Kitabı oku: «Im Sternbild des Zentauren»
Verena Rank
Im Sternbild des Zentauren
Impressum:
© dead soft verlag, Mettingen 2020
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Coverbild: © MysticArtDesign
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-422-3
ISBN 978-3-96089-423-0 (epub)
Inhalt:
Als Ben versehentlich ein Portal in die mystische Welt „Mytherra“ öffnet, wird ihm klar, dass hier die Antworten auf all seine Fragen liegen. Seit jeher kann er mit Pflanzen kommunizieren, lässt sie wachsen und heilen. Seine Augen sind so grün wie der Smaragd, der alles ist, was er von seiner Mutter hat. Die Begegnung mit dem stolzen Zentauren Hektor, der die Menschen abgrundtief hasst, ist der Beginn einer aufwühlenden Reise. Mit jeder Auseinandersetzung knistert die Luft zwischen ihnen noch mehr. Am Ende müssen beide erkennen, dass das Schicksal längst für sie entschieden hat …
Diesen Roman widme ich meinen „Fantastic Four“ Katrin, Saskia, Sabrina und Claudia!
Euch als Testleserinnen zu gewinnen, war wie ein Sechser im Lotto! Danke, dass Ihr mit mir durch das Portal nach Mytherra gegangen seid.
Die Welt Mytherra, im Schimmerwald …
Hektor
Die Nacht hüllt den Wald in ihren schwarzen Schleier, Fetzen aus Nebelschwaden wabern über die moosbedeckte Erde. Das Getrampel unserer Hufe und schweres Atmen durchbrechen die Stille, als ich meinem besten Freund folge. Die Augen der Zentauren passen sich jedem Lichtverhältnis an, sodass ich Nox’ dunkles Fell auch im fahlen Schein des Vollmondes immer wieder aufschimmern sehe.
„Sag mir doch erst mal, was los ist!“, rufe ich ihm mit trockener Kehle zu. „Was ist mit Kreon?“ Die Angst um meinen älteren Bruder macht mich fast wahnsinnig.
„Er steht vor dem Hohen Rat, sie werden ihn verurteilen, Hektor!“ Nox verlangsamt seine Schritte, bleibt schließlich stehen und dreht sich nach mir um. Er atmet schwer und mustert mich sichtlich bestürzt. Ich halte direkt vor ihm inne und blicke ihn entsetzt an.
„Was? Aber wie …“
„Kreon soll ein Portal benutzt haben … in die Welt der Menschen!“
Ich bin für einen Moment wie erstarrt. Dass Kreon von der Idee, in die Menschenwelt zu gelangen, fasziniert, ja fast schon besessen ist, weiß ich. Doch würde er so weit gehen, ein Portal zu benutzen? Und wie hätte er das ohne einen Portalstein anstellen sollen? Aufkommende Panik schnürt mir die Kehle zu und mein Herz rast schmerzhaft, als wir weiter eilen. Tausende von Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich fieberhaft überlege, ob an den Anschuldigungen etwas dran sein könnte. Kreon und ich sind nicht wie die anderen Zentauren. Wir sind Wandler, können menschliche Gestalt annehmen, wie schon unser Vater und Großvater davor. Der Umstand macht uns zu Geächteten im Clan der Zentauren – wir sind nur geduldet und dazu verdammt, in einer Gemeinschaft zu leben, die uns nicht will. Es gibt nicht mehr viele Wandler und unseren wahren Ursprung kennen wohl nur die Titanen.
„Das würde Kreon niemals tun!“, stoße ich hilflos hervor, während wir unseren Weg zum Ratsplatz fortsetzen. In Wirklichkeit bin ich mir gar nicht so sicher, ob mein Bruder nicht doch dazu fähig wäre. Er verhält sich in letzter Zeit seltsam. Immer öfter schleicht er sich heimlich davon, um im Wald allein zu sein. Ich weiß, dass er sich dann verwandelt, denn als ich noch jünger war, haben wir das oft zusammen gemacht. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr und ich werde alles dafür tun, eines Tages als gleichwertiges Mitglied des Zentauren-Clans angesehen zu werden. Ich werde mich nie wieder verwandeln. Zentauren hassen die Menschen, das war immer so und wird auch so bleiben. Ich bin ein Zentaur! Für einen kurzen Moment überfällt mich heftiger Zorn, weil Kreon alles zerstört, wofür ich kämpfe.
Wenn sich die Vorwürfe gegen ihn tatsächlich bewahrheiten sollten … nein!
Ich schüttle heftig den Kopf und ermahne mich selbst. Mein Bruder ist unschuldig. Er muss es einfach sein.
Endlich erreichen wir die Lichtung, die der Vollmond silbern erhellt. Die hohen Tannen rings um den Platz gleichen undurchdringlichen Burgmauern, aus denen es kein Entkommen gibt. Die Jäger und Wächter der Zentauren haben sich kreisförmig um den hohen Rat formiert. Einige halten brennende Fackeln in der Hand, um der Dunkelheit zu trotzen. Hier werden der Zentaurenrat abgehalten und Bestrafungen durchgeführt. Auf der Suche nach meinem Bruder sehe ich mich panisch um und entdecke ihn in der Mitte des Platzes. Bei seinem Anblick stockt mir der Atem und mein Magen krampft sich zusammen. Ich will schreien, aber aus meiner trockenen Kehle kommt nur ein ersticktes Geräusch. Kreon hat seine menschliche Gestalt angenommen, nackt und schutzlos ist er dem Clan ausgeliefert. Er kniet auf dem Boden, seine Handgelenke liegen in Ketten, die an zwei Holzpflöcken befestigt sind. Über Kreons breite Brust und seine Oberarme ziehen sich blutige Striemen von Peitschenhieben. Er hält den Blick gesenkt, sein langes, rot-goldenes Haar verdeckt das Gesicht und streift die Erde. Zu seiner Bewachung wurde einer der bösartigsten Jäger abgestellt, Thurius. Die Peitsche noch in der Hand, spuckt der dunkelhäutige Hüne mit der Narbe auf der Wange, auf den Boden vor Kreon.
„Verräter!“, brüllt Rigorus, der Anführer der Zentauren und ich zucke erschrocken zusammen. „Wie kannst du es wagen, die Rasse der Zentauren so zu beschmutzen?“ Das bronzefarbene, graubärtige Gesicht ist vor Hass und Wut zu einer grässlichen Maske verzerrt. In dem Moment erwache ich aus meiner Starre.
„Bindet ihn sofort los!“ Meine Beine zittern und gehorchen kaum, als ich auf das grausame, unwirkliche Szenario zustürze, um meinen Bruder zu beschützen. Ich komme nicht weit, denn sofort versperren mir zwei Wächter den Weg und drängen mich zurück. Kreons Kopf schießt in die Höhe, sein Blick sucht rastlos umher, bis er mich endlich entdeckt. Als ich sein Gesicht sehen kann, keuche ich auf und automatisch schießen mir Tränen in die Augen. Von seiner Unterlippe läuft Blut aus einer Platzwunde an seinem Hals hinunter. Ein Auge ist völlig zugeschwollen und die Haut über dem Wangenknochen aufgerissen. Kreon zerrt an den Ketten und trotz der Dämmerung leuchtet das Türkis des unverletzten Auges wie ein Stern am Firmament.
„Nicht, Hektor!“ Er schüttelt den Kopf, seine Schultern beben. Einer der Wächter packt mich unsanft am Arm.
„Das hier ist nicht deine Angelegenheit, Kleiner. Zurück mit dir!“ Er schnaubt und wirft einen Blick über die Lichtung, zum Oberhaupt des Clans. Rigorus kommt erhobenen Hauptes auf Nox und mich zu, während er seinen Sohn mit argwöhnischem Blick straft. In diesem Moment bin ich unendlich dankbar für dessen unerschütterliche Loyalität und Freundschaft. Mein Bruder ist die einzige Familie, die ich noch habe. Ihn zu verlieren, wäre das Schlimmste, was mir je passieren könnte. Seit ich denken kann, hasst Rigorus Kreon und mich, doch Nox hat diese Tatsache nie sonderlich beeindruckt. Als einziger im Clan hat er uns nie verurteilt. Nach dem Tod unserer Eltern haben wir es in der Gemeinschaft der Zentauren nicht leicht gehabt, aber er war immer an unserer Seite.
Rigorus baut sich vor mir auf, seine kalten Augen blicken starr auf mich herab. Das ergraute Haar und der spitz zulaufende Bart bedecken seine breite Brust.
„Dein Bruder hat ein schweres Verbrechen begangen und wird dafür bestraft werden. So will es unser Gesetz und so haben es auch die Götter vor langer Zeit anerkannt.“
„Seit wann schert ihr euch um die Götter?“ Mein Herz rast in wildem Stakkato. „Kreon hat nichts Unrechtes getan! Lasst ihn frei!“
„Sei still, Hektor!“, zischt Kreon, worauf er sich von Thurius einen Faustschlag ins Gesicht einhandelt. Er spuckt Speichel und Blut und funkelt den Jäger zornig an. Ich will mich losreißen, doch einer der Wächter versetzt mir so unvermittelt einen Hieb in den Magen, dass es mir die Luft aus den Lungen presst. Ich krümme mich zusammen und ringe nach Atem.
„Dein Bruder war bereits geständig!“, fährt Rigorus unbeirrt fort und öffnet seine geballte Faust. In seiner Handfläche liegt ein dunkler, glänzender Stein in der Größe eines Wachteleis. „Er hat den Stein der Reisenden einer Harpyie abgenommen, die er im Kampf besiegt hat. Anstatt ihn abzugeben hat er ihn verbotenerweise benutzt, um damit heimlich durch ein Portal in die Welt der Menschen zu gelangen! Und das nicht nur einmal!“
„Harpyie?“ Ich blinzle irritiert und überlege fieberhaft. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich blicke meinen Bruder entsetzt an. Die Harpyie, die damals Lilaja angegriffen hat … das ist mindestens ein Jahr her! Kurz darauf hat Kreon damit begonnen, alleine in den Wald zu gehen. Panik steigt in mir auf, meine Kehle wird eng.
„Sag ihnen, dass das nicht stimmt!“, rufe ich verzweifelt und blicke meinem Bruder flehend entgegen. „Bitte, Kreon! Das ist doch alles nicht wahr!“
„Ich habe ihnen bereits gesagt, dass du davon nichts gewusst hast!“, antwortet Kreon niedergeschlagen und sieht mich schuldbewusst an. „Ich habe mich verliebt, Hektor. Es war nicht geplant, aber ja, ich liebe eine Menschenfrau und …“ Er atmet tief ein und aus. „Sie liebt mich auch.“
Während ich nur langsam begreife, was er da gesagt hat, höre ich entrüstete Aufschreie in den Reihen der Zentauren, einige spucken verächtlich auf den Boden. „Verräter!“, „Bastard!“ sind nur einige der Beschimpfungen, die sie rufen. Mir wird schlecht.
„Bringt den Bruder des Verräters zurück ins Lager und sperrt ihn ein!“ Rigorus hebt die Hand und deutet auf mich. Dann gleitet sein Blick wütend zu seinem Sohn, der bleich und starr neben mir steht. „Nox, wir sprechen uns noch!“
„Vater! Das kannst du nicht machen! Kreon ist alles, was Hektor noch an Familie hat! Er ist doch erst vierzehn Jahre alt! Bitte!“
„Und du bist dreizehn! Und schon alleine deswegen glaube ich nicht, dass ich mir von dir sagen lassen muss, was ich zu tun habe! Stelle nicht meine Geduld auf die Probe, Nox!“
Meine Brust ist eng, mein Magen rebelliert und ich schreie meine Wut und meinen Schmerz hinaus, als mich die beiden Wächter mit Gewalt von der Lichtung fortzerren wollen. Ich wehre mich mit aller Kraft, rufe nach meinem Bruder und unsere verzweifelten Blicke begegnen einander. In diesem Augenblick ahne ich, dass wir uns zum letzten Mal sehen. Aus Kreons Kehle dringt ein hilfloser Laut. Er wirft den Kopf in den Nacken und schaut nach oben, als würde er von seinen geliebten Sternen Hilfe erwarten. Tatsächlich leuchtet das Sternbild des Zentauren in dieser grauenvollen Nacht besonders hell.
„Kreon!“ Ich brülle frustriert auf. „Sag ihnen doch, dass die Anschuldigungen gegen dich nicht wahr sind! Sag es ihnen!“ Tränen laufen mir über das Gesicht, meine Sicht verschwimmt. „Du bist ein Zentaur, Kreon! Und du gehörst hierher!“
Kreon schüttelt seufzend den Kopf. „Aber ich bin auch zum Teil menschlich, genau wie du! Verstehst du das denn nicht?“ Er wirkt sichtlich niedergeschmettert, sein Zwiespalt ist greifbar.
„Nein, das verstehe ich nicht!“, antworte ich in aufsteigendem Zorn. „Ich bin ein Zentaur!“
„Wie dem auch sei …“, unterbricht Rigorus uns schroff, „morgen bei Sonnenaufgang wirst du durch unsere Pfeile sterben, wie es das Gesetz der Zentauren vorsieht! Bereite dich auf deinen Tod vor, Bastard!“ An mich gewandt fügt er hinzu: „Und du wirst zusehen, wie dein Bruder stirbt! Sei gewarnt, jemals unser Blut zu verraten!“
Mein Aufschrei zerreißt die Stille der Nacht, als sie mich von der Lichtung fortbringen.
Die Wächter sperren mich in den Kerker unter dem Ratsplatz, von wo ich keine Chance habe, zu entkommen. Als die schwere Gittertür zufällt, verliere ich jegliche Hoffnung, dass mein Bruder noch gerettet werden kann. Je mehr Zeit vergeht, umso stärker treibe ich zwischen Verzweiflung und Wahnsinn dahin. Irgendwann höre ich plötzlich Schritte und im nächsten Moment steht Nox auf der anderen Seite des Gitters. Völlig aufgelöst kann ich nur den Kopf schütteln und sehe ihn hilflos an.
„Hektor …“, flüstert er. „Ich hol dich hier raus.“
Ich überlege, wie er am Wächter vorbeigekommen ist, als er den Schlüssel hochhebt und mich schief angrinst. Kurz darauf schleichen wir uns an Trebesius vorbei, der tief und fest schläft, dieser versoffene Idiot.
„Ich habe nachgeholfen und seinem Wein etwas beigemischt, aber es hat leider etwas gedauert, bis es gewirkt hat.“ Nox wirft einen verächtlichen Blick zurück auf den Schlafenden. Wir laufen, bis wir weit genug vom Lager entfernt sind, dann erst bleiben wir außer Atem stehen. „Sieh zu, dass du eure Freundin, die Nymphe findest“, raunt mir Nox zu und sieht sich nervös um, als hätte er Angst, jemand wäre ihm gefolgt. „Wenn euch jetzt noch jemand helfen kann, dann sie.“
„Hat dich jemand gesehen, Nox?“, frage ich besorgt. „Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn du wegen uns in Schwierig…“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbricht er mich. „Ich bin sicher, dass mich niemand gesehen hat.“
Ich lege eine Hand auf seinen Arm. „Ich stehe für immer in deiner Schuld. Wie kann ich dir nur je dafür danken?“
„Du bist mein bester Freund“, entgegnet er. „Auch wenn dein Bruder etwas Falsches getan hat, ist er alles, was du noch hast. Hilf ihm zu entkommen und du hast mir genug gedankt, ja?“ Er nickt mir ermutigend zu. „Und nun beeil dich!“
Wie von Sinnen laufe ich durch den Wald. Als ich am See ankomme, kann ich mich gar nicht erinnern, wie ich hergekommen bin, so sehr lähmt die Angst meinen Geist. Am Ufer bleibe ich stehen und blicke rastlos über die glitzernde, dunkle Wasseroberfläche.
„Lilaja!“ Meine Kehle ist völlig ausgetrocknet und so geht mein erster Ruf in einem Krächzen unter. Ich räuspere mich nervös und rufe die Nymphe ein zweites Mal.
Lilaja ist eine Najade, oder auch Wassernymphe und lebt alleine an einem See, der versteckt und abgelegen im südlichen Teil des Schimmerwaldes liegt. Seit Kreon und ich ihr Leben gerettet haben, sind wir in tiefer Freundschaft verbunden.
Wie gebannt starre ich zum Wasserfall, hinter dem sich der Eingang der Grotte befindet, in der sie lebt. Plötzlich erscheint etwa in der Mitte des Sees ein dunkler Fleck auf der Wasseroberfläche und verschwindet wieder. Gleich darauf taucht Lilaja nur wenige Meter vor mir auf und blickt mich überrascht an. Als sie aus dem Wasser steigt, wringt sie ihr langes, blondes Haar mit beiden Händen aus, während sie mich besorgt mustert.
„Hektor! Was machst du hier, mitten in der Nacht? Was ist passiert?“
„Bitte …“, krächze ich. „Du musst mir helfen, Lilaja!“
Nachdem ich Lilaja die Kurzfassung dessen erzählt habe, was geschehen ist, eilen wir Seite an Seite durch den Wald zurück. Nymphen können sich unglaublich schnell fortbewegen, sie huschen geradezu über den Boden hinweg.
„Ich brauche den Stein der Reisenden, sonst hat Kreon keine Chance“, sagt sie mit zitternder Stimme. „Meine Instinkte können ihn aufspüren, aber das nimmt etwas Zeit in Anspruch. Ich bin imstande, mit jeder Pflanze und mit jedem Baum zu verschmelzen, das weißt du. Niemand wird mich sehen, wenn ich nach dem Portalstein suche, mach dir keine Sorgen.“
Kurz bevor wir das Gebiet der Zentauren erreichen, bleiben wir stehen.
„Hektor …“ Lilaja sieht mich mit schmerzvoll verzerrter Miene an. „Ich weiß, dass das jetzt alles von dir abverlangt, aber ich kann das Leben deines Bruders nur retten, wenn ich alleine gehe. Und du musst zurück in deine Zelle, damit sie dich nicht verdächtigen können.“
Ich will protestieren, doch sie bringt mich mit einem hektischen Kopfschütteln zum Schweigen. „Du weißt, dass ich Recht habe“, raunt sie mir in der Dunkelheit zu. „Wenn du willst, dass dein Bruder lebt, musst du ihn für immer gehen lassen.“ Sie greift nach meinem Arm. „Es geht um Leben und Tod. Entweder Kreon stirbt in ein paar Stunden, oder ich befreie ihn und er wird Mytherra für immer verlassen.“ Lilaja seufzt schwer. „Ich bin euch ein Leben schuldig und werde diese Schuld nun einlösen. Die Götter werden das verstehen und akzeptieren. Doch den Stein der Reisenden zu besitzen wäre mehr als ein grober Verstoß … du weißt, dass ich ihn im Olymp abgeben muss.“
Mein Magen zieht sich zu einem schweren Klumpen zusammen, während Säure meine Kehle hinaufkriecht.
„Das heißt, ich werde Kreon nie wiedersehen“, sage ich erstickt. Der Gedanke daran ist unerträglich. Wie soll ich ohne meinen Bruder weiterleben? Wir schleichen uns an dem noch immer schlafenden Trebesius vorbei und Lilaja sperrt mich wieder ein, bevor sie den Schlüssel zurück zum Wächter legt.
„Ich werde alles tun, um Hektor zu retten, das verspreche ich.“ Lilaja sieht mich von der anderen Seite des Gitters ermutigend an.
„Und ich … kann mich wirklich nicht von ihm verabschieden?“, frage ich und umklammere die Gitterstäbe meines Gefängnisses so fest, dass meine Knöchel weiß hervorstehen.
„Tut mir leid“, antwortet Lilaja stockend und sieht zu mir auf. „Sobald ich den Stein und auch Kreon habe, werde ich das Portal öffnen und ihn hindurch lassen. Danach mache ich mich aus dem Staub.“ Das Licht einer Fackel zaubert funkelnde Tränenspuren auf ihre Wangen, während sie ihre kleinen Hände um meine schließt. Ein Schluchzen löst sich aus meiner Kehle, meine Beine beginnen so sehr zu zittern, dass meine Vorderläufe nachgeben und ich zu Boden sinke.
„Ich hasse ihn“, sage ich mit bebenden Schultern. „Ich hasse Kreon, für das, was er mir angetan hat.“
Ich nehme Lilajas Hand auf meiner Schulter wahr und doch habe ich das Gefühl, meinen Körper nicht mehr zu spüren. Alles geht in einem überwältigenden, lähmenden Schmerz unter.
„Ich muss gehen“, höre ich Lilaja sagen, doch es klingt, als wäre sie bereits weit weg. Ich schließe die Augen und krümme mich zusammen. Plötzlich ist es, als würde die Welt über mir einstürzen und mich unter ihren Trümmern begraben. Ich bin allein …
10 Jahre später, in der Welt der Menschen …
Ben
Das schrille Klingeln meines Handyweckers reißt mich mitten aus dem Schlaf und katapultiert mich mit einer Wucht in den Tag, dass ich ein paar Sekunden brauche, um richtig wach zu werden. Noch ganz benommen taste ich nach dem Handy auf dem Nachttisch, finde es und lasse es verstummen. Mein Herz rast immer noch wie verrückt, so real war dieser verdammte Traum gerade eben! Seit ich denken kann, verfolgt er mich. Leise fluchend stehe ich auf und versuche mich zu beruhigen. Auf dem Weg ins Bad rufe ich mir die Bilder meines ungewollten, nächtlichen Abenteuers in Erinnerung. Warum träume ich immer wieder dasselbe? Mein Körper schwebt schwerelos im Himmel … zumindest glaube ich das, denn ich bin umgeben von dichten Wolken. Ich schaue auf den Gipfel eines Berges und auf ein gewaltiges Gebäude. Wenn ich hinunterblicke, sehe ich meine Füße in der Luft baumeln. Die Watteberge aus Wolken sind so dick, dass ich darunter keine Landschaft erkennen kann. Jemand ruft nach mir, es ist ganz klar die Stimme einer Frau. Ich kann sie nicht verstehen, aber ich weiß, dass sie mich meint und ihr Rufen wird immer verzweifelter. Ich versuche irgendwie näher heranzukommen, rudere mit Armen und Beinen, aber je mehr ich mich bewege, umso stärker werde ich von einer unsichtbaren Macht zurückgedrängt. Heute hat mich mein Wecker davor bewahrt, ins Nichts zu fallen, denn das ist es, was mich sonst aus dem Schlaf reißt. Ich stürze dann mit solch einer Heftigkeit in die Tiefe, dass es mir den Atem aus der Lunge presst und ich meist mit einem Aufschrei wach werde. Ich bin schon an der Badezimmertür, als mein Handy klingelt. Zurück am Bett werfe ich einen Blick auf das Display und muss automatisch lächeln, während ich das Gespräch annehme.
„Bennniiiiiii!“, tönt es schrill und für diese Uhrzeit viel zu fröhlich am anderen Ende der Leitung. Noch bevor ich etwas erwidern kann, folgt so lauter Gesang, dass ich das Handy einen Meter vom Ohr weghalten muss. „Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday, mein allerliebster, bester Freuheuuund Bennileiiin, happy Birthday to youuu!“
Ich schüttele lachend den Kopf und stehe auf. Meine beste Freundin hat wirklich einen an der Klatsche, aber man muss sie einfach lieben.
„Bennilein?“, erwidere ich gespielt entsetzt. „Ernsthaft? Wann gewöhnst du dir diese schwulen Spitznamen endlich ab?“
„Niemals!“ Sabrina lacht überdreht. „Alles Gute zum Geburtstag, Schatzi! Schon wach?“
„Danke. Jetzt auf jeden Fall. Um diese Uhrzeit schon so aufgekratzt zu sein, ist pervers, weißt du das?“
Erneutes Lachen. „Ich freue mich schon auf heute Abend. Soll ich dich abholen?“
Ich überlege kurz. „Kreon und Anna haben gefragt, ob wir noch vorbeikommen, bevor wir weggehen, also wäre es schön, wenn du gegen sieben bei mir sein könntest.“
Ich unterrichte Sport und Mathematik an einer Realschule und fahre meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit. Es gibt nichts Besseres, als morgens durch den Englischen Garten zu fahren und die Natur zu genießen. Mein Geburtstag fällt dieses Jahr auf den letzten Schultag vor den Sommerferien und so mache ich mich gut gelaunt auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit erreiche ich den Englischen Garten und verlangsame mein Tempo. Die Reifen meines Fahrrades knirschen auf dem Kies, ansonsten hört man um diese Uhrzeit nur Vogelgezwitscher. Wie jeden Tag komme ich am Monopteros vorbei und halte kurz an. Seit ich denken kann, übt der kleine, griechische Rundtempel eine Anziehungskraft auf mich aus, deren Grund ich mir nicht erklären kann. Ich blicke hinauf, wo sich die weißen Säulen des Tempels majestätisch über einem Hügel erheben und die Strahlen der Morgensonne willkommen heißen. Je länger ich ihn ansehe, umso stärker wird diese rätselhafte Sehnsucht nach etwas, das ich nicht mal benennen kann. Es ist einfach ein Gefühl, als würde ich etwas vermissen, aber ich weiß nicht was. Sabrina und ich haben schon viel Zeit da oben verbracht, aber wir haben noch nicht herausgefunden, warum dieser Ort mit meinen Gefühlen Achterbahn fährt. Ich seufze leise und will gerade wieder auf meinen Sattel steigen, um weiterzufahren, als ich ein vertrautes Flüstern vernehme. Es ist als hörte ich den Wind, obwohl sich kein Lüftchen regt. Und dieser Wind trägt eine Stimme mit sich, die sonst niemand bemerkt. Mich fröstelt und meine Nackenhaare stellen sich auf, während ich mein Fahrrad abstelle und der Stimme folge. Schon nach ein paar Metern sehe ich, wer, oder besser gesagt, was mich ruft und meine Hilfe braucht. Ich sehe mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe ist. Dann laufe ich die restlichen Schritte und stehe vor einem wunderschönen Lindenbaum. Ein Ast wurde gewaltsam abgerissen und hängt nur noch lose an ein paar Holzfasern. Ganz sanft lege ich meine Hände auf den Ast und schließe die Augen. In meinem Kopf manifestiert sich ein Bild von ein paar betrunkenen Typen, die sich einen Spaß daraus machen, sich gewaltsam an den Ast zu hängen. Sie rütteln und zerren daran, bis er nachgibt und schließlich abbricht. Lachend und grölend machen sich diese Idioten danach aus dem Staub. Wut steigt in mir auf und ich verfluche diese beschissenen Kerle. Mit geschlossenen Lidern verbinde ich mein ganzes Sein mit dem Baum und werde Eins mit der Natur. Schon nach einigen Sekunden erfasst mich eine Energiewelle, die von meinen Füßen aufwärts durch mich hindurch strömt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Ich atme tief ein und aus … mit dem Herzschlag des Wachsens und Blühens, der meinen Körper und Geist jedes Mal in eine kurze, aber intensive Trance versetzt. Ich spüre, wie die Linde heilt, wie der Ast sich aufrichtet und wieder da anwächst, wo er hingehört. Zufrieden öffne ich die Augen und trete einen Schritt zurück. Als der Wind sanft durch die Blätter fährt, hört es sich an, wie ein geflüstertes ‚Danke‘. Ich nicke lächelnd, bevor ich mich umdrehe und eilig zu meinem Fahrrad zurückkehre. Mein Blick schweift nervös umher, doch ich kann niemanden sehen, der etwas von meiner Aktion mitbekommen hätte.
Es ist kurz vor acht, als ich das Klassenzimmer betrete und meine Schüler begrüße. Dass ich heute Geburtstag habe, posaune ich nicht groß in der Gegend herum, also bekomme ich von den meisten der Neuntklässler wie gewohnt ein müdes und weniger enthusiastisches ‚Morgen‘ zurück. Auf die erste Reihe hingegen kann ich mich wie immer verlassen. Lydia, Sophie und Anna Maria sehen mich mit verklärten Blicken an und flöten einstimmig: „Guten Morgen, Herr Wagner.“ Als ich ihnen ein freundliches Lächeln zuwerfe, könnte ich schwören, ein Seufzen zu hören. Nachdem ich meine Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt habe, zähle ich kurz durch und stelle fest, dass einer fehlt. Ich rolle mit den Augen und werfe einen Blick auf meine Armbanduhr.
„Ruhe, Leute!“, rufe ich in die große Runde und sehe kurz zur Tür. „Ihr wollt doch Hakans großen Auftritt nicht verpassen, oder?“ Jetzt hab’ ich volle Aufmerksamkeit und achtundzwanzig Augenpaare richten sich auf mich. „Was wird es diesmal sein?“, frage ich und überlege, während ich vor meinen Schreibtisch trete und mich dagegen lehne. „Ey sorry, Herr Wagner, ich kann nix dafür“, ahme ich Hakan nach und ernte schon die ersten Lacher. „Wir haben heute früh die Katze verlegt und mussten sie suchen … oder hat das arme Tier gar die Schultasche gefressen und er musste warten, bis es sich übergeben hat?“, frage ich amüsiert. Lautes Gelächter füllt den Raum aus, als im nächsten Moment die Tür aufgerissen wird und ein schwarzhaariger Junge mit hochrotem Gesicht hereinstürmt.
„Ey sorry, Herr Wagner!“, japst er abgehetzt. „Ich schwör, ich kann nix dafür!“ Jetzt gibt es kein Halten mehr, das Gelächter der Schüler hallt mit Sicherheit bis auf den Flur hinaus. Hakan zuckt zusammen und sieht sich irritiert um. Obwohl es überhaupt nicht mehr möglich scheint, läuft sein Gesicht noch dunkler an. Mit einem Handzeichen ermahne ich alle zur Ruhe und sehe Hakan an.
„Guten Morgen, Hakan“, begrüße ich meinen notorischen Zuspätkommer. „Was hat dich denn diesmal davon abgehalten, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen?“
Ein paar Sekunden sieht mich mein Schüler an und scheint fieberhaft zu überlegen, was er antworten soll. Ich kann regelrecht die Zahnräder in seinem Gehirn klicken hören. Er kratzt sich verlegen hinter dem Ohr und grinst schließlich schief.
„Also meine Oma hat den Wecker gestellt“ antwortet er, worauf die ersten bereits zu lachen beginnen. „Aber sie hat die Zeitverschiebung mit der Türkei wohl vergessen.“ Ich muss die Klasse ein weiteres Mal zu Ruhe ermahnen, doch zugleich muss ich mich zusammennehmen, um nicht lauthals loszuprusten. Während sich Hakan mit gesenktem Haupt zu seinem Platz begibt, setze ich mich kopfschüttelnd an meinen Schreibtisch, um die Zeugnisvergabe vorzubereiten.
Der restliche Vormittag verläuft recht ereignislos. Der Unterricht endet heute bereits um kurz nach zehn Uhr und so strömen die Massen unter Freudengeschrei, Lachen und lautem Stimmengewirr durch die Schulflure und aus dem Gebäude. Ich staple meine Unterlagen, um sie in meiner Tasche zu verstauen, als ich bemerke, dass ich angestarrt werde. Lydia, Sophie und Anna Maria stehen vor mir und strahlen um die Wette. Ich grinse etwas irritiert zurück.
„Na? Ich dachte eigentlich, ihr könnt es gar nicht erwarten, hier rauszukommen. Gibt es noch etwas?“, frage ich neugierig, worauf Sophie, die in der Mitte steht, etwas hinter ihrem Rücken hervorholt.
„Alles Gute zum Geburtstag, Herr Wagner“, sagt sie, während ihre Wangen die Farbe von überreifen Tomaten annehmen. Ihre Freundinnen nicken beipflichtend und kichern, während mir ein in pinkfarbenes Papier gewickeltes Geschenk mit goldener Schleife entgegengestreckt wird. Ich sehe die Mädels erstaunt an.
„Woher wisst ihr, dass ich heute Geburtstag habe?“, frage ich.
„Wir haben da so unsere Informationsquellen“, antwortet Sophie selbstbewusst, worauf alle drei glucksen.
„Ja und außerdem wollen wir uns auch für den tollen Unterricht bedanken, den Sie immer machen.“ Anna Maria lächelt so breit, dass ich einen Moment nur zwei weiße Zahnreihen sehe. „Seit wir Sie in Sport haben, ist das mein Lieblingsfach“, fügt sie hinzu und nickt dabei nachdrücklich. Da sie beim Sportunterricht meistens mit ‚verstauchtem Knöchel‘ auf der Bank sitzt, bezweifle ich das zwar, aber ich fühle mich geschmeichelt. Ich nehme das Geschenk an und nicke den dreien freundlich zu.
„Wow, das ist aber nett von euch, vielen Dank.“
„Sie können es später aufmachen, schöne Ferien Herr Wagner!“
„Das wünsche ich euch auch“, antworte ich amüsiert. „Erholt euch gut.“
Die drei verschwinden kichernd und ich packe grinsend meine restlichen Sachen zusammen.
Die Kolleginnen und Kollegen sind bereits da, als ich das Lehrerzimmer betrete. Ich werde mit lautstarkem Jubel begrüßt, während Sektkorken knallen. Auf dem Konferenztisch hat Frau Stieglmeier, unsere Sekretärin, selbstgemachte Häppchen serviert und schenkt geschäftig die Gläser voll. Wie praktisch, dass mein Geburtstag ausgerechnet auf den letzten Schultag fällt, an dem wir ohnehin feiern.
„Hui, schaut mal, Ben hat ein pinkfarbenes Geschenk bekommen!“ Andrea, unsere Religionslehrerin, ist chronisch gut gelaunt und hängt an beinahe jeden Satz ein vergnügtes Glucksen an. Sie hält mir ein Sektglas hin und sieht mich durch die Gläser ihrer Hornbrille vergnügt an. Ihre pausbäckigen Wangen glühen, als hätte sie bereits ein, zwei Gläschen intus.
„Alles Gute zum Geburtstag, Ben!“
Auch die anderen kommen jetzt näher, um zu gratulieren und um zu sehen, was ich von meinen Schülerinnen geschenkt bekommen habe.