Kitabı oku: «Geist & Leben 4/2021»
Inhalt
Heft 4 | Oktober–Dezember 2021 Jahrgang 94 | Nr. 501
Notiz
Wohltuend unaufgeregt
Christoph Benke
Nachfolge
Jean-Joseph Surins unkonventionelle Josefs-Verehrung
Rob Faesen SJ
Keuschheit neu gelesen. Auf der Spur des hl. Josef
Bischof Franz Jung
Radikale Ohnmacht. Politik als geistlicher Weg bei Martin Buber und Vernard Eller
Marc Pauly
Nachfolge | Kirche
Vulnerabilität und Fragment. Ein neuer Zugang zur eucharistischen Anbetung
Jens Brückner
Das Universum – Körper Gottes? Überlegungen zur Bezeichnung „Leib Christi“
Saskia Wendel
Das Kloster Toumliline und die Frage des Anderen. Ein Tagungsbericht
Markus Kneer
Nachfolge | Junge Theologie
Augenblicke. Liturgie unter geänderten Bedingungen
Saskia Löser
Reflexion
Gegensätzliches Denken. Zu einer Kultur der Kontroverse nach Simone Weil
Marc Röbel
Was ist Berufung? Eine Reflexion im Anschluss an das Zweite Vaticanum
Benedikt Poetsch
An den Grenzen von „Radical Orthodoxy“ (Teil II). Ein theologischer Problembefund
Andreas G. Weiß
Vor, mit und ohne Gott. Dietrich Bonhoeffer und die Pandemie
Markus Knapp
Lektüre
Eugénie Smet. Gründerin der Helferinnen
Michel de Certeau SJ
Theopoesie aus benediktinischem Geist. Ein Nachruf auf Drutmar Cremer OSB
Georg Langenhorst
Buchbesprechungen; Jahresinhaltsverzeichnis
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Britta Konlechner-Mühl (Redaktionsassistenz)
Redaktionsbeirat:
Margareta Gruber OSF / Vallendar
Stefan Kiechle SJ / Frankfurt
Bernhard Körner / Graz
Edith Kürpick FMJ / Köln
Ralph Kunz / Zürich
Jörg Nies SJ / Stockholm
Andrea Riedl / Regensburg
Klaus Vechtel SJ / Frankfurt
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)664–88680583
Artikelangebote an die Redaktion sind willkommen. Informationen zur Abfassung von Beiträgen unter echter.de/zeitschriften/geist-und-leben. Alles Übrige, inkl. Bestellungen, geht an den Verlag. Nachdruck nur mit besonderer Erlaubnis. Werden Texte zugesandt, die bereits andernorts, insbesondere im Internet, veröffentlicht wurden, ist dies unaufgefordert mitzuteilen. Redaktionelle Kürzungen und Änderungen vorbehalten. Der Inhalt der Beiträge stimmt nicht in jedem Fall mit der Meinung der Schriftleitung überein. Für Abonnent(inn)en steht GuL im Online-Archiv als elektronische Ressource kostenfrei zur Verfügung. Nichtabonnent(inn)en können im Online-Archiv auf die letzten drei Jahrgänge kostenfrei zugreifen. Registrierung auf echter.de/zeitschriften/geist-und-leben.
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Diesem Heft liegen folgende Prospekte bei:
Lebendige Seelsorge, Echter Verlag
… träume ich von Flügeln, Echter Verlag
Wir bitten um Beachtung.
Notiz
N
Christoph Benke | Wien
geb. 1956, Priester, PD Dr. theol. habil., Schriftleiter von GEIST & LEBEN
Wohltuend unaufgeregt
Die Medienwelt funktioniert nach ungeschriebenen Gesetzen. Eines lautet: Empöre Dich! Soziale Netzwerke setzen sich zu einem Gutteil aus Kurz-Glossen zusammen, deren Inhalt aus Entrüstung besteht. Sich aufregen gehört zum guten Ton. Wer sich mit-empört, darf sich dazu zählen. Das hat zur Folge, dass es bald nicht mehr um die Sache geht, sondern darum, wer auf welcher Seite steht. Die in unserer Gesellschaft – und Kirche – zu beobachtenden Phänomene der Polarisierung, der Entzweiung und des Lagerdenkens nähren sich auch aus dem Gestus der Empörung. Nicht zuletzt: Die Erregung hält das Geschäft am Laufen.
Freilich, auch ich bin Teil der Empörungsgesellschaft. Der Hund in meinem Inneren bellt, manchmal ziemlich laut. Manches, was ich aus meiner Perspektive als Fehlentwicklung in Gesellschaft und Kirche einschätze, regt mich auf. Wohin mit Wut und Enttäuschung?
Wie so oft ist genaueres Hinschauen angebracht und Unterscheidung vonnöten. Zweifellos gibt es vieles, was nicht hinnehmbar und eine Empörung wert ist. Aber entsteht daraus echter, fundierter Protest, der sich, wenn nötig, auch längerfristig engagiert? Oder handelt es sich eher um ein momentanes, gereiztes Genörgel, das im Unverbindlichen bleibt? Die Lust an der Entrüstung hängt wohl auch mit der Art der Kommunikation zusammen. Gedankenexperiment: Würden mehr Briefe geschrieben, weniger aus unmittelbarer Betroffenheit, sondern mehr aus der Distanz heraus und in wohlüberlegten Worten – wer weiß, vielleicht gäbe es weniger Grund zur Empörung. Vielleicht hätte sich die eine oder andere Aufregung schon gelegt. Einer übereilten, hastigen Reaktion ist die Gefahr des Sich-Überhebens und des allzu schnellen Ver-Urteilens nicht bewusst.
Und was stattdessen? Gleichgültigkeit kann es nicht sein. Auch nicht das, was man heute coolness nennt. Die diversen Zumutungen des Lebens und der Mitmenschen lethargisch abperlen lassen – das ist keine Alternative, jedenfalls keine christliche. Zu erbitten wäre das „Charisma der Unaufgeregtheit“. Ja, dabei handelt es sich tatsächlich um ein Charisma, denn dadurch wird Communio gefördert und Gemeinde aufgebaut. Das Charisma der Unaufgeregtheit baut Gemeinde mehr – im Sinne von: nachhaltiger – auf als überreizter Enthusiasmus oder äußere Begeisterung. „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, / verricht das Deine nur getreu“ (Gotteslob 424,5), so singt eine Liedzeile des 17. Jahrhunderts. Die Arbeit verlässlich tun, dranbleiben, und in allen Krisen und unvorhergesehenen Wendungen an Gott festhalten und ihn loben. Das ist mit Sicherheit eines: unaufgeregt. Wohltuend unaufgeregt. Gelegentlich mag sich dieses Programm langweilig anfühlen. Doch wo steht geschrieben, dass Leben nur aus Hochgefühl besteht? Angesichts vieler Schwierigkeiten und Krisen, vor denen wir derzeit ratlos stehen, braucht es statt Empörung die transformierende Kraft der Erinnerung an das in der Taufe geschenkte „schon“ der Erlösung. Hier hat die Übung der Dankbarkeit ihren Ort. Sie führt das Präsentische vor das innere Auge.
Die mystische Überlieferung des Christentums spricht von der sobria ebrietas, der „nüchternen Trunkenheit“. Diese paradoxe Formel beschreibt treffend, was christliches Leben – und auch den christlichen Kult – trägt: Nicht die Versenkung, nicht die Entrückung, sondern die Wachsamkeit und die Normalität; nicht der Rausch (auch an der eigenen Empörung kann man sich berauschen), sondern die maßvolle An-Spannung. Gott ist nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer; ein „sanftes, leises Säuseln“ (1 Kön 19,12) weist auf ihn hin.
Die immer neue Lust an der Empörung war immer problematisch, „natürlich“ auch in christlichen Gemeinden. Die Mahnung des Epheserbriefes lässt darauf schließen: „Über eure Lippen komme kein böses Wort, sondern nur ein gutes, das den, der es braucht, auferbaut und denen, die es hören, Nutzen bringt! Betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, den ihr als Siegel empfangen habt für den Tag der Erlösung! Jede Art von Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung mit allem Bösen verbannt aus eurer Mitte! Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, wie auch Gott euch in Christus vergeben hat.“ (Eph 4,29–32) Würde der Rat des Jakobusbriefes umgesetzt, könnte die Epoche der Daueraufregung ein Ende finden: „Jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn“ (Jak 1,19).
Und doch gibt es einen Ort, zu dem Entrüstung passt: Jesus Christus. Das Evangelium ließe sich auch als ein Empörungsangebot lesen. Jesus ist der Skandal schlechthin. „Und sie nahmen Anstoß an ihm“ (Mk 6,3). Der griechische Urtext sagt eskandalízonto: Die Leute waren skandalisiert und empört, und dies nicht nur einmal. Sich an Jesus Christus abzuarbeiten, ist eine stetige Aufgabe. Vertrautheit kann in falsche Routine kippen. Gelegentlich über Jesus und sein Evangelium zu stolpern, sich die Hülle des allzu Vertrauten nehmen zu lassen, wäre also nicht das Schlechteste. Vor allem dann, wenn am Ende dadurch die Vertrautheit mit Christus sogar gewachsen wäre.
NNachfolge
Nachfolge
N
Rob Faesen SJ | Leuven (BEL)
geb. 1958, Dr. theol., Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte an der KU Leuven
Jean-Joseph Surins unkonventionelle Josefs-Verehrung*
Jean-Joseph Surin SJ (1600–1668) ist ein ziemlich unbekannter, aber interessanter Jesuit des 17. Jahrhunderts. Nicht nur sein außergewöhnlich dramatisches Leben, sondern auch seine Schriften, welche der Historiker Michel de Certeau SJ (1925–1968) intensiv studierte, verdienen Aufmerksamkeit. Surin ist ein bemerkenswerter Autor der jesuitischen Tradition, der die mystische Dimension mit präziser theologischer Reflexion verband. Dieser Beitrag fokussiert sich auf einen bestimmten Aspekt, nämlich seine kontroversielle Verehrung des hl. Josef.
Ein dramatisches Leben
Jean-Joseph Surin wurde 1600 in Bordeaux als ältester Sohn eines Beamten geboren. Erzogen am Kolleg der Jesuiten, wurde er mit sechzehn Jahren Mitglied der Gesellschaft Jesu – gegen den Willen seines Vaters. 1626 wurde er zum Priester geweiht. Im Terziat begegnete er Louis Lallemant SJ (1588–1635). Nach einigen Jahren der Arbeit als Missionar in den Marennes (Department Charentes-Maritimes) – einer gänzlich protestantischen Region – wurde er nach Loudun zu den Ursulinen rund um Schwester Jeanne des Anges entsandt, um dort als Exorzist zu wirken. Das Vorkommen außerordentlicher Phänomene in dieser Gemeinschaft war ein öffentliches Spektakel und zog viele Menschen an. Surins Aufgabe war schwierig und überstieg seine Fähigkeiten. Am Ende bot er sich selbst Gott an, mit der Bitte, besessen zu werden, in der Hoffnung, Jeanne des Anges und ihre Mitschwestern von deren Befangenheit zu erlösen. Das Ergebnis: Jeanne und ihre Gemeinschaft fanden sich wieder, aber Surin verlor sich selbst für einige Jahre in Dunkelheit und Verzweiflung. Nach einem gescheiterten Suizidversuch 1645 war er für fünf Jahre physisch und mental gelähmt. Surin selbst beschrieb diese Periode bewegend in einem seiner Bücher, das er sieben Jahre später verfasste.1
Dank der Liebe und Freundschaft vonseiten eines Mitbruders namens Claude Bastide – im Kontrast zu der brutalen Behandlung, welche er von andern erfuhr – verbesserte sich sein Zustand etwas. Erst nach einem Akt totaler Hingabe an Gott am 9. Juni 1656 wurde er gänzlich geheilt. Danach nahm Surin sein aktives Leben wieder auf. Er schrieb exzessiv, aber publizierte davon Zeit seines Lebens nur wenig aufgrund des Misstrauens, das er von seinen Vorgesetzen erfuhr.2 Er starb 1665.
Der hl. Josef und die Mystik
Surin erlaubt es uns, die Entwicklung der Mystik im Jesuitenorden nachzuzeichnen. Wir konzentrieren uns auf ein Element, nämlich die rätselhafte „neue“ Verehrung des hl. Josef. Diese ist in einem berühmten, weit verbreiteten und häufig kopierten Brief erkennbar, den Surin an seine Mitbrüder von La Fleche (Department Sarthe) schrieb. Der Brief ist auf das Jahr 1630 datiert; Surin hatte gerade sein Tertiat vollendet und stand am Ende seiner Formation. Er wurde angehalten, nach Bordeaux zu gehen, um eine neue Aufgabe zu übernehmen. In Bordeaux angekommen, schrieb er einen Brief an seine frühere Gemeinschaft in La Fleche, vor allem an zwei befreundete Mitbrüder, Jean Bagot und Achille Dony d’Attichi. Der Brief beinhaltet eine detaillierte Beschreibung einer Begegnung, welche er auf dem Weg nach Bordeaux hatte. Dort traf er einen jungen Mann, Sohn eines Bäckers aus Le Havre, welcher gerade achtzehn Jahre alt war. Dieser war auf dem Weg nach Paris, um als Laienbruder einer religiösen Gemeinschaft beizutreten. Obwohl ungebildet, schien er in die tiefsten Geheimnisse Gottes eingeweiht, genoss eine tiefe und intime Beziehung zu Gott und hatte außergewöhnliche Einsichten in das mystische Leben. Surins Brief beschreibt die Gespräche, die er mit dem jungen Mystiker führte:
„Ich fragte ihn, ob er den hl. Josef verehrte. Er antwortete, dass der Heilige für die letzten sechs Jahre bereits sein Beschützer war und dass der Herr selbst ihm ihn als Beschützer gab, niemand anderen. Er fügte hinzu, dass nach seiner klaren Einsicht der heilige Patriarch der größte Heilige gleich nach der Heiligen Jungfrau Maria war und dass dieser den Heiligen Geist auf eine ganz andere Weise besitzt als die Apostel, dass er über Seelen wacht, eine Tugend, die vor der Welt verborgen bleiben muss – wie es der Fall war mit seiner eigenen Seele –, dass so wenig über ihn bekannt war, dass Gott indessen beschlossen hatte, dass nur die reinsten Seelen über seine Größe erleuchtet werden sollten. Er fuhr fort und sagte, dass der heilige Josef ein Mann der großen Stille war und dass er nur sehr wenig im Haus Gottes sprach, und dass Maria noch weniger sprach und Gott sogar noch weniger als die beiden sprach, dass seine Augen ihn ausreichend lehrten, wie er mit unserem Gott sprechen solle.“3 Allem Anschein nach pflegte der junge Mann also eine besondere Verehrung des hl. Josef. Obwohl gänzlich ungebildet und auch ohne spirituelle Bildung, hatte er den hl. Josef als geistlichen Führer gewählt.
Hoch bedeutsam ist der folgende Umstand: Jean-Joseph Surin beschreibt das Treffen, nachdem er kurz zuvor das Terziat beendet hatte. Der junge, faszinierende, ungebildete Erleuchtete (illettré éclairé) kommt, wie es scheint, als Geschenk des Himmels, um die Formation Surins zu vollenden. Die Freude, die Surin während dieser Begegnung erfährt, hängt sicherlich mit dem Erkennen eines Elements aus seinem eigenen Leben zusammen. Es überrascht nicht sehr, dass Surin seinen Gesprächspartner nach dessen Verehrung des hl. Josef fragt. Tatsächlich hatte Surin selbst eine mystische Erfahrung, und zwar 1612, als er gerade zwölf Jahre alt war, im selben Alter wie der Bäckerssohn, als Gott diesem den hl. Josef als Seelenführer zur Seite gab. Diese Erfahrung fand in der Kirche der Karmelitinnen in Bordeaux statt – und diese war dem hl. Josef geweiht. Surins Biograph beschreibt die Erfahrung so: „Ein übernatürliches Licht, das ihn auf unaussprechliche Weise die unbeschreibliche Erhabenheit von Gottes faszinierendem Sein erfahren ließ“4. Dieses Ereignis hatte einen großen Einfluss auf Surins Leben. Es ist kaum vorstellbar, dass er diese Begebenheit ebenso wie den Umstand, dass sie sich in einer dem hl. Josef geweihten Kirche zutrug, jemals wieder vergessen würde. Surins Schwester trat der Gemeinschaft ein paar Jahre später bei (1619); seine Mutter verbrachte bei den Karmelitinnen ihren Lebensabend.
Der junge, mystisch begabte Bäckerssohn war nicht die einzige Person, die Surin getroffen hatte und die dem hl. Josef zugetan war. Zwei Jahre später erwähnt er in einem anderen Brief eine Frau namens Marie Baron († 1642), Ehefrau eines Kaufmanns in Marennes und ebenfalls mystisch begabt. In Bezug auf deren spirituelles Leben schrieb Surin: „Es wäre falsch von mir, den heiligen Josef nicht zu nennen, den Patron aller großartigen Seelen unserer Tage. Dieser Heilige warnte sie und versprach ihr seinen immerwährenden Schutz, sogar bevor sie ihm überhaupt zugetan war. Eines Tages, an seinem Fest, zeigte er sich ihr überraschend und versprach ihr zukünftige Erleuchtung.“5
Die „neue, unübliche Art“ der Josefs-Verehrung
Die Relevanz all dieser Bezüge zum hl. Josef wird nur klar, wenn man sie in den historischen Kontext einfügt. 1629 – ein Jahr, bevor Surin den Brief nach La Flèche schrieb – hatte der Generalobere Muzio Vitelleschi (1563–1645) den jungen Jesuiten verboten, den hl. Josef auf die „neue, unübliche Art“ zu verehren. Dies mag auf den ersten Blick als eine eher merkwürdige Verordnung erscheinen. Es ist klar erkennbar, dass Surin ihr nicht folgt. Was konnte solch eine Entscheidung motiviert haben?
Um Muzio Vitelleschis Brief von 1629 zu verstehen, müssen wir zu einer früheren Quelle zurückgehen, nämlich zu Teresa von Ávila (1515–1582). Sie pflegte eine besondere Sympathie für den hl. Josef. Sie wusste sich im Alter von 26 Jahren aufgrund der Fürsprache des Heiligen von einer schweren Krankheit geheilt. Das war der Grund ihrer Josefs-Verehrung. Entscheidender für unser Thema ist jedoch ein Hinweis Teresas in ihrer Autobiographie. Für den Fall, dass man niemanden hat, der einem den Weg ins Gebet zeigt, schlägt Teresa vor, man möge sich einen Heiligen als spirituellen Führer wählen: „Dabei nahm ich mir den glorreichen heiligen Josef zu meinem Anwalt und Herrn und empfahl mich ihm sehr. (…) Mir fällt nichts ein, worum ich ihn bislang gebeten und was er mir zu gewähren unterlassen hätte. Es ist zum Staunen, welch große Gnaden mir Gott durch diesen glückseligen Heiligen geschenkt und wie er mich aus Gefahren für Leib und Seele errettet hat. (…) Nur bitte ich den, der mir nicht glauben sollte, es Gottes wegen auszuprobieren, dann wird er selbst erfahren, wie viel Gutes es bringt, sich diesem glorreichen Patriarchen zu empfehlen und ihn zu verehren. Besonders Menschen des inneren Betens sollten ihm immer zugetan sein. (…) Wer keinen Lehrmeister finden sollte, der ihn im Gebet unterweist, möge doch diesen glorreichen Heiligen als Lehrmeister nehmen, und er wird sich auf dem Weg nicht verirren.“ (Vida VI, 6.8)
Dies war für Teresa klarerweise keine zweitrangige Sache. Welch große Bedeutung sie der kontemplativ-mystischen Verehrung des hl. Josef beimaß, zeigt sich an der Tatsache, dass sie die erste Gründung des reformierten Karmel in Ávila unter den Schutz dieses Heiligen stellte. Elf anderer ihrer Gründungen haben denselben Heiligen als Patron. Schließlich wurde der hl. Josef zum Patron der gesamten karmelitischen Reform in Spanien; dies gilt auch für die Karmel-Reform in Frankreich. Teresa hatte eine explizite Verbindung zwischen dem hl. Josef und den kontemplativ-mystischen Aspekten ihres Gebetslebens kreiert. Josef wurde zum Patron einer Wiederentdeckung der kontemplativ-mystischen Dimension. Mit seinem Interesse für den hl. Josef schließt Surin an diese Sichtweise an – keineswegs zur Begeisterung seiner Vorgesetzten.
Generationenkonflikt: zu viel oder zu wenig Gebet?
Dank der historischen Recherche von Michel de Certeau wissen wir, dass sich diese Entscheidung in eine Grundsatzdebatte einfügte, die eine gesamte Generation junger Jesuiten – auch jene Surins – beschäftigte.6 Certeau arbeitete zwei verwandte Aspekte heraus, die mit zwei unterschiedlichen Generationen von Jesuiten verbunden waren. Der erste Aspekt ist abzulesen aus einem auf das Jahr 1605 datierten offiziellen Schreiben des Provinzials der Provinz Aquitanien. Dieser Brief beantwortete eine Frage, die P. General Claudio Aquaviva (1543–1615) an die gesamte Gesellschaft Jesu gerichtet hatte. Aquaviva war sich nicht sicher, ob der Orden nach Jahren spektakulären Wachstums in der ersten Dekade seiner Existenz noch auf dem richtigen Weg war und ob etwa eine Reform angebracht wäre. Die Stimme aus der Provinz Aquitanien besagte: Das innere Leben der Mitglieder lässt zu wünschen übrig. Diese gaben ihr Bestes, um im akademischen und intellektuellen Leben gute Leistungen zu erbringen. Demgegenüber fielen sie im Gebet und in der lectio divina zurück. Als Grund wurde die effusio ad exterioria genannt: Die Brüder verloren sich so in äußere Angelegenheiten, dass sie nicht mehr fähig waren zum inneren Beten, nicht einmal in den Momenten, die für das Gebet vorgesehen waren.
Der zweite Aspekt ist gegenteilig. Viele junge Jesuiten, so hat es den Anschein, führten ein intensives spirituelles Leben. Begeistert lasen sie mystische Autoren wie Teresa von Ávila, Johannes Tauler († 1361), Ludovicus Blosius († 1566) und Jan van Ruusbroec († 1381). Diese Generation junger aquitanischer Jesuiten hatte den Eindruck, dass ihre älteren Mitbrüder sie spirituell nicht führen konnten. So überrascht es nicht, dass sie eine gewisse Verbundenheit zum hl. Josef spürten, hatte doch Teresa von Ávila ihn als Führer im Gebet für alle, die geistliche Führung vermissten, empfohlen. Ebenso überrascht es nicht, dass sie spirituelle Unterstützung bei den großen mystischen Autoren der christlichen Tradition suchten. Dies würde als weise Entscheidung gesehen werden. Doch dafür hatte die ältere Generation wenig Verständnis. Die Beschwerden fanden ihren Weg nach Rom. Die junge Generation wurde beschuldigt, sich „von einem Geist leiten zu lassen, der den Jesuiten fremd ist“. Aus diesen Beschwerden sprach die Sorge, dass der Orden seine Identität verlieren könnte.
Nach dem Tod von Claudio Aquaviva folgte Muzio Vitelleschi. Seine Interventionen in dieser Frage waren hart. Das zeigt ein Brief aus dem Jahr 16287: Den Grund des Problems sieht Vitelleschi darin, dass junge Jesuiten sich tatsächlich von einem Geist leiten ließen, der dem Orden fremd war. Der sicherste Pfad sei, den normalen Richtlinien des Ordens zu folgen und dem Superior Gehorsam zu leisten. So gäbe es keine Abweichungen. Die Tendenz, den eigenen Einsichten zu folgen, würde bloß zu einem totalen Schiffbruch der Jesuiten führen. Vitelleschi insistierte auf der Notwendigkeit von Maßnahmen und bat um zusätzliche Informationen über die jungen Jesuiten. Surin war einer von ihnen: Zumindest zwei Ordner mit Beschwerden, die ihn betrafen, wurden nach Rom gesandt.
Das Generalat nahm also die Sache sehr ernst. Es hatte Sorge um die Identität und den Fortbestand des Ordens. In der Sichtweise Roms folgte die jüngere Generation der aquitanischen Jesuiten bloß ihren eigenen Einsichten, was vor allem auf die Lektüre bestimmter mystischer Autoren, die keine Jesuiten waren, zurückzuführen war. Nur Gehorsam konnte diesem Problem entgegenwirken, nur so könne „der Geist des Ordens“ gewahrt werden. Auf diesem Hintergrund wird der Satz verständlich: Das Interesse am hl. Josef bedrohte die Existenz des Jesuitenordens.