas mehr als zweihundert Jahren, erschien vor diesem Schloss der Kaiser Napoleon, dessen Truppen bereits im Land standen. Er zog den Herzog Friedrich in ein Bündnis gegen Österreich und stellte ihm die Königswürde in Aussicht, die der württembergische Monarch bald darauf auch annahm.

Die Deutschen lieben ihre Geschichte. Der fünfzehnstöckige Wohnturm, der sich an dem Ort des einstigen Marstalls erhebt, ist zwar ein hässliches Bauwerk aus den siebziger Jahren, das viele gar als Verschandelung des Stadtbilds empfinden – doch bei der Neugestaltung des Einkaufszentrums, das mit seinen Läden, Boutiquen und Cafés den unteren Teil des Gebäudes einnimmt, hat man für manche historische Anspielungen gesorgt, die an die fürstlichen Pferde von ehedem erinnern. Zusammen mit den heute modernen Elementen von Holz, Glas und Beton ist ein stilvolles Ensemble entstanden. Die bunten Kissen und der süßliche Duft wohlschmeckender Café-Getränke geben ihm etwas Anheimelndes.

Heute warte ich hier auf meine Tochter Katharina. Schon seit einigen Jahren nimmt sie jeden Samstagvormittag Unterricht in russischer Sprache und Literatur.

Als eine der Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag wird es ein Fotoshooting für Frauen geben, unter dem Motto «Ich bin eine Blume». Katharina wird als Fotomodell fungieren. Ihr frisches junges Gesicht ohne Makel und Falten wird für die Aufnahmen keine Probleme bereiten. Wir – mit dabei sind die Fotografin Galina und die Kosmetikerin und Visagistin Lena – wollen einen Werbeprospekt erstellen, den Katharinas Porträt schmücken soll.

Ich greife zum Smartphone, wische mit dem Finger über die neuesten Nachrichten auf Instagram.

Ins Auge springt mir die Nachricht: «Die Zahl junger Menschen aus Russland, die ihr Land verlassen wollen, hat innerhalb der vergangenen zehn Jahre eine Rekordhöhe erreicht. 53 Prozent der jungen Russländer haben vor, dauerhaft im Ausland zu leben.»

Indem ich mich so umschaue, muss ich mir selber die Frage stellen: «Wie kommt es denn eigentlich, dass ich jetzt hier bin?» Dass ich mich in einem Märchenwald verirrt und mich unversehens hier befunden hätte, kann ich ja schlecht behaupten.

Ich frage mich: «Hatte ich das, schon immer» gewollt, und was hat mich dorthin geführt, wo ich jetzt bin?»

Ich erinnere mich aufs Genaueste, dass ich nirgendwohin vorhatte auszureisen.

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