Kitabı oku: «Im Sternbild des Zentauren», sayfa 2

Yazı tipi:

„Nun mach es schon auf!“

„Ich habe noch nie etwas von meinen Schülern zum Geburtstag bekommen.“

„So jung und gutaussehend müsste man halt noch sein.“

Während ich die Verpackung löse, quasseln alle durcheinander.

„Ihr seid schlimmer als die Kids“, stelle ich lachend fest, während ich eine Packung Pralinen und ein paar Socken aus einem kleinen Karton nehme.

„Socken?“, fragt Frau Reimann, die Direktorin verwundert, worauf ich lachend nicke.

„Ja, aber nicht irgendwelche Socken“, antworte ich begeistert, während ich mein Geschenk hochhebe, damit alle es sehen können. „Star Wars – Meister Yoda – Socken mit Ohren!“ Meine Kollegen brechen in Gelächter aus, während ich die Socken grinsend betrachte. Sie sind knallgrün, mit dem Gesicht von Yoda vorne drauf und seitlich stehen seine großen, spitzen Ohren ab.

„Die Mädels haben wirklich gut aufgepasst“, sage ich und schüttle amüsiert den Kopf.

„Natürlich – sie machen ja nichts anderes, als seufzend an deinen Lippen zu hängen und deiner Stimme zu lauschen“, erwidert Andrea, worauf die anderen erneut lachen. Ich rolle mit den Augen, zugleich spüre ich so etwas wie Stolz. Von meinen Kollegen bekomme ich einen Gutschein für mein Lieblingsrestaurant, einem Mexikaner in Schwabing, in dem ich heute Abend mit Freunden feiern werde. Vom Sekt leicht beschwipst mache ich mich ein wenig später auf den Weg zu meiner Familie, die eine knappe halbe Stunde von der Schule entfernt wohnt. Meine Stiefmutter macht mir zu Ehren heute ganz traditionell Schweinebraten mit Knödeln und Blaukraut. Als ich sechs Jahre alt war, haben mein Vater und Marlies geheiratet und ich habe noch einen Bruder und eine Schwester dazu bekommen. Felix ist achtzehn und besucht die Fachoberschule, während unser Nesthäkchen Antonia nach den Ferien die vierte Klasse der Grundschule besuchen wird.

Meine leibliche Mutter habe ich nie kennengelernt, ihre gesamte Existenz und die Umstände, wie sie mich damals bei meinem Vater gelassen hat, sind sehr mysteriös. Ich weiß nur, dass ich wohl aus einem One-Night-Stand entstanden bin. Sie hat meinem Vater nicht mal ihren Namen genannt. Alles, was ich von ihr habe, ist ein unförmiger, geschliffener Smaragd, in der Größe einer Zwei-Euro-Münze. Mein Vater hat mir den Edelstein an meinem zwölften Geburtstag gegeben, seitdem trage ich ihn an einem Lederband um den Hals. Vaters Erzählungen nach muss meine Mutter wunderschön gewesen sein, aber sehr geheimnisvoll und zurückhaltend. Ihre Augen sollen vom selben intensiven Grün gewesen sein wie der Smaragd. Und genau diese Farbe haben auch meine Augen, aber ich verstecke sie unter braunen Kontaktlinsen. Als Kind bin ich ständig angeglotzt und gehänselt worden, bis mein Augenarzt offiziell eine Lichtempfindlichkeit diagnostizierte und ich in der Schule eine Brille mit verdunkelten Gläsern tragen durfte. Der Arzt hat damals gesagt, es wäre wohl eine Laune der Natur, er selbst habe in seiner ganzen Laufbahn nie solch eine Augenfarbe gesehen – auch keiner seiner Kollegen. Es ist nicht nur dieses tiefe Grün allein, manchmal scheinen meine Augen regelrecht von innen zu leuchten. Je nach Stimmung variiert die Farbe. Wenn ich zum Beispiel wütend bin, wird sie dunkel wie der Grund eines Moorsees. Bei Aufregung jeglicher Art scheint das Grün am intensivsten und dann tanzen goldene Lichter in den Iriden.

Vater erinnert sich an eine feucht-fröhliche Nacht, in der er mit einigen seiner Studienkollegen um die Häuser gezogen war. Meine Mutter stand plötzlich irgendwann da und hat ihn buchstäblich verzaubert. Diese Begegnung muss wie ein Rausch gewesen sein, der jedoch nicht nur dem Alkohol geschuldet war. Sie besaß eine außergewöhnliche Aura, die alles wie im Traum erschienen ließ, erzählt er heute noch mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten kann. Zerstreut, verwundert und nachdenklich, würde ich sagen.

Am Morgen danach war sie verschwunden und tauchte gut neun Monate später mit mir auf, um mich quasi einfach auf der Türschwelle abzulegen. Vater hat sie nur kurz gesehen und sie sagte ihm, ich sei etwas ganz Besonderes und er solle mir einen schönen Namen geben. Ich glaube nicht, dass sie damit so etwas wie ‚Benjamin‘ meinte, denke ich seufzend und verdrehe in Gedanken die Augen. Auch wenn sie ihr eigenes Kind verließ, hat er nie ein böses Wort über sie verloren – im Gegenteil. Sie wirkte wohl sehr unglücklich und hat mich unter Tränen bei ihm gelassen. Was meine eigenartige Gabe betrifft, dass ich mit Pflanzen kommunizieren und diese heilen und wachsen lassen kann: Ich bin sicher, es hat etwas mit meiner leiblichen Mutter zu tun. Wenn ich diese Fähigkeiten von ihr habe, macht es mich unglaublich wütend, dass sie mich ohne ein Wort der Erklärung zurückgelassen hat.

Meine Familie lebt im Stadtteil Oberföhring und so führt mich mein Weg erneut quer durch den Englischen Garten, der jetzt von Schülern, Spaziergängern und Touristen nur so wimmelt. An der Wohnungstür angekommen, ist mein kleiner Schwips bereits verflogen, dafür knurrt mein Magen. Marlies öffnet mir die Tür und schließt mich sofort in die Arme. Sie hat nie einen Unterschied zu ihren eigenen Kindern gemacht und mich immer so geliebt, wie eine Mutter es tun sollte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar.

„Ben! Alles Gute zum Geburtstag, mein Lieber. Wie war es in der Schule? Hast du Hunger?“

„Danke, ach wie immer, ja und wie“, erwidere ich grinsend, um ihre Fragen in der richtigen Reihenfolge zu beantworten. Sie nimmt mich kichernd an der Hand und zieht mich in die Wohnküche. Sofort stürmt mir ein blonder Wirbelwind entgegen und ich schließe meine kleine Schwester in die Arme und hebe sie hoch.

„Hey, Prinzessin!“ Ich küsse sie auf die Wange. „Wie war der letzte Schultag?“

„Gut, aber sehr stressig“, antwortet sie augenrollend, worauf ich lache. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Antonia schlingt ihre Arme so fest um meinen Hals, dass ich beinahe ersticke und zum Spaß Würgegeräusche mache.

„Du … bringst … mich … ja … um“, krächze ich, „aber vielen Dank.“

Antonia gluckst, während ich sie wieder auf dem Boden abstelle, um den Rest der Familie zu begrüßen. Felix ist viel zu cool, um mich zu umarmen und so streckt er mir die Hand entgegen und klopft mir mit der anderen auf die Schulter.

„Alles Gute, Bro“, gratuliert er mir lässig und grinst schief.

„Danke.“ Ich grinse zurück und boxe ihm leicht gegen die Brust.

„Ben!“ Mein Vater kommt auf mich zu und schließt mich in seine Arme.

„Alles Gute zum Geburtstag! Wir haben schon auf dich gewartet.“ Er blickt mich stolz an und schüttelt langsam den Kopf. „Sechsundzwanzig“, sagt er, als könne er es kaum glauben. „So viele Jahre ist es schon her, dass du so unerwartet in mein Leben geschneit bist und es jeden Tag schöner und glücklicher gemacht hast.“

Ich hebe eine Augenbraue. „So? Ich dachte, du wusstest damals nicht mal, was ein Baby ist und hast Oma und Opa erstmal panisch nach einer Gebrauchsanweisung gefragt?“, antworte ich frech, worauf alle lachen. Antonia hält sich die Hände vor den Mund und prustet los. Vater wird tatsächlich ein bisschen rot und kratzt sich hinter dem Ohr. Obwohl er langsam grau an den Schläfen wird, sieht er gerade unheimlich jung aus.

„Na ja …“, sagt er peinlich berührt und wirft seiner Jüngsten einen gespielt beleidigten Blick zu, worauf sie noch mehr lacht. „Ich war ja damals noch selbst sehr jung … nicht recht viel älter als Felix jetzt. Ich wusste nicht, was so ein Baby braucht und wie herum man es hält. Außerdem musste ich jeden Tag zur Uni und hätte mich gar nicht alleine um Ben kümmern können. Ja, ich gebe zu, ohne Oma und Opa wäre ich komplett aufgeschmissen gewesen.“

„Wo sind die beiden überhaupt?“, frage ich. „Ich dachte, sie wollten auch kommen?“ Marlies will gerade antworten, als es auch schon an der Tür klingelt.

„Ich geh schon!“, ruft Antonia fröhlich, während sie aus der Wohnküche in den Flur saust. Ich muss innerlich lachen, als ich höre, wie überschwänglich meine Schwester unsere Großeltern begrüßt.

„Da ist ja jemand schon wieder einen Meter gewachsen“, sagt Großvater gespielt erstaunt, worauf Antonia kichert.

„Quatsch, Opa! Doch nicht einen Meter!“, erwidert sie altklug. „Kommt schnell, Ben ist schon da!“

Großmutter schließt mich als erste in ihre Arme, um zu gratulieren. Wie immer sieht sie sehr elegant aus. Ich kann mich nicht erinnern, sie einmal ohne ein schönes Kostüm gesehen zu haben und ohne dass ihr graues, kinnlanges Haar in gepflegte Wellen gelegt war.

„Ben, mein Lieber“, sagt sie sanft. „Alles Gute zum Geburtstag. Hach, manchmal habe ich das Gefühl, es war gestern, als dein Großvater und ich nach dem aufgeregten Anruf deines Vaters gekommen sind und dich das erste Mal im Arm hielten.“ Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen werden feucht. „Uns war sofort klar, dass du ein ganz besonderer Junge bist.“ Sie sieht mich verschwörerisch an und zwinkert mir zu. Meine Großeltern, Marlies und auch Felix wissen von meiner Gabe, Antonia jedoch noch nicht. Sie wird es irgendwann erfahren, wenn sie größer ist und keine Gefahr mehr besteht, dass sie sich irgendwann, irgendwo verplappern könnte. „Es war Liebe auf den ersten Blick – du warst ja so ein hübsches Baby“, fährt Großmutter fort und seufzt selig. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und bedanke mich gerührt.

„Ich war doch auch ein hübsches Baby, oder?“, ruft Antonia dazwischen, worauf Großmutter ein Stück zurücktritt und ihr lächelnd über den Kopf streicht.

„Natürlich warst du das, Liebes.“

„Felix war bestimmt hässlich, oder?“, fragt sie, worauf unser Bruder lautstark protestiert.

„Hey, ich war der Hübscheste von allen! Bin ich heute noch.“

Wir lachen alle, während mir mein Großvater gratuliert.

„Glückwunsch, mein Junge“, sagt er und zieht mich in eine holprige Umarmung, während er mir auf den Rücken klopft. Mein Großvater passt optisch zu seiner Frau, wie ein Bauarbeiter auf ein rosa Plüschsofa und doch sind sie das harmonischste Paar, das ich kenne. Ohne seine bayrische Lederhose verlässt er nicht das Haus, was meine Großmutter stets unkommentiert und mit einem resignierten Lächeln akzeptiert. Seinen grauen Bart, der ihm mittlerweile bis gut zehn Zentimeter unters Kinn reicht, hegt und pflegt er, wie andere ihr teuerstes Pferd.

„Ich habe mir gedacht, wir essen in der Küche und zum Kaffee gehen wir hinüber ins Wohnzimmer.“ Marlies nimmt ihre Kochschürze ab und begrüßt ihre Schwiegereltern. Ihre eigenen Eltern wohnen am anderen Ende von Deutschland, in Hamburg, daher sehen wir sie nicht sehr oft. Jeden Besuch in der Hansestadt verbinde ich mit schönen Erinnerungen.

Wir sitzen am großen runden Tisch in der Küche und ich genieße die Zeit mit meiner Familie. Wir kommen viel zu selten alle zusammen und so hat jeder etwas zu erzählen. Meine Großeltern planen einen Wochenendtrip nach Südtirol, worauf sie sich sehr freuen. Felix erzählt uns, dass er momentan einen Abitur-Schnitt von 1,8 hat und auf alle Fälle das dritte Jahr zur allgemeinen Fachhochschulreife machen wird. Antonia wünscht sich zu ihrem Geburtstag auch einen Schweinebraten, aber mit größeren Knödeln – außerdem eine Meerjungfrauen-Barbie, samt Meermann-Ken dazu. Vater und Marlies sehen einander wie immer verliebt an und halten am Tisch Händchen. Ich schweige und beobachte dankbar unsere fröhliche Runde.

Während die anderen nach dem Essen ins Wohnzimmer hinüber gehen, bleiben Vater, Großvater und ich noch in der Küche, um gemeinsam einen Schnaps zu trinken. Vater schenkt uns drei Williams ein und wir stoßen an.

„Auf dich, mein Junge“, sagt Großvater stolz und Vater nickt beipflichtend.

„Auf dich, Ben!“ Ich schlucke das grausige Zeug und schüttle mich innerlich, als ich plötzlich einen Windhauch spüre. Mein Blick fällt zum Fenster hinüber, wo eine Basilikumpflanze im Topf ums Überleben kämpft.

„Oh Gott, du armes Ding“, sage ich entsetzt und gehe hinüber, um den Schaden genauer unter die Lupe zu nehmen. Vater und Großvater folgen mir.

„Kannst du da noch was machen?“, fragt Großvater und blickt dann seinen Sohn missbilligend an. „Ja, gießen musst du deine Pflanzen schon, Ludwig“, fügt er tadelnd hinzu und schnalzt ein paar Mal mit der Zunge. Vater zuckt mit den Schultern und ich muss innerlich lachen, weil er wie ein kleiner Junge den Kopf einzieht, als hätte er was angestellt und wäre dabei erwischt worden.

„Ich weiß nicht, was ich falsch mache, aber dieses scheiß Basilikum geht mir immer ein.“

Als ich ihm einen vorwurfsvollen Blick zuwerfe, entschuldigt er sich sofort.

„Ich meine, also ohne scheiß … nur Basilikum, sorry.“

„Schon gut, sie nimmt es dir nicht krumm“, antworte ich und nehme die Pflanze näher in Augenschein. Sie ist völlig ausgetrocknet.

„Du hast sie zu wenig gewässert. Außerdem verträgt sie kein kaltes Wasser und vermutlich hast du wieder darüber gegossen, statt in den Übertopf.“

Er kratzt sich hinter dem Ohr.

„Ist das denn wirklich so wichtig?“

„Jep, ist es“, antworte ich, während ich meine Hände knapp über den verdorrten Blättern schweben lasse und konzentriert die Augen schließe. In meinem Kopf höre ich den Wind, der die Wipfel der Bäume sanft hin und her wiegt, Vogelgezwitscher, hoch oben in den Baumkronen … und das vertraute Flüstern und Ächzen der Pflanzen, wenn ich sie heile. Wenn sie zu neuem Leben erwachen, mir ihre Blütenköpfe und Blätter entgegenstrecken. So rasch wie sie gekommen sind, verstummen die Geräusche und als ich die Augen öffne, ist die Pflanze satt und grün und gesund. Lächelnd berühre ich eines der Blätter behutsam mit den Fingerspitzen. Der intensive Duft von Basilikum steigt mir in die Nase und erfüllt den ganzen Raum.

„Auch wenn es mich immer wieder fasziniert, macht es mir doch genauso viel Angst“, wispert Vater neben mir. Als ich ihn ansehe, starren er und Großvater den Kräutertopf mit großen Augen an.

„Macht euch keine Sorgen, ich kann es mittlerweile ganz gut steuern. Niemand außer euch und Sabrina wird es je erfahren.“

„Das war aber nicht immer so und ich denke mit Grauen an die Zeit zurück, als es dir Angst gemacht hat und du dich allein und ausgeschlossen gefühlt hast“, erwidert Vater leise.

„Da war ich noch ein Kind.“ Ich lege eine Hand auf seine Schulter. „Wir hatten es wirklich nicht leicht. Aber ihr habt immer an mich geglaubt und mich behandelt, wie ein ganz normales Kind.“

„Das warst du für uns ja auch“, erwidert Großvater nachdrücklich. „Na ja, mit ein paar Extras halt.“

Ich grinse. „Ich kann mich noch an Papas Gestammel erinnern und an seine Schweißausbrüche, als er versucht hat, der Nachbarin zu erklären, wie unsere Zimmerpflanzen über Nacht mutieren konnten.“

Heute können wir gemeinsam darüber lachen … auch bei der Erinnerung, wie ich in der Schule mein Klassenzimmer verschönern wollte und es plötzlich aussah, als würde sich der Raum mitten im Wald befinden. Als ich etwa acht oder neun war, hat alles angefangen. Ich interessierte mich immer mehr für die Natur und die verschiedenen Pflanzen. Ich hörte ihr Flüstern und war imstande, sie wachsen zu lassen, oder zu heilen. Anfangs habe ich es überhaupt nicht kontrollieren können und es war sehr schwer, alles zu erklären. Mit der Zeit habe ich gelernt, meine Fähigkeiten zu unterdrücken, oder gezielter einzusetzen.

„Und heute bist du ein junger, erfolgreicher Mann und ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.“ Vater lächelt selig und scheint für ein paar Sekunden in Erinnerungen zu schwelgen. In dem Moment steckt Marlies den Kopf zur Tür herein

„Kommt ihr? Ben, du musst die Kerzen ausblasen.“

Eine Tasse Kaffee und zwei Tortenstücke später wird es Zeit, nach Hause zu fahren, denn ich hab’ noch einiges vor.

„Dann wünsche ich dir ganz viel Spaß heute Abend“, sagt Marlies, während sie den Rest der Geburtstagstorte in eine Frischhaltedose packt.

„Nicht so viel!“ Ich verdrehe die Augen. „Wer soll denn das alles essen?“

„Ach, ich kenn euch doch“, mischt sich Vater grinsend ein und drückt Marlies einen Kuss auf die Wange. „Ihr kommt um drei Uhr morgens betrunken heim und habt tierischen Hunger.“

Als ich ihn amüsiert mustere, zuckt er mit den Schultern. „Was? Das war bei uns damals auch nicht anders, stimmt’s Schatz?“, wendet er sich an seine Frau, die ihm beipflichtet, indem sie vehement nickt.

„Auf jeden Fall! Wenn es wirklich zu viel ist, kannst du deinen netten Nachbarn etwas bringen.“

Ich hebe beschwichtigend die Hände. „Okay, okay … ich nehm’s ja mit. Bei Kreon und Anna schauen wir eh noch vorbei, bevor wir gehen. Vielen Dank.“

Nachdem ich mich vom Rest der Familie verabschiedet habe, begleitet mich Vater zur Tür.

„Ben?“

„Ja?“ Die Hand bereits auf der Türklinke, schaue ich mich nach ihm um.

„Du trägst doch den Stein, oder?“ Plötzlich wirkt er nervös. „Ich weiß, das ist albern, aber ich habe tatsächlich das Gefühl, er beschützt dich … irgendwie. Keine Ahnung. Gerade wenn ihr nachts unterwegs seid.“ Hilflos zuckt er mit den Schultern und lächelt mich schief an. Instinktiv greife ich in den Kragen meines Hemdes, taste nach dem Edelstein und ziehe ihn hervor.

„Klar, Papa – immer.“

„Nimm ihn nicht ab, okay?“

Ich schüttle lächelnd den Kopf. „Niemals, versprochen.“

Zur selben Zeit in Mytherra, im Schimmerwald …

Hektor

Mit jedem Schritt, den ich mich vom Zentauren-Lager entferne, kann ich leichter atmen. Manchmal habe ich das Gefühl, es keinen Tag mehr dort aushalten zu können, aber wo sollte ich denn sonst hin? Zentauren sind Wesen, die nur in Clans leben. Wir sind keine Einzelgänger und doch fühle ich mich unheimlich einsam. Mein Blick folgt einem der letzten Sonnenstrahlen, die sich vor der Abenddämmerung ihren Weg zwischen die dicht stehenden Bäume erkämpfen. Ich schließe seufzend die Augen und genieße für einen Moment die friedliche Stille. Nur ganz oben, in den Wipfeln der Tannen, Kiefern und Eichen hört man das fröhliche Zwitschern der Vögel. Ich bin auf dem Weg zum Teich, wo ich mich mit Lilaja verabredet habe. Seit Kreons Flucht vor zehn Jahren gab es fast keinen Tag, an dem wir uns nicht gesehen haben. Die offene Abneigung und der Hass des Clans sind oft unerträglich. Hier im Wald habe ich das Gefühl, Kreon näher zu sein. Zugleich übermannt mich oft die Wut, denn wegen ihm bin ich nichts anderes, als der Bruder des Verräters.

Lilaja wartet bereits auf mich und winkt mir fröhlich zu, bevor sie zügig ans Ufer schwimmt. Ihre unbeschwerte Art ist jedes Mal Balsam für meine geschundene Seele. Mit ihr kann ich meine Sorgen teilen, sie hört mir stundenlang zu. Die Najade ist wie eine Schwester für mich - und das war sie auch für Kreon.

Der Sonnenuntergang hinterlässt ein prächtiges Farbenspiel, das rot und orange auf dem Wasser tanzt. Es heißt, die Zeit heile alle Wunden, doch ich vermisse meinen älteren Bruder mit jedem Tag mehr. Besonders nachts, wenn der Himmel klar ist und die Sterne das Firmament erleuchten, scheint die Sehnsucht beinahe unerträglich. Wenn sich das Sternbild des Zentauren hell und eindrucksvoll am Himmel zeigt, schnürt es mir vor Kummer die Brust zusammen. Kreon hat jeden einzelnen Stern und jeden Planeten benennen können, und er wusste über viele Sternbilder eindrucksvolle Geschichten zu erzählen. Ich konnte ihm stundenlang zuhören, wenn wir zusammen im Wald waren. Und nun weiß ich nicht einmal, ob mein Bruder noch lebt.

Mittlerweile verbringe ich sehr viel Zeit im Wald – zum Ärgernis von Rigorus, dem Oberhaupt des Clans. Ich kann kaum glauben, dass mein bester Freund Nox wirklich sein Sohn ist. Er ist treu, hilfsbereit und gutherzig – Eigenschaften, die seinem Vater gänzlich fehlen. Dann ist da noch die Dorfälteste Silva. Sie ist so etwas wie die gute Seele, Heilerin und Medizinfrau. Alle bringen ihr den größten Respekt entgegen. Niemand weiß, wie alt sie wirklich ist, und jeder nennt sie einfach nur Großmutter Silva. Bei ihr fühle ich mich jederzeit willkommen. Sie ist die einzige, die Kreon und mich niemals aufgrund dessen, was wir sind, verurteilt hat. Der Rest des Clans meidet mich, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Diese Tatsache nagt an meinen Eingeweiden, reißt mir fast das Herz heraus. Ich möchte doch einfach nur dazugehören.

Ein Schwall Wasser in meinem Gesicht beendet meine düsteren Gedanken abrupt und ich zucke erschrocken zusammen. Meine rechte Hand schnellt ganz automatisch zum Köcher und will schon nach einem Pfeil greifen, als ich registriere, dass sich Lilaja einen Spaß erlaubt hat.

„Hey hey, ganz ruhig, Weißer. Träumst du schon wieder, Hektor?“ Lilaja hebt beschwichtigend die Hände über den Kopf und kichert. Die Nymphe steigt anmutig aus dem Wasser und sieht mich schelmisch grinsend an. Schon allein ihre Erscheinung zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht und ich entspanne mich rasch wieder. Lilajas Körper schmückt ein kunstvoll gebundenes Arrangement aus Wasserpflanzen, Muscheln und Seerosen. Ihre nackte Haut blitzt lediglich an Beinen, Armen und am Bauch hervor.

„Himmel, Lilaja! Irgendwann jage ich dir versehentlich einen Pfeil in dein hübsches Köpfchen, wenn du mich so erschreckst.“

„Entspann dich“, antwortet sie lachend und schüttelt den Kopf, so dass die eingeflochtenen Muscheln in ihrem Haar aneinander klappern. Sie mustert mich nachdenklich. „Was ist los? Wieder Ärger mit Rigorus?“

Ich schüttle den Kopf und seufze.

„Ich habe gerade an meinen Bruder gedacht“, antworte ich leise. „Ob es ihm gut geht, dort wo er jetzt ist?“

Lilaja legt ihre schmale Hand auf meinen Oberarm. Sie ist kalt, nass – und tröstend.

„Bestimmt. Er hat eine Frau, die ihn liebt. Und er muss sie sehr lieben, nachdem er sein Leben für sie riskiert und alles hier aufgegeben hat.“

Ich stoße ein höhnisches Schnauben aus und scharre mit dem rechten Vorderhuf im Kies.

„Genau, du sagst es! Aufgegeben! Seinen eigenen Bruder“, erwidere ich voller Zorn. „Er ist ein Narr und sie ein verdammter Mensch! Ich hasse die Menschen und werde jeden einzelnen, der meinen Weg kreuzt, mit meinen Pfeilen durchlöchern, das schwöre ich dir!“

Lilaja verdreht die Augen. „Oh, wie melodramatisch, Hektor. Beruhige dich!“, erwidert sie streng. „Dein Bruder hat sich für die Liebe entschieden“, fügt sie gleich darauf in sanfterem Ton hinzu. „Ist das nicht das Wichtigste?“

Ich sehe auf sie hinunter, direkt in ihre großen, seeblauen Augen.

„Aber zu welchem Preis?“, antworte ich aufgebracht. „Er steckt für immer im Körper eines Menschen und musste unsere Welt für immer verlassen. Und seinen Bruder! Eher würde ich sterben!“

Lilaja seufzt schwer und blickt auf das Wasser hinaus.

„Er hat es aus Liebe getan“, murmelt sie.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und schüttle den Kopf. „Nein, er hat unsere Rasse verraten … und mich ebenso!“

Lilaja weiß offensichtlich nichts mehr zu antworten und senkt den Kopf. Wir schweigen eine Weile und ich lausche den vertrauten Geräuschen des Waldes. Das ferne Rauschen des Windes in den Baumwipfeln und der Ruf des Kuckucks beruhigen mich etwas. Dennoch kann ich einfach nicht verstehen, warum Kreon seinen geliebten Wald und seinen Bruder gegen ein Leben bei den Menschen eingetauscht hat. Warum er mich verlassen hat, als ich erst vierzehn Jahre alt war … noch ein Kind. Ich hätte Kreon all die Jahre so sehr gebraucht.

„Hey“, unterbricht Lilaja irgendwann meine düsteren Erinnerungen. „Wenn du dich verwandeln würdest, könnten wir um die Wette schwimmen und tauchen!“ Ihre blauen Augen blitzen auf, sie legt den Kopf schief und blickt mich herausfordernd an.

„Du weißt genau, dass ich mich nicht in so ein ‚Ding’ verwandle“, antworte ich schroff. „Ich bin ein Zentaur!“

„Toll“, sagt Lilaja unbeeindruckt. „Ein Sturschädel bist du! Ich hab’ dich noch nie in menschlicher Gestalt gesehen, obwohl wir uns nun schon so lange kennen.“ Sie klingt enttäuscht.

„Das wirst du auch nicht erleben.“ Ich recke das Kinn. „Niemals.“

„Na schön, dann lass uns zur Grotte gehen.“ Lilaja wendet sich um und bedeutet mir mit einem Kopfnicken, ihr zu folgen. Die kleine Grotte, in der die Nymphe lebt, liegt verborgen hinter einem Wasserfall, aber man kann auch über ein verstecktes Höhlensystem auf dem Landweg hineingelangen. Bei meiner Größe ist es etwas schwierig, mich durch die engen Gänge zu bewegen, aber durch den See und unter dem Wasserfall hindurch zu schwimmen, wäre für mich sehr mühsam. Zentauren sind schließlich nicht als die besten Schwimmer bekannt.

Drinnen schenkt Lilaja Wein ein und reicht mir einen Becher. Ihre Behausung ist nicht groß, aber sie hat so viel Liebe hineingesteckt, dass man sich sofort wohl und geborgen fühlt.

„Na, wie ist die Stimmung im Lager der Zentauren?“, fragt sie und blickt mich besorgt an. Ich zucke mit den Schultern und nehme einen Schluck Wein.

„Sie werden mich nie als einen der Ihren ansehen“, antworte ich leise. „Für sie bin und bleibe ich ein Halbblut und der Bruder eines Verräters.“ Ich seufze. „Kreon hat mir die Chance genommen, jemals im Clan akzeptiert zu werden.“

Unruhig wandert mein Blick über die vielen kleinen Muscheln und Steine, die die Wände schmücken. Das sanfte Licht umher tanzender Glühwürmchen sollte heimisch wirken, doch nicht für mich. In einer fließenden Bewegung setzt sich Lilaja auf einen der mit Fellen gepolsterten Baumstämme und sieht mit nachdenklich an.

„Glaubst du das wirklich?“ Sie legt den Kopf schief. „Ich denke, tief in deinem Herzen weißt du, dass das nichts mit Kreon zu tun hat.“

Ich will ihr widersprechen doch sie hebt die Hand und schüttelt vehement den Kopf. „Mit Sicherheit hat dies alles noch viel schlimmer für dich gemacht. Aber die Tatsache, dass du … dass ihr beide niemals ganz und gar zum Clan gehören würdet, ist allein dem Fanatismus dieser arroganten, starrsinnigen Idioten zu verdanken. Sie akzeptieren niemanden, der anders ist und haben Angst, dass ihr ihnen überlegen seid.“ Sie lächelt mich aufmunternd an. „Nun ja, das entspricht ja auch der Tatsache.“

Ich atme tief ein und stoße die angehaltene Luft aus.

„Wenn ich nur wüsste, was geschehen ist, nachdem er durch das Portal ging. Nicht zu wissen, ob mein Bruder lebt, quält mich jeden Tag.“

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