Kitabı oku: «Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)»
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Dr. Adolf Streuli-Stiftung, Zürich
Aargauische Gemeinnützige Frauenvereine
Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit, Zürich
Chan Schrafl, Maur
Walter Stoll & Co., Kaffee-Rösterei, Zürich
Zonta-Club, Zürich
Dieses Buch ist nach den neuen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckige Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat: Simon Wernly, hier + jetzt
Gestaltung: Christine Hirzel, hier + jetzt
Bildverarbeitung: Humm dtp, Matzingen
©2007 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden
eBook-ISBN 978-3-03919-729-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Inhalt
Einleitung
Das Kind vom Land – Leben in Bözen
Die Eltern: Henriette Benker und Julius David Vögtlin
Eine durchaus gediegene Mädchenbildung
Rudolfine oder die grosse, städtische Welt
Fritz Erismann, charmanter Rebell und Maries erster Verlobter
«Zu sterben wäre ich freudig bereit gewesen» – Schicksalsjahr 1867
Marie Ritter, die verlässliche Vertraute
Das Brugger Kinderspital und seine Gründerin «Tante Rahn»
Die Würfel fallen
Ein «schüchterner Versuch, vom Baum der Erkenntnis zu naschen»
Erste Schritte in der akademischen Welt
Maries Kolleginnen – «über alle Massen zuvorkommend und liebevoll»
Sophie Heim – von der Freundin zur Schwägerin
Susan Dimock, unternehmungslustige Kollegin, schmerzlich vermisste Freundin
Wie man in den Wald ruft, kommt es zurück – Maries Studienkollegen
«Der liebe Professor war überaus besorgt für uns»
Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert
Die Russinnen kommen – oder: Sturm im Wasserglas
«Jetzt fällt mir der letzte solche Stein vom Herzen» – Studienabschluss
Das «Haus, wo es mir so durch und durch wohl ist» – Marie bei Familie Heim
«An ihrem Ziel das höchste geistige Interesse genommen» – Albert Heim
«… wo die Zitronen blühn» – Marie und Albert auf Hochzeitsreise
Mit Feuer und Flamme für das Frauenstimmrecht
Maries Praxis – das Leben ihrer Wahl
Arnold – Maries «Alleinherrscher»
Im Sommer das «Hüsli», im Winter der Christbaum
Helene und Marie – eine Mutter-Tochter-Beziehung mit Tücken
Die Sternschnuppe – Röslis Geburt und Tod
Der grosse Onkel und sein kleines Geheimnis
«Diese Kinder lasse ich nicht fahren …» – das Ende einer langen Freundschaft
Die Geschichte einer schmerzhaften Ablösung – Arnolds Erwachsenwerden
«Denke an Goethe! Was wäre er als Euer Kind geworden?»
Maries Wunsch: «recht helfen können, nicht nur tröpfliweise»
Von Frauen ins Leben gerufen und von Frauen geleitet – die Pflegerinnenschule
Schwerer Abschied vom Leben
Wie es weiter ging
Anmerkungen
Bibliografie
Bildnachweis
Personenregister
Einleitung
Für mehrere Generationen war Marie Heim-Vögtlin ein wegweisendes Vorbild. Sie gehörte zu den wenigen Frauen, die an der Landesausstellung von 1939 in der Galerie bedeutender Schweizerinnen und Schweizer mit einem Porträt geehrt wurden. Mit der Neuen Frauenbewegung nach 1968 verblasste ihr Stern. Diese Generation stiess sich daran, dass Marie Heim-Vögtlin keiner politischen Bewegung angehörte, dass sie als verheiratete Frau den Schutz eines prominenten Gatten genoss und dass sie private Wohltätigkeit betrieb, statt eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu fordern.
Nachdem diese «Neue» Frauenbewegung ihrerseits ins Alter gekommen ist, fördert ein Blick auf Maries Leben Erstaunliches zu Tage. Genau wie die erste Schweizer Ärztin jonglieren auch heutige berufstätige Familienmütter mit zu vielen Bällen aufs Mal. Marie bewältigte ihren anspruchsvollen Alltag trotz regelmässig wiederkehrenden Migräneattacken. Für sich und ihre Nachfolgerinnen hatte sie das Recht auf Bildung erkämpft. Zahlreiche andere Pionierinnen der alten Frauenbewegung setzten sich ihrerseits für die rechtliche und politische Besserstellung der Frau ein. So veränderte sich in der Schweiz gerade in den letzten Jahrzehnten manches zugunsten der Frauen. Marie hätte sich über das Stimmrecht und die rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann gefreut, denn die damalige juristische Benachteiligung der Frau zermürbte sie im Alltag.
Als sich die 23-jährige Marie Vögtlin zum Studium entschloss, hatte sie das Glück, an der Universität Zürich auf verständnisvolle Professoren zu stossen. Solche Männer waren die Ausnahme. Die älteste Schweizer Universität, Basel, liess Frauen erst 1890 zu. Marie stand bereits über zwei Jahrzehnte im Beruf, als der Direktor des Klinischen Instituts für Chirurgie an der Charité Berlin, Ernst von Bergmann, 1896 die Frage nach dem Frauenstudium mit einem Satz abschmetterte: «Ich halte die Frauen zum akademischen Studium und zur Ausübung der durch dieses Studium bedingten Berufszweige für in körperlicher und geistiger Beziehung für völlig ungeeignet.»1 Im Jahr 1900 gab es in der Schweiz erst 26 Ärztinnen, 1928, im Jahr der ersten SAFFA (Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit), waren von den rund 3300 in der Schweiz praktizierenden Ärzten 128 Frauen, knapp 3,9 Prozent. In den 1930er-Jahren meldete sich gar eine – allerdings einsame – Stimme in der «Schweizer Ärztezeitung», die Frauen seien vom Medizinstudium auszuschliessen und zum Pflegeberuf hinzuführen, um die Konkurrenz unter Ärzten abzuschwächen.
Der stille Held dieser Biografie ist Maries Vater Julius David Vögtlin. Ohne die Unterstützung dieses konservativen Theologen hätte sie nie ihren Weg gehen können. Er verdient umso mehr Bewunderung, als er persönlich ein Gegner des Frauenstudiums war und aus reiner Liebe zu seiner Tochter handelte. Mutig setzte er sich über die Vorurteile seiner Umgebung hinweg. Nicht nur vertraute er seiner Tochter, er war bereit, für ihre Ausbildung ein halbes Vermögen zu investieren. Die Familienkonstellation erwies sich für Marie ebenfalls als günstig: Die ältere Schwester Anna war bereit, dem verwitweten Vater den Haushalt zu führen. Da der Bruder als Kleinkind gestorben war, standen finanzielle Mittel für eine Ausbildung der Tochter zur Verfügung.
Wäre Marie ein berühmter Staatsmann gewesen, hätten öffentliche Amtsstellen rechtzeitig ihre Dokumente gesammelt und archiviert. Bei Privatpersonen ist die Überlieferung mehr oder weniger zufällig. Kurz nach Maries Tod verfasste die Schriftstellerin Johanna Siebel (1873–1939) eine Biografie. Das Buch erlebte sechs Auflagen, und der Verkauf von 12 000 Exemplaren ist ein Hinweis für das Ansehen, das Marie in jener Zeit genoss. Eine Reihe Briefe, die Siebel zitierte, sind heute verschollen. Bei jenen Briefen, die zum Beispiel im Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich erhalten sind, lässt sich Siebels Zuverlässigkeit überprüfen. Alle direkten Zitate sind korrekt, einzig Auslassungen werden nicht angegeben. In der Regel betreffen diese Auslassungen Drittpersonen. In dieser Biografie werden inzwischen verschollene Briefe, die Siebel wörtlich zitiert, als Quelle benutzt.
Johanna Siebel und die Autorinnen und Autoren der zahlreichen Nachrufe betonen, Marie Heim-Vögtlin sei eine wunderbare Hausfrau und keine emanzipierte Frauenrechtlerin gewesen. Sie verstanden es als Kompliment. Spätere Generationen übernahmen diese Wertung unkritisch und machten Marie die Häuslichkeit zum Vorwurf. Wer die Quellen mit heutiger Brille liest, entdeckt eine junge Frau, die das überlieferte Frauenbild radikal in Frage stellte. Dass Marie daneben eine tüchtige Hausfrau und fleissige Gärtnerin war, sollte niemanden erschrecken. Sie war ebenso eine weit überdurchschnittlich sportliche Bergsteigerin, die einige Professoren von der Gleichwertigkeit der Studentinnen ausgerechnet auf strengen Touren überzeugte, wo sie und ihre amerikanische Freundin mehr Ausdauer als die jungen Männer zeigten.
Von Anfang an war sich Marie bewusst, dass sie im Interesse der Frauen nicht scheitern durfte. Als sie die nachgeholte Maturitätsprüfung bestanden hatte, jubelte sie: «Ich bin doch so froh; niemals dachte ich, dass es so gehen würde; mehr froh noch wegen der Frauen im allgemeinen als wegen mir selbst.»2 Diese Vorbildfunktion war nicht immer einfach.
Maries Gatte, Albert Heim, war bedeutender Geologe und Kynologe und wichtiger Professor am Polytechnikum (ab 1911 Eidgenössische Technische Hochschule ETH). Die Familie überliess seinen und den Nachlass des Sohnes Arnold der ETH. In diesen Nachlässen befinden sich Dokumente, die sich direkt auf Marie Heim-Vögtlin beziehen. Andere Papiere sind indirekt mit ihr verknüpft, wie die betont wissenschaftliche Chronik der Hochzeitsreise oder das Tagebuch, das der Vater über seinen kleinen Sohn Arnold verfasste und das einen Einblick in Alberts Gemütsleben erlaubt. Im Medizinhistorischen Institut der Universität Zürich sind vor allem Dokumente aus der Studienzeit verfügbar.
Mehr noch als heute lebten die Menschen im 19. Jahrhundert in einem engmaschigen Netz. Auf kleinem Raum wohnte man nahe beieinander, so dass es kaum private Rückzugsmöglichkeiten gab. Innerhalb der Familie besuchte man sich regelmässig oder pflegte fortwährend schriftlichen Kontakt. Marie schrieb beispielsweise ihrer Schwester Anna jede Woche einen Brief. Diese Korrespondenz ist zum grössten Teil verloren, weshalb die Persönlichkeit Anna Vögtlins blass bleiben muss. Von Maries Vater ist kein einziges privates Schriftstück überliefert.
Lauter tüchtige Hausfrauen: Die Schwestern Roth aus Lenzburg, später Elise Ringier-Roth und Emilia Louise Tobler-Roth, Trogen, waren mit Marie befreundet. Im Album für Arnold gibt es immer wieder knappe Hinweise auf Begegnungen. Marie, zweite von links, sitzt im Vordergrund.
Freundinnen waren wichtige Vertraute. Glücklicherweise schrieb Maries Jugendfreundin Marie Ritter aus Schwanden ihre Lebenserinnerungen auf, die einen ausgezeichneten Einblick in das Leben einer unverheirateten, hochintelligenten Frau ihrer Epoche erlauben. Hätte Marie keine Gelegenheit zum Studium gehabt, wäre ihr Leben vielleicht in ähnlichen Bahnen verlaufen. – Für die historische Überlieferung wirkte sich der frühe Tod von Maries amerikanischer Studienfreundin Susan Dimock ebenfalls günstig aus. Die geschockten Freunde sammelten Erinnerungen und veröffentlichten sie als «Memoir», das Einblicke in Studien- und Arbeitsbedingungen jener Zeit gibt.
Andere Freundinnen Maries kennen wir höchstens mit Namen. So gab es mehrere Schwestern Roth aus Lenzburg, die gemäss Alberts Kindertagebuch als «Frau Tobler-Roth oder Frau Ringier-Roth» zu Besuch kamen, aber weiter nicht fassbar sind.
Verschiedene Männer spielten in Maries Leben eine grosse Rolle. Mit ihrem Vater muss sie zutiefst verbunden gewesen sein. Ihr erster Verlobter, Friedrich Erismann, öffnete ihr den Blick auf eine grössere Welt. Als er sie verliess, um Nadejda Suslova, die erste russische Ärztin zu heiraten, fand Marie nach einer schweren Krise die Kraft, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Ihr Ehemann Albert Heim liebte seine Frau und legte ihr keine Steine in den Weg. Seine eigene Berufstätigkeit nahm ihn allerdings voll in Beschlag, sodass Marie in vielem auf sich selbst gestellt war. Eine enge, teils recht konfliktreiche Beziehung verband sie mit ihrem erwachsenen Sohn Arnold. Ihre Freundschaft mit dem Vater ihres Pflegekindes, Johannes Hundhausen, lässt sich nicht mehr dokumentieren, war aber zeitweise sehr herzlich.3
Maries Leben spielte sich vor dem Hintergrund eines rasanten politischen und gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen und technischen Wandels ab. In ihrem Leben spiegelt sich immer wieder diese bewegte Epoche. Marie war zwei Jahre alt, als die erste Eisenbahn zwischen Zürich und Baden den Betrieb aufnahm. Am 3. Oktober 1898 überquerte ihr Gatte im Ballon «Wega» die Alpen, vier Jahre nach ihrem Tod kaufte sich Sohn Arnold 1920 ein Flugzeug. Marie erlebte die Einführung der Elektrizität und des Telefons. Sie war drei Jahre alt, als der Bundesstaat gegründet wurde, als Studentin verfolgte sie 1871 die Entstehung des deutschen Kaiserreichs mit, sie starb mitten im Ersten Weltkrieg, der den Untergang des alten Europa einläutete.
Als Marie zum Studium nach Zürich kam, zählte die Stadt rund 20 000 Einwohner. Im Jahr von Arnolds Geburt, 1882, verkehrte in Zürich das erste Rösslitram. Mit der Eingemeindung der umliegenden Dörfer – auch Maries Wohnort Hottingen gehörte ab dem 1. Januar 1893 zur Stadt – schnellte die Einwohnerzahl auf 121 057. 1901 lebten bereits 150 000 Menschen in Zürich, 1912 über 200 000.
Solche Veränderungen kannten nicht nur Gewinnerinnen und Gewinner. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts taten sich Frauen zusammen, um den Menschen auf der Schattenseite des Lebens beizustehen. Marie Heim-Vögtlin nahm ihre soziale Verantwortung wahr und engagierte sich nicht nur in privater Wohltätigkeit, sondern auch in der Sittlichkeits- und Abstinenzbewegung. Als eine der Gründerinnen der Schweizerischen Pflegerinnenschule schuf sie ein Frauenwerk, das rund 100 Jahre Bestand hatte. Die Privilegien, die sie dank ihrer akademischen Ausbildung genoss, empfand sie – ganz im Geist des 19. Jahrhunderts – stets als Verpflichtung.
Das Kind vom Land – Leben in Bözen
«Ich erlebte meine ganze Kindheit auf dem Lande. Da ich in dem einsamen Dorfe Bözen keine Gespielen hatte, so suchte ich meine Vergnügungen in Feld und Wald und es ist wohl dieser Umstand, dem ich meine spätere Liebe zu Naturwissenschaften verdanke. Die Freude meiner frühesten Kinderjahre, zu denen meine Erinnerung zurück reicht, waren Blumen und Wurzeln auf Wiesen und Feldern zu Hausmitteln zu suchen; ich sammelte Schneckenschalen von allen Arten, erzog Raupen zu Schmetterlingen, beobachtete die verschiedenen Arten von Ameisen und brachte ihnen allerlei Futter […].»1 Mit dieser Beschreibung einer idyllischen Welt beginnt die 25-jährige Studentin Marie Vögtlin einen Lebenslauf, den sie für die Aargauer Erziehungsdirektion schrieb.
Am Zürcher Schreibtisch erinnert sich die junge Frau 1870 an die Abgeschiedenheit ihres Dorfes, an das Fehlen seelenverwandter Freundinnen, an beglückende Naturerlebnisse, an erste wissenschaftliche Neugier. Dann kokettiert sie mit Wissen, das sie sich wohl vor nicht allzu langer Zeit erworben hatte: «Die Glanzpunkte meiner Tage waren die Entdeckungsreisen auf die benachbarten Hügel, wo ich in glühender Sonne stundenlang umher kroch, um die im Jura häufig versteinert vorkommenden Ammonites und die gegliederten Stiele des Haarstern Cuerium liliformis zu suchen.»2 Maries Liebe zur Botanik begleitete sie ein Leben lang, wie Briefe aus der Studienzeit und Fotos der alten Frau belegen.
An ihre Schwester Anna Vögtlin schrieb Marie während Jahrzehnten jede Woche einen Brief, die Korrespondenz ist grösstenteils verschollen. Anna besorgte den Haushalt ihres verwitweten Vaters bis zu dessen Tod.
Marie Vögtlin kam als jüngstes Kind ihrer Familie am 7. Oktober 1845 im Pfarrhaus des «einsamen Dorfes» Bözen zur Welt. Das Aargauer Strassendorf Bözen liegt westlich des eigentlichen Bözbergs, damals die kürzeste Landverbindung von Zürich nach Basel. Bis heute sind in der Nähe Spuren der alten Römerstrasse sichtbar; völlig im Abseits, wie es dem kleinen Mädchen schien, lag Bözen also nicht.
Die Volkszählung von 1850 zeichnet ein buntes Bild von Maries Umfeld. Die Statistik führt neben der fünfjährigen Marie ihre Mutter Henriette Vögtlin-Benker (*1802), den Vater, Pfarrer Julius David Vögtlin (*1813), die zwei Jahre ältere Schwester Anna (*1843) sowie die Dienstmagd Elisabeth Brändli (*1799) als Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses auf – für damalige Verhältnisse eine ausgesprochene Kleinstfamilie. Der ältere Bruder Julius (1842–1843) war im Alter von knapp einem Jahr gestorben und bleibt unerwähnt. – Das Pfarrhaus selbst wurde 1824/25 als schlichtes, klassizistisches Gebäude errichtet. An der Rückseite befindet sich eine Holzlaube über vier dorischen Eichen-Säulen.3 In Maries Kindheit war die Liegenschaft recht modern, aus heutiger Sicht wirkt sie romantisch und bescheiden.
Am Stichtag der Volkszählung hatte die Gemeinde 539 Einwohner, die vornehmlich in Landwirtschaft und Rebbau – rund 50 Hektaren – tätig waren. Während Maries Kindheit besserten zahlreiche Haushalte ihr mageres Einkommen mit dem Zurichten von Stroh für die Strohindustrie auf.4
In Bözen lebten der Gemeindeschreiber, je ein Wagner, Krämer, Küfer und Steinhauer, zudem jeweils ein Drechsler, Wegknecht, Stationsadjunkt, Bäcker und Schmied. Es gab je zwei Metzger, Zimmerleute und Schreiner, Näherinnen und Maurer, ebenfalls zwei Wirte und zwei Postillione (Postkutscher). Später wurde Marie Zeugin des Eisenbahnbooms, doch während ihrer Kindheit bedeutete die Pferdepost Mobilität.
Im Pfarrhaus in Bözen kam Marie 1845 zur Welt und verbrachte da ihre Kindheit.
Die Schneider waren zu viert, man zählte diverse Dienstmägde, Dienstknechte sowie Lumpensammler-Landarbeiter. Der Pfarrer mit seinem Siegrist und schliesslich ein Johann Heuberger (*1764), der als Beruf «Capitalist» angab, waren vermutlich zusammen mit dem «medicinischen Doktor», dem 1817 geborenen Johann Gottlieb Märk, so etwas wie die Prominenz des Ortes. – Im Dorf lebten auch einige Fremde: Vier Dienstknechte, zwei Dienstmägde und die beiden Postillione stammten aus dem benachbarten Grossherzogtum Baden. – Am Stichtag hielten sich andererseits 20 Bözener im Ausland auf, 19 lebten in Amerika und einer in Frankreich.5
Die zwei Schullehrer betreuten jeder eine Abteilung, die Unter- und die Oberstufe. 1825 hatte Bözen diese Aufteilung eingeführt und für die Oberstufe Johannes Kistler eingestellt. Dieser war einer der ersten Aargauer Schulmeister, der eine fachliche Ausbildung im damals neu gegründeten Lehrerseminar besucht hatte. Seine Klasse zählte jeweils zwischen 60 und 70 Kinder. Zu Beginn seiner Laufbahn erhielt er eine Entschädigung von jährlich 130 Franken. Über fünf Jahrzehnte prägte er das Schulleben, erst am 28. Mai 1878 ging er in Pension.6
Unter mühseligen Bedingungen produzierten Kleinbauern auf winzigen Flächen für den Eigenbedarf. Im Dorf gab es zudem eine Anzahl Rebberge. 1866, zwei Jahre nachdem Marie mit ihrer Familie Bözen verlassen hatte, fand eine Viehzählung statt. Sie erlaubt einen Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse. In Bözen lebten im Stichjahr 1866 82 Kühe, 99 Schweine und 85 Ziegen, jemand besass zwei Schafe, keiner der Bauern hatte ein Pferd.7 Der Charakter dieses Viehbestands deutet auf ein armes Dorf, man zählte mehr Ziegen als Kühe, die Milch diente in erster Linie der Selbstversorgung. – Im April 1902 machte Marie mit ihren Kindern einen Ausflug nach Bözen und zeigte ihnen ihr Geburtshaus und «Grossdättes» Kirche. Ihr Sohn Arnold hielt das Ereignis fotografisch fest: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts holten die Frauen Wasser am Dorfbrunnen.8
Im April 1902 fotografierte Maries Sohn Arnold auf einem Familienausflug den Dorfbrunnen in Bözen. Noch immer holten die Frauen hier das Wasser.
Die kleine Pfarrerstochter ging nicht nur in der freien Natur auf Entdeckungsreise, sondern half – wie die Bauernkinder ihrer Umgebung – tüchtig mit: «Daneben arbeitete ich viel auf dem Feld mit unsern Tagelöhnern, und mein grösster Stolz war, wenn ich ebenso schwer geladene Kartoffelkörbe, ebenso grosse Garben wie unsere Nachbarskinder nach Hause tragen konnte.»9 Ihre Biografin Johanna Siebel berichtet über Maries Kindheit: «Die kleinen Mädchen wurden streng gehalten, mussten stundenlang nähen und stricken, und für geringfügige Vergehen wurden sie mit Freiheitsstrafen bedacht.»10 In Maries Lebenslauf für die Aargauer Regierung sind Handarbeiten kein Thema. Für eine junge Frau waren solche Fertigkeiten selbstverständlich und, im Gegensatz zu den Naturbeobachtungen, für Maries angestrebtes Berufsziel unerheblich.
Die sonnige Erinnerung an das Bözen ihrer Kindheit steht in merkwürdigem Gegensatz zu tragischen Vorfällen, die in jenen Jahren den Kanton Aargau und die künftige Schweiz erschütterten. In Maries Geburtsjahr schlossen sich die katholischen Kantone zum Sonderbund zusammen – ein Entscheid, der 1847 den bislang letzten innerschweizerischen Bürgerkrieg auslöste. Erst nach dem Sieg über die «Sonderbündler» war ein moderner Bundesstaat möglich, gab es Platz für die neue Schweiz. Ob die dreijährige Marie «hinter den sieben Bergen» etwas davon mitbekam? Ihre etwas ältere Freundin Marie Ritter (1842–1933) beschrieb in ihren Lebenserinnerungen den Abmarsch der Soldaten in ihren farbigen Uniformen.
Doch zurück ins Jahr 1845. Damals vernichtete eine Pilzkrankheit, die Braunfäule, europaweit die Kartoffelernte. Innert weniger Wochen wurden grüne Felder braun, die Erdäpfel schrumpften schon im Boden und waren ungeniessbar. – Bereits seit rund hundert Jahren waren Kartoffeln im Aargau ein Hauptnahrungsmittel der Kleinbauern und Kleinhandwerker. Deshalb hatte die Kartoffelfäule vor allem für die arme Bevölkerung verheerende Folgen. In zahlreichen Gemeinden mussten Sparsuppenanstalten die Menschen vor Hunger und Krankheit bewahren. Diese Katastrophe läutete eine Auswanderungswelle ein. Die Missernte von 1850 war ein weiterer Rückschlag für arme Dorfbewohner. 1854, auf dem Höhepunkt der Auswanderung, suchten 41 Bözener ihr Glück in Übersee.11
Wie erwähnt, war Marie im Lauf ihres Lebens Zeugin, wie die Schweizer Industrie aufblühte und wie ihre Heimat zum Eisenbahnland wurde. 1847 fuhr die sogenannte Spanischbrötlibahn zwischen Baden und Zürich. Während ihrer Kindheit stritt man sich heftig über die Frage des Verlaufs der Bahnlinien. Grosse wirtschaftliche und lokale Interessen standen auf dem Spiel. Durch welche Gegenden sollte beispielsweise die Bahnlinie von Baden in Richtung Basel führen? Die Zürcher «Handels- und Gewerbezeitung» kommentierte: «Der Plan [einer Bözbergbahn] erhält eine europäische Wichtigkeit. Der diametrale Handelsweg über die Landenge von Suez nach Ostindien kann für den Westen Europas keine kürzere Route einschlagen.»12
Maries Landschaft als Teil der grossen Welt – ein Punkt auf der Landkarte zwischen Paris und dem 1869 eröffneten Suez-Kanal? Maries Bözener Träume waren handfester. In jenem Jahr 1869 schrieb die Studentin aus Zürich an ihren Vater, sie habe von der Pfarrwahl in Bözen geträumt: «Am Himmelsfahrtstag früh träumte ich so lebhaft, ich war in der Kirche von Bözen und sah, wie man die Stimmen zählte und Herr Keller hatte die Mehrheit für sich.»13 Jakob Keller wurde tatsächlich gewählt.
Während ihres ganzen Lebens blieb das Dorf in Maries Briefen gegenwärtig. Wenige Wochen vor ihrem Tod bat sie ihre Schwester Anna um Hilfe: «Wo muss man dies Jahr Härdöpfel hernehmen? […] Wie steht es wohl damit in Bözen? Haben sie gute und übrig zum Verkaufen? Ich würde ja den höchsten Preis bezahlen. Und dann nimmt mich wunder, wie es dort dem Chüeli geht.»14 Wie in ihrem Geburtsjahr waren auch 1916 die Kartoffeln im Boden verfault.