Kitabı oku: «Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático», sayfa 2

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Intellektuelles Schreiben im Medium bedeutet im Rahmen einer von Teuber umrissenen Theorie des Opfers Selbsthingabe durch Transgression und Verausgabung. Durch den Verzicht auf konkrete Finalität, sei es didaktischer Nutzen oder ästhetische Unterhaltung, übertritt es die Gesetze des Buchs als Protoemblem kultureller Ökonomie: Das Schreiben verweigert seinen Status als Mnemotechnik, entzieht sich eindeutiger Referenz und missachtet seine Sanktionierung als Sekundant des Wortes und des unmittelbaren Sinns, kurz: Es verneint seine Legitimationsbedürftigkeit. Als intransitiver Gestus ist es zudem feierliche Verausgabung, weil es nicht zum Ruhen kommt; weil es seine Thesen opfert und seine Sinnsetzungen immer wieder verwirft. Seine Bewegung verläuft nicht geradlinig ,auf ein Ziel zu‘, sondern perpetuiert sich als „Rückkoppelungs-Schleife“34 im Kreis. So begeht das kontemplative Schreiben das Opferfest im Kreisgang, den Martin Heidegger als „Fest des Denkens“ bezeichnet hatte.

Das Schreibopfer dient der Rettung der Bücher und des in ihnen enthaltenen Sinns. Dabei sind in christologischem Sinn Opfernder und Opfergabe eins. Der Schreibende nimmt den gesellschaftlichen Exzess, den Überschuss der Bücher in sich auf, um sie in einem Akt der Verausgabung zu opfern, das heißt: die Lektüren zu zerlesen, auseinanderzureißen, Lücken in ihre Diskurse zu schlagen, sie zu verwinden, zu verarbeiten, sich schreibend ihrer zu entledigen und von ihnen zu befreien. Letztendlich bedeutet das auch, das Buch seiner selbst zu dekomponieren. Doch nicht die Auslöschung ist dessen Ziel: Bernhard Teuber spannt einen Bogen zur negativen Theologie des Pseudo-Dionysius, nach der sich über die höchste Gottheit nur in Negationen sprechen lässt; alle Affirmationen seien dazu ungeeignet. Das verwerfende Schreiben ist eine Verausgabung in Negationen. Es führt, so die Hoffnung, zur Negation der Negation und zur Erscheinung des Überschüssigen, das sich der Affirmation entzieht. In einer Epiphanie dieses ‚plus ultra‛ – Derrida nannte es das „+n“ – ließe sich ein Horizont der Ganzheit, des ,Alles-Versammelns‘ und des ,Alles-Sagens‘ vermuten. Teuber erinnert in diesem Zusammenhang an die Dialektik des Juan de la Cruz „zwischen dem ,Nichts‘ (nada), dem man sich radikal verschreiben soll, und dem ,Alles‘ (todo), das man am Grunde dieses Nichts gewinnen kann“.35 Auflösende Verausgabung der vielen Bücher und damit Auflösung des inneren Polylogs; das eine Buch des Selbst zum Schweigen bringen, die große Unterbrechung, den leeren Raum schaffen, in dem die wirkliche Erfahrung der Literatur möglich wird. Denn erst ihre Übertretung, sagt Derrida im Gespräch mit Attridge, macht es möglich, das Wesen ihres Gesetzes selbst zu denken.36 Vielleicht liegt in der Intimität einer solchen Erfahrung eine mögliche Antwort auf die Frage, was es gewesen sei, das wir hatten wissen wollen. Und so zeigt sich der wahrhafte Bücherfreund im Bekenntnis des Biblioklasmus.

Nun wäre der Rahmen umrissen, die Bühne bereitet, auf der sich jenes Schreiben bewegt, das ich in dieser Studie als das essayistische betrachte. Dieses Buch, Leser, gibt dabei redlich Rechenschaft. Es entspringt vielleicht einem gewissen Unbehagen, das sich zuweilen im Umgang mit manchen literaturwissenschaftlichen Ergebnissen einstellt, sowie einem unruhigen Umherirren durch einige Bibliotheken auf der Suche nach Bekenntnissen, die wir heute Essays nennen. Dabei stieß ich auf solche, die wir vielleicht nicht ohne Weiteres als solche bezeichnen würden, die aber dennoch Zeugnis jenes Begehrens der Totalität zwischen Philosophie und Literatur sind. Die beiden Texte, die ich in dieser Arbeit vorstelle, María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático, verstehen sich beide als das, was Wolfgang Müller Funk am Grund essayistischen Schreibens erkennt: als ein „Korrektiv des wissenschaftlichen Szientismus“.37 Beide verhandeln in einzigartiger Weise jene alte Feindschaft zwischen dem Denken und dem Dichten, in deren Zwischenraum für Derrida die Möglichkeit zu einer Erfahrung der Literatur gegeben ist. In ihnen nun meinte ich greifbarere Manifestationen eines essayistischen Geistes zu finden als in so manchem ,Essay‘. Über etwa 450 Jahre hinweg haben Menschen ein Schreiben praktiziert, mit dem sie sich und die Welt um sich herum transparent, und Welt und Wissen sprechend machen wollten. Die beiden Texte handeln vom Ringen des lesenden und schreibenden Subjekts um das Verständnis der Zeichen, die es umgeben. Und es sind Bekenntnisse derer, die trotz oder gerade wegen ihres Zweifels eine Sprachlosigkeit der Welt nicht vollkommen akzeptieren wollten. In diesem Sinne versuche auch ich, mich in diesem Wald sprechender Zeichen zurechtzufinden. Bücher werden herausgezogen und zurückgestellt, Lektüren werden erwogen und wieder verworfen, plötzlich erscheinende, vielleicht unerlaubte Analogien werden erahnt, vertieft und wieder ausgelöscht. Doch all die erlaufenen Umwege haben, so meine tiefe Hoffnung, etwas Wesentliches beizutragen zu einem Verständnis des Essayistischen, welches uns die reinen Affirmationen vorenthalten. Und umso eindringlicher kann ich nun auch mit Montaigne versichern: C’est un livre de bonne foi.

Für einen universelleren Zugang habe ich den Text weitestgehend in deutscher Sprache gehalten, gerade im Fall der französischen (Sekundär)literatur eine Entscheidung, die mir nicht leichtgefallen ist. Ich habe jedoch einschlägige französische Begrifflichkeiten im Original in Klammern hinzugefügt. Um nicht mehr Fußnoten als Text zu schaffen, sind lediglich die Montaigne-Zitate im Ganzen auf französisch bereitgestellt. Dagegen befinden sich sämtliche relevanten spanischen Zitate zum Nachlesen direkt auf der jeweiligen Seite in der Fußnote. Diese zeigt die zitierte Stelle jeweils sowohl in der deutschsprachigen (gekennzeichnet durch „dt.“) als auch in der spanischsprachigen Publikation (gekennzeichnet durch „span.“) an. In einigen Fällen habe ich selbst übersetzt, auch wenn bereits eine deutsche Textfassung verfügbar gewesen wäre. Es schien mir geboten, bestimmte Stellen in eigener Übersetzung vorzustellen, um in einem Feinbereich der Sprache die größtmögliche Achtsamkeit auf eine speziell im Sinne meiner Analysetätigkeit adäquate Übertragung zu legen. Eigene Übersetzungen sind als „(e.Ü.)“ in der Fußnote gekennzeichnet.

Mit Jacques Lacans ‚Spiegelstadium‛ und Julia Kristevas ‚Textpraxis‛ führe ich zwei grundlegende Theorien zur Erfassung essayistischen Schreibens in die Diskussion; dabei mag es verwundern, dass beide nicht im Detail in ‚Teil II‛ dieser Arbeit dargelegt sind: Ich hielt es für sinnvoll, diese Theoriebausteine in ‚Teil III‛ zusammen mit der konkreten Textanalyse auseinanderzusetzen, um sie für die Primärtexte direkt präsent zu halten und so die Verständlichkeit des Textes zu erhöhen. Im Theorieteil hingegen will ich übergeordnete Zusammenhänge klären, aus denen sich die Bedeutung der angesprochenen Theorien für das ‚Essayistische‛ ergibt. Es geht also um eine Betrachtung, inwiefern essayistisches Schreiben an einen Begriff der ‚Praxis‛ gebunden ist, sowie um deren allgemeine psychoanalytische Implikationen.

II. Theorie
1 Der Essay und das ,Essayistische‘
1.1 Der Essay als Gattungsproblematik

Ob als populärwissenschaftlich marginalisiert, als Philosophie für Faule belächelt oder als (pseudo-) intellektuelles Machwerk angefeindet: Der Essay erscheint als niedere Form im literarischen Gattungsgefüge oder als behelfsmäßige Theorie und wird noch immer gern als mehr oder weniger gefährliche Subversion des wissenschaftlichen Geistes angesehen. Dabei nimmt er durch seine Lust an allem, was der Systemhaftigkeit zuwiderläuft, einen schwierigen Stand zwischen – oder jenseits von – Literatur und Wissenschaft ein. Der Essay ist das Nichtidentifizierbare, ,Unreine‘ und irgendwie Störende im hübsch geordneten philologischen Vorratsschrank; das Glas mit dem immer falschen Etikett. Von der Geringschätzung, die dieser Form des Schreibens besonders hierzulande lange entgegenschlug,38 zeugt nicht zuletzt Th.W. Adornos hartes Urteil über die Verächter des Essays, denen er Obrigkeitshörigkeit vorwirft, welche sich der teutonische Geist aufgrund der lediglich „lauen Aufklärung seit Leibnitzschnen Tagen“ bewahrt habe: „In Deutschland reizt der Essay zur Abwehr, weil er an die Freiheit des Geistes mahnt.“39 Gerade im akademischen Betrieb ist, folgt man Adorno, der Vorwurf des essayistischen Ausdrucks ein schwerer. Argwöhnisch wacht die gestrenge Wissenschaft über ihre Hoheitsgebiete, um mögliche Übertretungen, erfolgen sie nun von innen oder von außen, missgünstig als ,Literatur‘ zu denunzieren. Der Vorbehalt gegen ihn ist nicht zuletzt dem laxen Umgang mit dem Begriff des Essays geschuldet, der ein allzu weit gefasstes Verständnis von der Zeitungskolumne über den Schulaufsatz bis hin zum naturwissenschaftlichen Traktat alle möglichen Textformen duldet, die nicht eindeutig genug entweder als literarische Prosa oder als Forschungslektüre zu identifizieren sind.

Essays können kurz sein oder lang, sie können von allem handeln, das kulturelle Zusammenhänge erschließt. Allein der Streit um eine gültige Thematik kann befremdliche Züge annehmen, wenn etwa Adorno urteilt, ein guter Essay handle nicht von Personen, während zum Beispiel Stefan Zweig oder in Spanien José Ortega y Gasset oder Ramón Gómez de la Serna40 dieses Diktum längst eindrücklich entkräftet hatten. Einige Essays sind in ihrem Anspruch des Zugriffs auf Welt umfassender, andere kommen als flüchtige Detailbeobachtung daher, wieder andere rücken eine intime Selbststudie in den Vordergrund, die den Charakter eines Bekenntnisses hat. Essays sind politisch, philosophisch, anthropologisch, soziologisch, philologisch etc. oder alles zusammen, denn sie integrieren meist mehrere Teilbereiche des Wissens sowie unterschiedliche Stile, Ausdrucks- und Erkenntnismittel. Die Schwierigkeiten einer Definition liegen an der Auswahl geeigneter Kriterien für die Klassifikation eines Texts als Essay: thematische oder formale Aspekte, Grad gesellschaftlicher Relevanz, stilistische Besonderheiten, Wirkungsdispositionen. Gehen wir von einem Modell aus, das mehrere Kriterien berücksichtigt, stellt sich das Problem ihres lediglich graduellen Vorhandenseins. So ist etwa die Spanne zwischen tentativer und explikatorischer Darstellungsart sehr weit. Manche Essays gleichen aleatorischen Einfällen, andere deuten ganz bewusst auf einen hohen Grad von Elaboration hin. Wo liegt die Grenze, ab wann ist ein Essay kein Essay mehr?

Die maximale Freiheit der Autoren beim Verfassen von Essays scheint diese an ihre persönlichen Vorstellungen und an die Umstände ihrer Epoche anzupassen, sodass sie als Ausdruck individueller Sensibilität gelten. Juan Marichal spricht daher von einer „Biegsamkeit“ oder Anpassungsfähigkeit einer Form, die man schon „chamäleonisch“41 nennen könne. Und Juan Loveluck prägt das schöne Wort vom Essay als dem „frechen Gnom der Literatur“, der sich mal hier, mal dort versteckt und immer neue Volten der Ablenkung schlägt, wenn jemand seiner habhaft werden möchte.42 Versuche zur Bestimmung gibt es zahlreiche, die zwar gewisse Charakterzüge richtig erfassen, dabei jedoch oft im Allgemeinen verharren. So erklärt etwa Gerhard Haas, der Essay sei unsystematisch, ohne Ableitung von Prinzipien, daher ziele er nicht auf Vollendung, oder bleibende Resultate. Die logische Gedankenbewegung sei durch intuitive Einfälle unterbrochen, so entstehe der Essay aus dem Zusammenarbeiten von Instinkt und Intelligenz.43 In einer Untersuchung neueren Datums geht zum Beispiel Claire de Obaldia auf die Gattungsproblematik ein und nimmt folgende Bestimmung vor:

an essentially ambulatory and fragmentary prose form. Its direction and pace, the tracks it chooses to follow, can be changed at will; […] the essay develops around a number of topics which offer themselves along the way. And this sauntering from one topic to the next toghether with the way in which each topic is informally 'tried out' suggests a […] randomness which seems to elude the unifying conception […] of a recognizable generic identity.44

Doch auch damit kommt keine stabile Definition zustande. Obaldia selbst führt weiter aus, die schiere Unendlichkeit der möglichen Themen für den Essay mache eine Klassifikation fast unmöglich, und dies umso mehr, als die Bezeichnung ,Essay‘ selbst den Erwartungshorizont des Lesers zerstreue. Denn einerseits stelle sie eine Autorität und Authentizität eines Menschen in Aussicht, der in seinem eigenen Namen spricht, andererseits aber scheine dieser gleichzeitig alle Verantwortung für das Gesagte abzuwälzen mit dem Hinweis darauf, es sei eben nur ein beiläufiger Versuch.45 Ohne im Rahmen dieser Arbeit auf die einzelnen definitorischen Anstrengungen eingehen zu können, halte ich Birgit Nübels Einschätzung für richtig, der Essay habe sich bislang „sowohl in literarhistorischer wie in systematischer Hinsicht jeder noch so umfangreichen deskriptiven Anstrengung sowie allen definitorischen Zugriffen entzogen“.46 So erschöpften sich Forschungsarbeiten zum Thema in einer „additiven Aufzählung von Merkmalen, wobei die zahlreichen Klassifikationsvorschläge durch phänomenologische Beschreibungen und Paraphrasierungen der vielzitierten Metaessays von Georg Lukács, Max Bense, Theodor W. Adorno und einschlägiger Passagen aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) ergänzt werden“.47 Sowohl die metaphorischen Umschreibungsversuche, als auch die formalistischen Abstraktionen zeigten die Schwierigkeit, wissenschaftlich mehr als die Minimalformel „Essay = ein nicht-fiktionales [sic] Prosastück mittlerer Länge“48 zu erzielen. Auch Claire de Obaldia bemerkt, es gebe ohnehin nur eine einzige Tatsache, die allgemein am Essay akzeptiert werde, und diese laute: „indeterminacy is germane to its essence.“49 Bei näherer Hinsicht besteht jedoch weder Einigkeit über die Universalität der Unbestimmtheit, noch über den nichtfiktionalen Status. Und selbst wenn wir etwa etwa mit Klaus Weissenberger den Essay grob als „nicht-fiktionale Kunstprosa [sic]“50 betrachteten, so ergäbe sich immer noch die Schwierigkeit einer Abgrenzung zu zahlreichen Nachbarformen, wie dem Brief, dem Aphorismus, oder der Autobiografie. Der Sinn einer klassifikatorischen Herangehensweise erscheint immer zweifelhafter. So stellt etwa Gerhard Haas gleich zu Beginn seiner Studien zur Form des Essays die entscheidende Frage: „[G]ibt es denn die Gestalt des Essays überhaupt?“51 Und wie soll es möglich sein, eine Form zu bestimmen, die sich gerade durch die Freiheit der Form auszeichnet und nicht nur darstellerische Qualität, Sachnähe, Rundung, Rhythmik, Geistesoffenheit, Fragegier und lyrische Präzision, sondern auch Magie und Transzendenz in sich vereinigen soll?52 Durch die fehlende Zuordnung zu einer eindeutig identifizierbaren Gattung gerät der Essay jedoch in die Gefahr, als „sub-literarisch“ marginalisiert zu werden.53 Als Hybrid oder Mischform schlechthin verführt er außerdem zu einer exzessiven Verwendung des Begriffs. Und so bedauert etwa auch Gerhard Haas, der Essay werde auf diese Weise nichts als ein „bequemer Sammelbegriff“.54

Genauso entzündet sich daran jedoch auch ein Bedürfnis nach genauerer Einordnung und einem Ausweg aus der Beliebigkeit. Schon seit Beginn des 20. Jh. existiert ein Bewusstsein dafür, dass es auf irgendeine Art und Weise ,richtige‘ und ,falsche‘ Essays geben müsse. So besteht z.B. Georg Lukács in seinem Brief an Leo Popper darauf, sich nur auf die „wahrhaftigen Essays“ beziehen zu wollen und nicht auf „jene nützlichen, aber unberechtigterweise Essays genannten Schriften, die uns nie mehr geben als Belehrung und Data und ,Zusammenhänge‘“.55 Der „wahrhaftige Essay“ zeichnet sich für Lukács dadurch aus, dass er nicht an Wert verliert, wenn sein historischer Augenblick vergangen ist. Entscheidend für den „wahrhaftigen Essay“ sind aber weniger äußere Kategorien, als vielmehr eine innere Einstellung des Autors: Nur durch seine Ernsthaftigkeit rette er sich aus dem Wertlosen. Tatsächlich ist die Ernsthaftigkeit einer Wahrheitssuche im Gestus aufrichtiger Rede zentral für eine Charakterisierung essayistischen Schreibens; als Kriterium für eine Gattungsbestimmung ist sie freilich nicht geeignet. Der grundlegende Ansatz, das Textphänomen ,Essay‘ auf dynamischere Art zu erfassen, erscheint zielführender, als einem kaum in den definitorischen Griff zu bekommenden und extrem heterogenen Textkorpus eine bestimmte Gattungszugehörigkeit abringen zu wollen.

1.2 Das ,Essayistische‘ als Frage der Geisteshaltung

Claire de Obaldia führt dies zu der Frage, „whether the essay can be regarded as a genre at all, or whether it might not represent the very denial of genre“.56 Sie stellt den Essay als ein Schreiben dar, das den Gattungen in gewisser Weise vorausgeht;, als „writing before the genre, before genericness“.57 In Anlehnung an Genette unterscheidet sie zwischen mode und genre: Während sie die geschlossene Form eines „argumentativen“ Essaytyps als literarische Gattung für grundsätzlich klassifizierbar hält, assoziiert sie die offene Form des von Montaigne begründeten meditativen und spekulativen Essays mit einem „Modus“ des Schreibens, den sie „das Essayistische“ nennt.58 Auch ich möchte dies meinen Überlegungen zugrunde legen: Das ,Essayistische‘ soll also ,den Essay‘ ersetzen.59 Das ,Essayistische‘ ist nach Obaldia die Ausdrucksweise eines „essayistischen Geistes,, eines „essayistic spirit,“, und ,der Essay‘ nichts als eine Extrapolation des ,Essayistischen.‘.60 Obaldia legt das ,Essayistische‘ so an, dass es alle literarischen Genres durchdringen, oder an ihnen teilhaben kann. So sieht sie beispielsweise im Roman die vielleicht essayistischste aller literarischen Gattungen; reflexiv, kritisch, unbestimmt und ohne feste Form. Wenn sich nicht beantworten lässt, was der Essay ist, dann immerhin, was das ,Essayistische‘ als Haltung ausmacht. Unter dieser Herangehensweise entstehen dann jene „additiven Aufzählungen von Merkmalen“, die Birgit Nübel als unbefriedigend kritisiert. Dabei ist diese Reihung in keiner Weise falsch. Im Gegenteil halte ich sie sogar für eine intuitive Erfassung dieses Textphänomens für unersetzlich. Sie sind nur eben selbst von dem affiziert, was Wolfgang Müller-Funk sehr treffend als den „essayistischen Impuls“61 bezeichnet. Denn in stilistischer Hinsicht scheint hier tatsächlich eine Impulsivität als asyndotische Struktur ein Weg zu einem assoziativen Verstehen zu sein. So eröffnet Müller-Funk eine breite Perspektive, wenn er Momente beschreibt, die zum „Gestus des Essayistischen“ gehören: „subjektive Erfahrung, lebensweltlicher Bezug, die Affinität zum Experimentellen, Induktion, kreisende Bewegung um ein Thema, das eben nicht mehr ein fixierter Gegenstand ist, Mehrdeutigkeit, Apodiktik und hypothetischer Konjunktiv, literarisches Schreiben, Prinzip Umweg, lebendige Metapher, Grenzüberschreitung, Analogie, Sinn für Ironie und Paradoxie, Gedankensprung, Intertextualität und Dialog.“62 Der Versuch einer wissenschaftlichen Beschreibung eines essayistischen ,Charakters‘, so scheint es, entkommt einer essayistischen Darstellung nicht. Das Bedürfnis umfassender Darstellung bringt die Sätze ins Wanken und löst den inneren Impuls eines Gedankenstroms aus, dessen Bruchstücke das ,Ganze‘ transzendieren sollen. Und so ist Müller-Funks Operation durchaus mit Octavio Paz’ berühmter Charakterisierung der Dichtung aus El arco y la lira vergleichbar: „Die Poesie ist Wissen, Erlösung, Macht, Hingabe. […] Einladung zur Reise ins Geburtsland. Inspiration, Respiration, muskuläres Exerzitium. Gebet an die Leere, Dialog mit der Abwesenheit: […].“63

Der Versuch einer metaphysischen Wesensbestimmung des ,Essayistischen‘ als Geisteshaltung löst die Bestimmung einer Reihe von Merkmalen aus, die sich in ihrer Mehrheit um das Schlagwort des Postmodernen gruppieren. Tatsächlich hatte Lyotard, als er den Begriff der Postmoderne prägte, ähnliche Assoziationen. „Mir scheint“, schreibt er in Postmoderne für Kinder (Le postmoderne expliqué aux enfants), „daß der Essay (Montaigne) postmodern ist und das Fragment (das Athenäum) modern.“64 Obwohl Lyotard selbst seine Vermutung nicht weiter ausführt, lässt sie wertvolle Rückschlüsse zu. Das ,Essayistische‘ reiht sich nicht ein in die großen Welterklärungssysteme. Nach Lyotards viel zitiertem Zusammenbruch der Metaerzählungen bildet fortan die ,kleine Erzählung‘ einen Legitimationsmodus eines postmodernen Wissens.65 Essayistisches Schreiben als fragmentartige oder nicht erschöpfende ,kleine Erzählung,, die eng mit einer perspektivischen sozialen Konstruktion von Realität in unserer Kultur zusammenhängt66 und die ihre Legitimation in sich selbst sucht, ist schon sehr nah an dem, was Lyotard unter dem Schlagwort der Postmoderne vorgestellt hatte. Dabei wird mit der Erwähnung des Postmodernen hier vor allem ein Aspekt des ,Essayistischen‘ eingeholt, den schon Georg Lukács beobachtet, wenn er schreibt: „Tatsächlich werden im Essayisten seine Maße des Richtens erschaffen, doch ist er es nicht, der sie zum Leben und zur Tat erweckt: es ist der große Wertbestimmer der Ästhetik, der immer Kommende, der noch nie Angelangte.“67 ,Der Essay‘ predigt immer das Kommende, doch mit dessen tatsächlicher Ankunft wäre er überflüssig geworden. Er ist daher, wie Lukács sich ausdrückt, „der reine Typus des Vorläufers“.68 Auch Gerhard Haas betont diesen Aspekt übereinstimmend. So sei jede Form des Essays „Vorform“ in dem Sinn, dass ein formales Ruhen im Vollendeten niemals erreichbar sein kann.69 Claire de Obaldia bemüht in diesem Zusammenhang den Begriff der „not yet literature“70, den sie von Alistair Fowlers Konzept der „literature in potentia“71 herleitet. Obaldia bezieht sich in erster Linie auf die Tatsache, dass das ,Essayistische‘ gewissermaßen einen Bodensatz ideeller und stilistischer Art bildet, von dem ausgehend sich literarische Werke entwickeln. In jenem ,not-yet‘, das den essayistischen Ausdruck charakterisiert, schwingen die Aspekte der Möglichkeit als Mutmaßung und Potenz mit: Einerseits stellt ein/e Essayist/in eigene Aussagen immer unter einen Vorbehalt, tätigt sie also nicht apodiktisch, sondern belässt sie im Bereich eines lediglich möglicherweise Richtigen. Andererseits geht es auch darum, die Aussage durch die Fülle weiterer denkbarer Möglichkeiten zu erweitern. Gerhard Haas prägt für das ,Essayistische‘ daher den Begriff der „Möglichkeitsaussage“, die er als „Kern alles essayistischen Denkens und Produzierens“ bezeichnet.72 Montaigne und seine Nachfolger seien Autoren des Wiedergelesenwerdens, weil bei ihnen im Hintergrund des Gesagten das Ungesagte oder halb Gesagte mitschwinge, das weitere Möglichkeiten offenhalte. Insofern ist das ,Essayistische‘ eine Operation, die Sensibilitäten für dieses Nicht- oder Halbgesagte entwickelt – eine Empfindsamkeit, die sich mit einem zentralen Paradigma des Poststrukturalismus deckt. Die essayistische „Möglichkeitsaussage“ vereint, genau genommen, diese beiden eben geschilderten und einander widersprechenden Aspekte: einerseits die radikale Skepsis, die sich zuweilen dem Vorwurf eines „Erkenntnisnihilismus“73 aussetzt, und andererseits das Streben nach einer „intensiveren Wahrheit“: Obaldia spricht angesichts der Abkehr von rein mimetischen Verfahren und der Hinwendung zur Imagination von einer Wahrnehmung des „Potenzials“ der Realität und einer „more intense perception of truth“.74 Diese Formulierung leitet sie von William Hazlitt ab, nach dessen Wort ein Essayist die „Essenz“ seines Gegenstandes zum Leben erwecken müsse, „in a way that yields a more intense sense of truth than would a simple description“.75 Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen und bildet meiner Ansicht nach jene Aporie, die für die paradoxe Grundstruktur des Essayistischen, sowie für die Oszillationen des Geistes zwischen Tragik und Ironie ausschlaggebend ist. Nun ließe sich die Formulierung von Aporien als postmoderner Modus beschreiben, genauso wäre es jedoch möglich, im Streben nach intensiveren metaphysischen Wahrheiten jene „Nostalgie“ zu erkennen, mit der Lyotard die Moderne kennzeichnet.76 Der Begriff der Postmoderne ist so unklar und vielfältig, dass man eher spielerischen Umgang damit pflegen sollte. Brian McHale bringt dies auf die anschauliche Formulierung: „The literary historian as a performance-artist, rather than as policeman.“77 Da sich freilich nur schwer mit einem solchen Begriff arbeiten lässt, will ich ihn hier auch nicht extensiv bemühen. Als Geisteshaltung scheint das ,Essayistische‘ jedoch mit der Vorstellung einer Postmoderne zumindest eng verwandt: Es entspricht einer Sensibilität für das Differente, Abwesende, Vergessene oder gesellschaftlich Verdrängte, das strategisch durch einen Modus der Möglichkeitsaussagen eingeholt werden soll. Damit werden Formen der Legitimierung des Wissens erkundet und angewandt, die jenseits metaphysischer und wissenschaftlicher Systeme liegen.