Kitabı oku: «Marie Heim-Vögtlin - Die erste Schweizer Ärztin (1845-1916)», sayfa 5
Das Brugger Kinderspital und seine Gründerin «Tante Rahn»
«Durch die Pflege von kranken Familiengliedern lernte ich diese Beschäftigung lieben, und als ich während einiger Zeit in unserem kleinen Kinderspital die Stelle der Hausmutter versah, und dabei Wunden versorgen und innerliche Krankheiten beobachten lernte, überzeugte ich mich, dass das Gebiet der Sorge für Kranke meine Bestimmung sei. Anfänglich dachte ich blos an Krankenpflege, aber bald entstand in mir ein so grosses Bedürfnis nach medicinischem Wissen, dass ich beschloss, alle meine Kräfte darauf zu verwenden, um dahin zu gelangen, die medicinische Wissenschaft in ihrer ganzen Ausdehnung zu studiren, mit dem Ziel, später die ärztliche Behandlung von Frauen und Kindern übernehmen zu können.» 1
Die Erfahrungen im Kinderspital mit seinen schwer kranken kleinen Patienten prägten Maries Weltbild. Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, war nicht die Frucht einer romantischen Laune, sondern entwickelte sich aus der praktischen Arbeit am Krankenbett. Weshalb sie sich nicht mit Krankenpflege begnügen wollte, wie es ihre Zeitgenossinnen getan hätten? Vielleicht spielte der elende Zustand ihrer Schützlinge eine gewisse Rolle. Wirkliche Hilfe setzte gründliches medizinisches Wissen voraus.
In den schwierigen Monaten vor Beginn des Studiums (Frühling/Sommer 1868) fand Marie Trost im Umgang mit den kranken Kindern. Damals ging sie davon aus, dass sie nie eine eigene Familie haben würde: «Im Kinderspital geht mir das Herz am meisten auf, wo ich mich der Liebe der Kinder freuen und auch sie hin und wieder glücklich machen kann. Wenn ich so bei den Kindern bin, so kann ich mich oft kaum mehr von ihnen trennen, sondern möchte sie ganz alleine für mich haben, damit sie die unendliche Lücke in meinem Herzen füllen könnten.»2
Emotional blieb Marie den kleinen Patienten im Spital auch als Studentin verbunden. Aus ihren ersten Semesterferien schrieb sie: «Weihnachtsabend habe ich bei den lieben Spitälikindern zugebracht; ihr Willkommen hat mein Herz erfreut; ich weiss nicht, wie es kommt, dass sie mich so sehr lieben, während ich doch nichts für sie tue. Ich kleide auf Neujahr eine grosse Puppe für sie; die muss dann jedenfalls Marie heissen.»3
Im «Aargauischen Hausfreund» erschien 1867 ein erster Jahresbericht über die Arbeit des Kinderspitals. Der medizinische Teil stammte aus der Feder des Hausarztes Rudolf Urech, mit dem sich Marie immer wieder austauschte. Er gab Auskunft über die Krankheiten der betreuten Patienten: «Knochenfrass4 und Hüftgelenkvereiterung, Entzündung der Hals- und Rückenwirbel, Skrofuloseentzündung beider Augen und chronische Bronchitis, Lungenentzündung, Knochenhautentzündung und Beinfrass der linken Hand und beider Füsse, Herzübel und Wassersucht, Knochenschwamm, von Ungeziefer bevölkerter Ausschlag und fressendes Geschwür an der Backe (lupus), Beinhautentzündung und Knochenbrand.»5 Die beschriebenen Knochen, Gelenke, die Haut sowie die Lymphknoten waren vermutlich alle von Tuberkulose befallen, eine damals weit verbreitete und gefürchtete Krankheit. Zwei Mädchen konnte nicht mehr geholfen werden, sie starben.
Gründerin des Kinderspitals war Maries Tante Rosa Rahn-Vögtlin (später Urech-Vögtlin, 1820–1897). Rosa Vögtlin, Julius Davids jüngere und einzige Schwester, war beim Tod ihres Vaters knapp elf Jahre alt. Mit der Mutter zog sie von Aarau zurück nach Brugg. Ihre beiden Brüder waren inzwischen Universitätsstudenten und lebten auswärts. Über ihre Kindheit und Ausbildung ist nichts bekannt. 1841 heiratete sie den Zürcher Juristen Johann David Rahn (1811–1853),6 der in ihr, gemäss Stammbuch der Familie Rahn, eine «gleichgesinnte Lebensgefährtin»7 fand.
Durch ihre Heirat wurde Rosa Vögtlin Teil einer bedeutenden, gelehrten Zürcher Familie, die zutiefst traditionellen Werten verpflichtet war. Die Rahns sind ein altes Zunftmeister- und Ratsherrengeschlecht. Rosas Schwiegervater, Dr. med. David Rahn (1769–1848), war bis zur Gründung der Universität Zürich «Archiater», das heisst Staatsarzt beziehungsweise der höchste Zürcher Arzt. Nach seinem Rücktritt aus dem Berufsleben bekleidete er weiterhin verschiedene wichtige Ämter. Bis wenige Wochen vor seinem Tod präsidierte er beispielsweise die Vorsteherschaft der Höheren Töchterschule.
Maries «Tante Rahn», Rosa Urech-(Rahn-)Vögtlin (1820–1898) gründete in Brugg das erste Aargauer Kinderspital, das 1866 seinen Betrieb aufnahm. Sie war eine begabte Organisatorin, die es verstand, für die gute Sache immer wieder die nötigen Mittel aufzutreiben.
Rosa zog in eine Stadt, in der die politischen Wogen hochgingen. Die rasante Modernisierung, die sich die liberale Zürcher Regierung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, machte auch vor der jungen Universität nicht halt. So hatte der Erziehungsrat den rationalistischen Bibelinterpreten David Friedrich Strauss (1808–1874) als Professor für Neues Testament berufen. Konservativen Christen – darunter Vertretern der Familie Rahn – missfiel dessen bibelferne Auffassung des Christentums. Auf der Zürcher Landschaft gärte es seit längerem, denn auch die Wirtschaft befand sich im Umbruch, die von der Obrigkeit bestimmte Zwangsmodernisierung verunsicherte viele Menschen. Die Ernennung des Theologen löste deshalb eine breite Protestbewegung aus. Im sogenannten Zürich-Putsch vom 6. September 1839 drang die unzufriedene Landbevölkerung in die Stadt ein, bürgerkriegsähnliche Zustände wurden knapp verhindert. Strauss kam nie nach Zürich, sondern wurde gleich in Pension geschickt.
Rosas Schwager, Hans Conrad Rahn (1802–1881), war wie sein Vater Arzt. In diesen unruhigen Tagen spielte er eine aktive Rolle, was sich unmittelbar auf die Laufbahn seines jüngsten Bruders – Rosas Gatten – auswirkte. Für kurze Zeit hatten die Konservativen das Sagen. Hans Conrad Rahn zog in den Grossen Rat und in den Erziehungsrat ein, wo er für die Wahl einiger bedeutender Universitätsprofessoren verantwortlich war. Getreu seiner Überzeugung, ein Kanton habe sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen einzumischen, liess er einige Jahre später – im März 1845 – den Luzerner Schultheiss vor dem zweiten liberalen Freischarenzug warnen. Auf seine Weise bezog er – konservativ – Stellung in der Sonderbundsfrage und mischte diskret doch ein bisschen mit.
Rosas Ehemann Johann David Rahn hatte in Göttingen, Berlin und Bonn Jurisprudenz studiert. Nach dem Zürich-Putsch wurde auch er in den Grossen Rat gewählt und zudem zum Staatsanwalt des Kantons Zürich befördert. Als die Liberalen 1849 an die Macht zurückkehrten, verlor er diese Stellung wieder. Rahns juristische Fähigkeiten waren unbestritten. So kam er 1851 ans Bezirksgericht, das er bald präsidierte. Das Rahn’sche Stammbuch gibt einen Überblick über sein soziales Engagement. Johann David Rahn kümmerte sich um die Errichtung von Sonntagslesesälen für Arbeiter und Lehrlinge, schuf den Verein für entlassene Sträflinge und gründete mit Freunden die Rettungsanstalt Friedheim bei Bubikon.8 Im August 1847 nahm dieses Heim für arme verwaiste und verwahrloste Kinder seinen Betrieb mit 18 Zöglingen auf.
Am 24. September 1853 starb Johann David Rahn im Alter von erst 42 Jahren ganz unerwartet – vielleicht an Typhus. «Nervenfieber», die offizielle Diagnose, existiert heute nicht mehr als anerkannte Krankheit. Irgendwann kehrte die junge Witwe nach Brugg zu ihrer Mutter zurück. Den Kontakt mit ihrer Schwiegerfamilie pflegte sie weiter. Während ihres Studiums übermittelte Marie immer wieder Grüsse von Onkel Doktor (Hans Conrad Rahn) aus Zürich.
Mit ihrem Unternehmen suchte Rosa Rahn-Vögtlin nach einer Lösung für eine eigentliche Versorgungslücke. Generell lag das Gesundheitswesen im Argen. Die Aargauer Kantonalen Krankenanstalten befanden sich im ehemaligen Kloster Königsfelden. Diese historischen Gebäude genügten modernen Anforderungen in keiner Weise. Rosas Berater und künftiger zweiter Gatte, der Arzt Rudolf Urech, hatte während Jahren in Königsfelden gewirkt und war mit den prekären Verhältnissen bestens vertraut. In einer Schrift beklagte er sich bei den Behörden «über die ganz ungenügenden Räumlichkeiten, über die dadurch bedingte Erschwerung und die Unmöglichkeit einer richtigen Behandlung.»9
Kinder hatten noch weniger Zugang zu medizinischer Versorgung als Erwachsene. Aus Platzgründen wurden sie in Königsfelden kaum aufgenommen. Hatte Rosa den Notstand erkannt, und sann sie auf Abhilfe, oder stand Urech hinter der Idee des Kinderkrankenhauses, wie gewisse Leute glauben wollten? Wer immer es war, Rosa nahm die Sache an die Hand und verfasste gemeinsam mit einflussreichen Freunden verschiedene Aufrufe, um das nötige Geld für das wohltätige Unternehmen zu sammeln.
In einem gemieteten Haus nahm das Kinderspital am 19. Juli 1866 seinen Betrieb auf. Rosa führte es zusammen mit einer Krankenschwester und einer Spitalmagd. Für bestimmte Brugger Kreise soll es anstössig gewesen sein, dass eine Frau ein solches Werk ins Leben rief.10 Immerhin tat sie es nicht «zum Zwecke des Erwerbs, sondern aus Nächstenliebe und Erbarmen gegenüber leidenden Menschenkindern.»11
Als das Spital funktionierte, wendete sich das Blatt. Zahlreiche Brugger steuerten Naturalgaben wie Holz, Mobiliar oder Seife bei. Die Gemeinde bestimmte eine Weihnachtsgabe von 138.36 Franken, sieben Bäcker taten sich zusammen und spendeten 80 Franken, statt ihren Kunden Neujahrsgeschenke zu überreichen. Fräulein Elise Stäblin richtete ein Legat an «den hiesigen von Frau Rahn-Vögtlin gestifteten Kinderspital zur beliebigen Verwendung» aus. Aus dieser Formulierung geht klar hervor, dass Rosa tatsächlich als Stifterin wahrgenommen wurde. Selbst die Regierung in Aarau unterstützte die Einrichtung mit 200 Franken, was im Grossen Rat zu einem Nachspiel führte. Die Prüfungskommission beanstandete, dass der Regierungsrat das Geld seiner Kompetenzsumme entnommen habe, die ausschliesslich ausserordentlichen Aufwendungen vorbehalten war.
Zu Beginn konnten acht Kinder betreut werden, weitere Anmeldungen wurden aus Platzmangel nicht berücksichtigt. Bereits dachte die Leiterin über eine Erweiterung nach. Einen Spendenaufruf vom August 1867 unterzeichneten neben anderen wichtigen Bruggern Rosas Bruder Julius sowie Rudolf Urech.
Der Brugger Mediziner Rudolf Urech12 (1815–1872), der Rosa seit der Gründung mit Rat und Tat zur Seite stand, betreute die Institution auch als Hausarzt. Als die beiden ihre Zusammenarbeit aufnahmen, hatte Urech bereits eine bewegte Karriere hinter sich. 1847–1862 war er Spitalarzt in Königsfelden gewesen, dann eröffnete er eine eigene Praxis in Brugg. Gleichzeitig sass er im Grossen Rat. 1862–1866 war er Regierungsrat, eine Aufgabe, die er nicht gesucht hatte und die er nach einer Amtszeit aufgab, um in seinen medizinischen Beruf zurückzukehren. 1868 wurde er in den Nationalrat gewählt.
Als Rudolf Urechs zweite Frau 1866 starb, lebten noch drei seiner Söhne zu Hause, Rosa und Urech dachten an Heirat. Wegen der angeschlagenen Gesundheit des Bräutigams zögerte sich eine eventuelle Hochzeit immer wieder hinaus. Marie verfolgte die Geschichte mit grosser Anteilnahme. «Tante Rahn ist immer noch Tante Rahn, und denke, Hr. Dr. Urech ist letzte Woche sehr krank gewesen, so dass man ernstlich besorgt war. Ich denke mir immer wie merkwürdig es wäre, wenn er sterben müsste und Tante wieder frei würde. Es thäte mir aber sehr leid und Tante würde erst dann fühlen wie gross seine Liebe war», kommentierte Marie im November 1868.13 Im Dezember schrieb sie wiederum an ihre Freundin: «Herr Dr. Urech ist immer noch nicht gesund, jede Erschütterung macht ihm Schwindel, diese Krankheit hat natürlich nun wieder alles in die Länge gezogen.» Und im Januar 1869: «Herr Dr. Urech ist an und für sich schon viel besser, aber die Schwindeldisposition ist immer da und auch hat er Ohrengeschichten; er glaubt, das eine Trommelfell sei zerrissen. Also ist der Bräutigam noch als solcher ins neue Jahr geschlittert; vor 14 Tagen sei von Heirathung keine Rede; nun vermuthlich ist der Januar wieder hinausgeschoben – du begreifst, dass ich unter solchen Umständen nicht blos nicht mehr fragen, sondern über die Sache auch nicht mehr nachdenken möchte – es kommt mir sonst in die Fingerspitzen.»14
Schliesslich wagten die beiden 1869 den Schritt, doch war das Glück nur von kurzer Dauer. Rudolf Urech starb 1872 bei einem ärztlichen Einsatz, nachdem er eine 3½-stündige Amputation abgeschlossen hatte. Rosa liquidierte das Erbe und baute sich als Alterssitz das Wohnhaus, in dem sie bis zu ihrem Tod 1897 lebte.
Das Kinderspital dagegen verblieb vorläufig in einem Mietshaus. Dies führte immer wieder zu prekären Situationen. Auf die Dauer brauchte das Spital für seine Schützlinge ein eigenes Gebäude. Erneut wandte sich Rosa an die Öffentlichkeit und bat um finanzielle Hilfe. Auf einem eigenen Grundstück und auf eigenes Risiko entstand 1881 endlich ein Haus für zwölf kleine Patienten. «Darin werden kranke Kinder aus mittleren und ärmeren Volksklassen gepflegt, namentlich solche, die langwierige Leiden haben oder die schwieriger Operationen bedürfen.»15 Für einen Verpflegungstag bezahlten die Kinder pauschal 50 Rappen.
1894 übertrug die 74-jährige Stifterin die Spitalleitung einer Kommission. Der Stiftungsrat ernannte seinerseits zusätzlich ein «Damenkomitee», in dem bis zu Rosas Tod Marie Rahn, ihre Zürcher Nichte, einen Sitz hatte. Anna Vögtlin, die Nichte aus Brugg, löste sie ab und war von 1899 bis 1922 Mitglied.
Rosas Stiefkinder waren alle vor ihr verstorben. «Sie überlebte ihre Brüder, hinterliess allein ihre Nichten Anna Vögtlin und Maria Heim-Vögtlin, von ihrer Anverwandtschaft aus Zürich besonders die Nichte Maria», hiess es in der Todesanzeige. Der nicht dem Kinderspital übermachte Nachlass ging an Anna Vögtlin und Marie Heim-Vögtlin. Nach dem damaligen Stand des Rechts musste sich Marie von ihrem Ehemann Albert Heim vertreten lassen. Die Erben verkauften Rosas Wohnhaus. Dem Spital überliessen sie die vorhandenen Schuldbriefe, Obligationen und Sparhefte im Wert von 53 000 Franken.
Obschon 1887 in Aarau das neue Kantonsspital mit einer Kinderabteilung eröffnet worden war, hatte die Brugger Institution weiterhin Bestand. Eine Spitalmagd und zwei Diakonissen aus Riehen führten das Haus. Eine der Diakonissen war gleichzeitig die Gemeindeschwester. Da die Kapitalbasis längerfristig nicht ausreichte, brauchte das Unternehmen ein neues juristisches Kleid. 1905 entstand deshalb eine gemeinnützige Stiftung unter dem Namen «Urech’scher Kinderspital Brugg» – ein ehrendes Denkmal für die Gründerin. Im 20. Jahrhundert wandelte sich das Krankenhauswesen von Grund auf, Tante Rahns Gründung wurde zum «Reformierten Kinderheim Brugg.»
Als Marie sich in Zürich mit ihrem ehemaligen Verlobten Fritz Erismann treffen wollte, musste sie von Tante Rahn äusserst heftige Kritik einstecken. Marie berichtete ihrem Vater: «[…] vielleicht weisst du es zwar schon, dass Tante Rahn mir letzte Woche einen Brief geschrieben hat, der mich wirklich am ganzen Körper zittern machte, der mich furchtbar betrübt hat. Es ist mir unbegreiflich, wie eine Christin so mit solcher Härte und grenzenloser Rücksichtslosigkeit sprechen kann. Ohne auch nur von Ferne zu zögern, alle Gefühle seines Nebenmenschen anzugreifen, bitter zu verletzen. Ich habe gegen Tante durchaus keinen Groll gefühlt, weil ich überzeugt war, dass sie das Rechte zu thun glaubt, aber es hat mich unendlich betrübt, dass sie mit mir, dass sie überhaupt gegen einen Menschen so verfahren könne.»16
Dass die Tante um den guten Ruf der Nichte besorgt war, ist nachvollziehbar. Aber auch mit Maries Entscheid, Ärztin zu werden, tat sie sich trotz ihrem erfüllten Leben – oder gerade deswegen? – schwer. Selbst nachdem ihre Nichte bereits über ein Jahr mit Vergnügen an der Universität studiert hatte, unterliess sie Sticheleien gegen Maries Werdegang nicht. So unterstellte sie im Gespräch mit Marie einem ihrer Professoren (Biermer), er habe gesagt, das Gesetz betreffend Maturitätsprüfungen sei «eine Demonstration gegen die studierenden Frauen.» Ausgerechnet jener Professor war ein überzeugter Anwalt des Frauenstudiums, und es war Marie selbst, die mit ihren Freundinnen auf eine Gesetzesänderung hingewirkt hatte. Marie rief ihrem Vater in Erinnerung: «Zweitens hat sie ja zu Neujahr noch behauptet, ich meine und sage jetzt nur, ich sei glücklich in meiner neuen Lage, während jeder, der irgend unbefangen urtheilen will, gut genug sieht aus meiner ganzen geistigen Verfassung, dass alles für mich anders geworden ist […]. Dass sie es gut mit mir meint und mich in ihren Briefen sehr liebt, weiss ich und anerkenne ich vollständig.»17
Im Sinn ihrer Zeit hatte Rosa trotz viel Schwerem eigentlich eine weibliche Bilderbuchkarriere gemacht. Ihre beiden Ehemänner waren erfolgreiche, bedeutende Persönlichkeiten, beruflich herausragend, politisch und sozial engagiert, finanziell abgesichert. Im gemeinnützigen Bereich fand die Witwe eine Aufgabe, bei der sie ihre vielfältigen Talente unter Beweis stellen und echte Not lindern konnte. Anders als ihrem Bruder gelang es ihr allerdings nicht, über den konservativen Schatten zu springen.
Die Würfel fallen …
«Verzage nicht. Du hast ein schönes, weites Leben vor Dir, das Du gestalten kannst nach Deinem freien Willen, und Du wirst etwas schönes daraus machen. Ich weiss ja aus Erfahrung, dass ein doppelt gesegnetes Leben daraus werden kann.»1 Mit diesen Worten tröstete Marie ihren Sohn Arnold, nachdem seine Freundin einen anderen Mann geheiratet hatte.
Im Januar 1868 hielt sich Marie im Kurhaus Brestenberg auf, das Adolf Erismann, einem Onkel von Fritz gehörte. Von dort aus schrieb sie ihrem Vater über ihren Plan, Medizin zu studieren. Was sie nie zu hoffen gewagt hatte, traf ein: Ihr Vater gab sein Einverständnis. Selbst für einen jungen Mann wäre ein Medizinstudium eine Herausforderung gewesen. Im ganzen Kanton Aargau praktizierten zu jener Zeit keine hundert Ärzte! Marie berichtete ihrer Freundin Marie Ritter die aufregenden Neuigkeiten: «Wie soll ich es heute anfangen, Dir zu schreiben? Ich kann es fast nicht unternehmen, weil ich Dir so unendlich vieles sagen möchte, was ich ja niemals mit der kalten Feder tun kann – ich möchte bei Dir sein, o nur eine Stunde, wie wäre das für mich eine Wohltat!
Seit ich zum letzten Mal geschrieben, habe ich mehr durchlebt, als früher in zehn Jahren zusammen genommen, und ich kann kaum glauben, dass von diesem Jahr erst ein Monat vorbei sei. Immer ist es für mich der Anfang des Jahres, der in meinem Leben zum entscheidenden Moment wird. Marie, ich werde voraussichtlich mein Ziel erreichen! Ich werde Medizin studieren, irgendwo ein Staatsexamen machen und dann das Leben antreten, wonach meine heissesten Wünsche streben. Die letzte Woche war ich in Brestenberg; von dort aus habe ich schriftlich meinem Vater alles gesagt; ich habe ihm erklärt, wie es so hat kommen müssen, dass ich für keine Arbeit Lust und Mut habe als für diese. Als ich heimkam, zitternd vor Spannung, da erkannte ich mehr als je, wie gut, wie treu mein Vater an mir gehandelt, wie sehr er mich liebt. Er gibt mir seinen Segen zu meiner Arbeit, er lässt mich gewähren, mit grossen Sorgen allerdings, aber er versteht, dass dies für mich der allein richtige Weg sei. Und ich werde nun nicht einmal grosse Umwege einschlagen müssen, um zu meinem Ziel zu gelangen – ich kann ihm direkt entgegengehen. Wahrscheinlich bleibe ich nun bis zum Herbst noch zu Hause, um unter meines gütigen Onkels Doktors Leitung gründliche Vorstudien zu machen. Und nachher werde ich nach Zürich auf die Universität gehen.
O Marie, nicht wahr, Du freust Dich mit mir? Für mich war die Macht der Freude, die plötzliche Entladung der schweren Last so gewaltig, dass ich fast krank davon wurde, und mehrere Tage ganz betäubt war. Nach und nach komme ich nun zum Verständnis, wie gross die Erleichterung ist, und ich werde nun wieder zu leben anfangen.
Allerdings ein ernstes Leben, in welchem jede Minute mich erinnern wird an die grosse Verantwortlichkeit, die nun auf mir ruht. Denn wenn mein Weg auch ein schöner und lohnender ist, so ist er dennoch ein dorniger Weg, voller Schwierigkeiten. Aber keine davon ist unüberwindlich, ich will sie alle überwinden.» 2
Gerne wäre Marie gleich im Frühjahr losgezogen, doch damit war Julius nicht einverstanden. Ob er in einem Winkel seines Herzens noch hoffte, Marie könnte ihre Meinung ändern? Die Verwandtschaft jedenfalls machte sofort Schwierigkeiten, ein junges Mädchen aus angesehener Familie sollte keine unpassenden Emanzipationsgelüste hegen. Die lieben Angehörigen zweifelten – wie so viele ihrer Zeitgenossen –, ob Frauen zu einer Hochschulbildung fähig seien. Um Maries guten Ruf nicht zusätzlich zu gefährden, verbot Pfarrer Vögtlin jeden weiteren Briefwechsel mit dem früheren Verlobten. Der Sturm der Entrüstung verbreitete sich von Brugg aus nach Bern und Zürich. Die Berner Zeitung «Der Bund» schrieb am 6. April 1868:
«Der Leser erinnert sich noch der Russin, die voriges Jahr in Zürich zur Doktorin der Medizin ernannt wurde. Bald darauf hiess es, sie sei bei der Rückkehr nach Russland verhaftet worden, weil die russische Polizei in Erfahrung gebracht habe, dass sie in Zürich Verkehr mit Polen gehabt und Briefe von denselben mitgenommen habe. Daran scheint nach der ‹Neuen Zürich Zeitung› kein wahres Wort zu sein, denn vor kurzem hat sich die Dame in Wien mit einem Dr. med. aus dem Aargau verlobt. Dies Ereignis habe eine Aargauerin zu dem Entschluss gebracht, ebenfalls Medizin zu studieren und sich den drei Engländerinnen anzuschliessen, die gegenwärtig die medizinischen Vorlesungen in Zürich besuchen.»
Übelwollende Brugger witterten Ungemach, anders lassen sich die folgenden Zeilen Maries an ihre Freundin Marie Ritter nicht verstehen:
«Die Zeit hat nun begonnen, wo der allgemeine Sturm losbricht, wo mein Plan das Tagesgespräch wird. Der ‹Bund› und die ‹Neue Zürcher Zeitung› haben sich bereits derselben bemächtigt, um ihn in die Öffentlichkeit zu tragen und ihm einen so unaussprechlich gemeinen Beweggrund zu geben, dass ich lange den liebenswürdigen Artikel nicht verstand. Mir selbst, wie Du Dir denken kannst, macht dies sehr wenig Eindruck – ich habe ein gutes Gewissen bei der Sache und werde mich vor niemandem ihrer schämen – es sind ja schon bessere Menschen als ich verdächtigt, verleumdet worden, und ich habe mich entschlossen, auch diese Widerwärtigkeit mir zum besten dienen zu lassen, indem ich dadurch nur fester und stärker werden will. Aber denke, nun hat dieser gemeine Zeitungsartikel, der keiner Notiz würdig ist und dem Einsender gewiss nur zur Schande gereicht in den Augen von rechten Leuten, meine Verwandten dergestalt in Aufruhr gebracht, dass sie sich gebärden, als wären sie die Träger und Märtyrer der Frauenschande, die ich nun über sie bringe. Es ist wirklich bunt!
Fremde Menschen, um deren Urteil ich mich nicht zu kümmern brauche, mögen über mich sagen, was ihnen beliebt; ich weiss ja, sie können mir doch nichts schaden, und meine Sache kann dennoch triumphieren, ihnen zum Trotz; aber dass diejenigen, mit denen umzugehen ich beständig gezwungen bin, deren entsetzliche Vorstellungen und Bedenken ich nun noch sieben Monate lang anhören muss – mir nur mein Leben erschweren wollen, das ist wirklich schlimm, und mir kommt es vor, es sollte sich niemand wundern, wenn es mich an allen Haaren aus diesem Spektakel hinauszieht.» 3
Unter dem Druck seiner Umgebung wurde Pfarrer Vögtlin beinahe schwach. Er beriet sich mit zwei seiner besten Freunde, Dr. Stäbli in Aarau sowie Maries Pate, Pfarrer Hagenbuch. Die beiden Herren und die Schwester Anna stellten sich auf Maries Seite. Andere Verwandte wollten das verirrte Kind auf den rechten Weg zurückbringen.
«Ich habe nur mit sehr wenigen Leuten in letzter Zeit über mein Projekt gesprochen und diese haben dasselbe mit grossem Interesse aufgefasst und durchaus nichts von dem Entsetzen gezeigt, welches meine Verwandten beseelt; diese machen sich selbst und anderen immerfort weiss, ich werde ‹will’s Gott› bis zum Herbst noch anderen Sinnes werden. –
Nun muss ich Dir danken, dass Du mich auf die Gefahr aufmerksam machst, ich möchte zu eigensinnig werden. Diese Mahnung ist gewiss am passenden Ort angebracht, denn meine Naturanlage und meine augenblicklichen Verhältnisse kommen einander jetzt zu Hilfe, um meinen Kopf zu einem unaussprechlichen Eigensinnbehälter zu machen. Es ist wahr, ich bin durch all den Sturmwind noch um kein Haar breit in meinen Überzeugungen wankend gemacht worden, denn alle diese Einwendungen bin ich jetzt, wenn ich mein Gewissen genau befragt habe, zu überwinden imstande gewesen. Überzeugungen kann und will ich nicht zum Opfer bringen – nicht wahr, Du kannst das doch nicht unrecht finden? […] Gegen meinen Vater und Anna habe ich jedenfalls am wenigsten Versuchung, zu eigensinnig zu sein, da sie beide mich niemals auf die Spitze getrieben haben. Ich glaube, dass sie nicht diesen Eindruck von mir haben; denn sobald ich sehe, dass bei jemand auch nur eine Spur von Willen vorhanden ist, auf das, was ich vorzubringen habe, einzugehen, so bekomme ich ein ganz anderes Gefühl, während in den Disputationen mit den andern ich in der Tat meinen Kopf jedes Mal in einen Eisenklumpen sich verwandeln fühle.
Bis jetzt haben dem Publikum gegenüber weder Vater noch Anna eine unangenehme Stellung gehabt; mein Vater wird nicht, wie er gefürchtet hatte, verurteilt, weil er seine Erlaubnis gibt, sondern die ganze Sache wird, wie es mir am liebsten ist, mir selbst aufgeladen, und im allgemeinen scheint hier zu Lande wirklich das Urteil entschieden gegen mich zu sein, während an grösseren Orten, wie z. B. Zürich und Basel, wo man noch ein bisschen über die Stadtmauern hinaussieht, man ganz anders spricht.»
Neben allen Schwierigkeiten, die sie in diesen Monaten zu überwinden hatte, litt Marie noch immer an der Trennung von Fritz.
«Übrigens habe ich unter dem ganzen Getümmel der mir entfernt Stehenden sehr wenig gelitten, denn ich habe ja immer genug anderes durchzukämpfen, was mir weit schwerer fällt. Die gewaltsame Trennung von meinem Bruder [Fritz] quält mich unaufhörlich, und oft fühle ich mich dadurch so unendlich vereinsamt, dass es mir schwer wird, geduldig zu sein. Und der Umgang mit ihm mangelt mir um so mehr, da ich nun von niemandem mehr zum Guten angeregt, sondern so ganz mir selber überlassen bin. Mir ist oft bange vor mir selbst; ich fürchte, ich werde in dieser kalten frostigen Luft, wo ausser Deinen Briefen mich selten ein warmer Hauch anweht, selbst wieder kalt und hart wie früher, und davor habe ich eine unaussprechliche Furcht. Wenn ich doch jemanden hier hätte, es wäre ein ganz anderes Leben! Der Umgang mit Armen könnte mir, ich weiss es, dies ersetzen; aber wir haben hier wenige und ich darf unmöglich jetzt so viel Zeit aufwenden, um sie in der Weite aufzusuchen – ich bin gezwungen, damit zu warten, bis mein Ziel erreicht ist.» 4
Trotz allen Probleme war Marie erstaunlich selbstbewusst. Sie ging davon aus, dass sie ihre Prüfungen bestehen und als Ärztin praktizieren würde, die Frage war nur wo. «Ich habe in letzter Zeit sehr viel nachgedacht über die Wahl meines späteren Wirkungskreises, welche ich um der Examen willen schon jetzt im Auge haben muss. Und ich bin so ziemlich zum Resultat gekommen, vom Kanton Aargau zu abstrahieren, wo man wahrscheinlich zuerst bereit wäre, mir für die Examen Schwierigkeiten zu machen, und statt dessen die Konkordatsprüfung zu wagen. Ich wäre dann frei für eine Anzahl von Kantonen; Zürich habe ich immer am meisten im Auge; denn wenn ich mir während meiner Studienzeit die Achtung der Professoren erlangen kann, so werde ich später für meinen Beruf eine bedeutende Stütze haben.»5
Verschiedenste Gerüchte machten Marie Sorgen. So hiess es plötzlich, die Zürcher Regierung würde das Maturitätsexamen als Zutrittsbedingung verlangen. Marie geriet in Panik und erkundigte sich bei Marie Ritter nach den Glarner Verhältnissen. Ausgerechnet Marie selbst unternahm dann 1870 mit Kolleginnen Schritte, um die Zulassungsbedingungen zur Hochschule zu verschärfen!6
Im August 1868 reiste Marie ins Wallis, bestieg den Gornergrat und erreichte als Erste den Gipfel. In diesem Brief verglich Marie die Wanderung mit ihrer Gemütslage und ihrem Lebensziel: «Ich habe, seit ich wieder zu Hause bin, innerlich unendlich viel erlebt; – und selten habe ich so Minute für Minute, ich möchte sagen in gespannten Gedanken zugebracht, wie jetzt diese zehn Tage. Darum erscheinen sie mir auch wie zehn Wochen. Ich hoffe, die Reise ist mir auch moralisch zum Segen geworden in ihren Folgen; die Empfindungen alle, die sie in mir geweckt und zu einer so wilden Lebhaftigkeit gebracht hat, haben mich einen tieferen Blick in mein eigenes Herz hinein tun lassen, als dies seit dem Frühjahr der Fall war. – Freilich waren es lauter traurige Entdeckungen, die ich gemacht habe – aber immerhin besser, diese verborgenen tückischen Falten des Herzens kennen, als sie wie heimlich lauernde Abgründe in sich zu tragen. Ich bin sehr unglücklich gewesen diese Zeit, unglücklich über mich selbst in vielen Beziehungen, und ich habe mir aufs neue gesagt, wie hohe Zeit es ist, dass ich hinauskommen aus diesem Traumleben, das ich hier führe, hinaus in die Welt, die harte, kalte, raue, wo ich selber warm und lebendig sein muss – oder dann erfrieren und zugrunde gehen – es gibt keine andere Alternative in der Welt draussen […]. Ich habe diese Zeit hier wieder deutlicher als je gefühlt, wie diese Arbeit meine Bestimmung, mein Beruf ist, wie ich ohne sie versumpfen und versinken würde in den alten Schlamm. Ich habe gefühlt, dass ich alles in der Welt, was mir teuer ist, eher hingeben könnte als diesen Beruf […], mir ist, ich möchte mich freudig rädern und foltern lassen, wenn nur endlich aus mir das würde, was ich werden soll, und was ich einzig und allein, ich weiss es, durch bitteres Leiden werden kann. Glück und Schlaf und Lauheit sind für mich gleichbedeutend – nur nicht Ruhe für mich, lieber Sturm und Wellen und wildes Toben um mich her – ach, ich glaube, ich danke es den herrlichen Bergströmen, dass ich dies wieder so neu und lebendig erkennen gelernt habe. Aare und Rhone und Visp haben mich aufgerüttelt aus dem Halbschlaf mit ihrem wilden, herrlich frischen, immer ruhenden Leben; ja, das war Lebenslust für mich.»7
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