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Rassismus: Herausforderung für die Kirchen
Rassismus ist ein Angriff auf die Idee der Einheit der Menschheit. In unserer zusammenwachsenden, wie auch von globalen Krisen erschütterten Welt nimmt er aktuell rasant zu – in Europa nicht zuletzt als gesellschaftliche wie politische Reaktion auf Migration. Dies ist auch eine Herausforderung für die Kirchen. Regina Polak
Die liberalhumanistischen Menschheitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts haben „niemals den Ernst und den Schrecken erfasst, die der Idee der Menschheit und dem jüdisch-christlichen Glauben an einen einheitlichen Ursprung des Menschengeschlechts zukommen, sobald nun wirklich alle Völker auf engstem Raum mit allen anderen konfrontiert sind“ (Arendt, 500). Wie im europäischen Imperialismus der Rassismus zur politischen Waffe der Abwehr dieser Idee wurde, beschrieb Hannah Arendt 1951: „Je besser die Völker einander kennen lernen, desto mehr scheuen sie begreiflicherweise vor der Idee der Menschheit zurück, weil sie spüren“, dass in dieser „eine Verpflichtung zu einer Gesamtverantwortung miteinhalten ist, die sie nicht zu übernehmen bereit sind“ (Arendt, 500).
In unserer Welt, die durch ein hyperglobalisiertes Wirtschaftssystem, durch Mobilität und Migration, multimediale Kommunikations- und Symbolsysteme und transnationale Familien- und Freundschaftsbeziehungen zusammenwächst, sind ihre Aussagen von erschreckender Aktualität. Denn erneut reagieren weltweit Regierungen, politische Parteien und Gesellschaften mit Rassismus auf die Globalisierung. Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie hat eine dramatische Zunahme rassistischer Übergriffe, Gewalttaten und Verschwörungstheorien im Gefolge (vgl. OSCE-Report). Auch wenn dieser Rassismus national vielgestaltig ist und multifaktorielle Ursachen hat: Seine Abwehrfunktion ist evident und mit Blick auf die Klimakatastrophe, die nur in internationaler Kooperation bewältigt werden kann, bedrohlich.
DAS PHÄNOMEN
Im klassischen Sinn bezeichnet Rassismus alle Ideologien, die die Menschheit hierarchisieren, indem sie diese in unterschiedliche (pseudo-) biologische ‚Rassen‘ mit genetisch vererbbaren Eigenschaften einteilen. Auf diese Weise rechtfertigte man die Sklaverei des Kolonialismus wie auch die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Dieser Rassismus ist heute in der EU geächtet. Aber Intoleranz und Diskriminierung von Menschen und Gruppen infolge ihrer Abstammung und Herkunft sind bleibende Realität. Denn der Rassismus hat seit jeher seine Gestalt und ideologische Begründung verändert (vgl. Geulen). So lassen sich heute als Rassismus alle Ideologien und Praxisformen verstehen, die „Menschengruppen als Abstammungs- und Herkunftsgemeinschaften“ konstruieren und diesen kollektive Merkmale zuschreiben, „die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden“ (Zerger, 81). ‚Kulturrassismus‘ wiederum konstruiert Gruppenidentitäten durch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur, Ethnie, Nation oder Religion und schreibt den Gruppenmitgliedern sodann stereotype Wesensarten und Mentalitäten zu. Die dadurch entstehenden Unterschiede zwischen den Gruppen werden sodann in eine Rangfolge von Höher- und Minderwertigkeit gebracht und mit der Behauptung einer grundsätzlichen Unverträglichkeit dieser Gruppen verbunden.
Regina Polak
Dr. theol., Assoc.-Prof.in, Vorständin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien; Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Werteforschung und interreligiöser Dialog; seit 2020 Personal Representative des CiO der OSCE on Combating Racism, Xenophobia and Discrimination, also focusing on Intolerance and Discrimination against Christians and Members of Other Religions.
Auch wenn umstritten ist, ob sich Rassismus ausschließlich auf People of Color oder auch andere Gruppen, wie z. B. MuslimInnen, beziehen soll, zeigen die Definitionen, dass ein psychologisches Verständnis von Rassismus als individuelles Einstellungsmuster oder als angeborene Angst vor Fremden zu kurz greift. Rassismus ist ein politisches Phänomen, das die Frage nach der Legitimation der politischen Ordnung und damit nach der Verteilung, Rechtfertigung und Erhaltung von Macht, Privilegien und Ressourcen etablierter Gruppen stellt. Rassismus ist deshalb keine Folge der Tatsache, dass es Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Kultur oder Herkunft gibt, sondern ein Konstrukt im Dienst eines Kampfes um politische Hegemonie. Er dient der Rechtfertigung von Etablierten-Privilegien wie auch der Verachtung, Diskriminierung, Exklusion und Vernichtung sozial marginalisierter Gruppen.
ÖKONOMISCH FORMATIERTER RASSISMUS
Im Gefolge der EU-Osterweiterung, der Finanzkrisen seit 2008 und der sog. Flüchtlingskrise 2015 sind auch im deutschsprachigen Raum rassistische Einstellungen wieder salonfähig geworden – zunächst geschürt durch rechtspopulistische Parteien, die vor „Umvolkung“ und „Bevölkerungsaustausch“ durch MigrantInnen und MuslimInnen warnen. Doch bereits 2010 zeigte z. B. die Europäische Wertestudie, dass die Übernahme rechtspopulistischer politischer Diskurse durch Mainstreamparteien zu einem signifikanten Anstieg antimigrantischer Einstellungen quer durch die Mittelschicht geführt hat (vgl. Rosenberger/Seeber, 186). Freilich nennt man diese Entwicklung hierzulande aus verständlichen Gründen nicht gerne Rassismus. Tatsächlich kehrt auch nicht der klassische Rassismus wieder; wohl aber die Frage nach der politischen Ordnung, nach Ressourcen- und Machtverteilung sowie nach Hegemonie in den europäischen Migrationsgesellschaften und in einer globalisierten Welt. Nicht zuletzt in den Konflikten um die Aufnahme geflüchteter Menschen lässt sich erkennen, dass damit auch die Frage nach der Einheit der Menschheit im Raum steht. Der Rassismus als Abwehrreaktion verändert dabei seine Legitimation. Ideologischer Kern der sog. ‚gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit‘ – so nennt das Forschungsprojekt „Deutsche Zustände“ (vgl. Heitmeyer) das Syndrom der Ablehnung von Arbeits- und Obdachlosen, MigrantInnen, Geflüchteten, MuslimInnen, JüdInnen und anderer Minoritäten – ist ein ökonomistisches Menschenbild. Diesem zufolge gibt es Menschen, die ökonomisch weniger wertvoll sind als andere und die daher exkludiert werden können, indem man ihnen z. B. staatliche Unterstützung entzieht. ‚Expats‘, d. h. wirtschaftlich nützliche und erfolgreiche MigrantInnen, werden daher auch weniger abgelehnt als Obdachlose und Geflüchtete.
Politisch kann diese Ideologie dazu benutzt werden, um von einer Debatte um jene ökonomischen Probleme abzulenken, die die gesamte Bevölkerung und die ganze Menschheit bedrohen. Kulturelle Konflikte, die zur Normalität von Migrationsgesellschaften gehören und Zeichen wachsender Integration sind, werden zur Ursache sozialer Konflikte erklärt. Von einer solchen Deutung profitieren am Ende auch Menschen ohne explizit rassistische Einstellungen sowie sozial marginalisierte Einheimische. Sie haben qua Geburt in die Mehrheitsgesellschaft Vorteile und Privilegien. Gesellschaftliche Spaltungen und Polarisierungen sind die Folge, sichtbar nicht zuletzt in den Konflikten um die Migrationspolitik.
KIRCHE UND RASSISMUS
Auch dieser Rassismus steht im Widerspruch zur Idee von der Einheit aller Menschen und stellt für die Katholische Kirche eine zentrale Herausforderung dar. Denn diese ‚Idee‘ gehört als Glaubensüberzeugung zum Kern der biblischen Offenbarung. Sie wird im Katechismus der Katholischen Kirche bekannt: „Das Menschengeschlecht bildet aufgrund des gemeinsamen Ursprungs eine Einheit. Denn Gott hat aus einem einzigen Menschen das ganze Menschengeschlecht erschaffen (Apg 17,26)“ (KKK 360).
Dass diese Überzeugung aktuell bedroht ist und daher geschichtlich errungen werden muss, beschrieb Gaudium et Spes bereits 1965: „Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgehende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen. […] Die Welt spürt lebhaft ihre Einheit und die wechselseitige Abhängigkeit aller von allen in einer notwendigen Solidarität und wird doch zugleich heftig von einander widerstreitenden Kräften auseinandergerissen. Denn harte politische, soziale, wirtschaftliche, rassische und ideologische Spannungen dauern an; selbst die Gefahr eines Krieges besteht weiter, der alles bis zum Letzten zerstören würde“ (GS 4).
Rassismus wird daher verurteilt: „Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht“ (GS 29).
Rassismus wird seither in zahlreichen Stellungnahmen der Kirche immer wieder verurteilt. [Einen Überblick bietet die Arbeitshilfe Nr. 67 der Päpstlichen Kommission Justitia et Pax: Die Kirche und der Rassismus.] Johannes Paul II. hält z. B. eindeutig fest: „Alle rassistischen Theorien widersprechen dem christlichen Glauben und der Liebe.“ (Justitia et Pax, Nr. 33). Betont wird die Berufung der Kirche, „inmitten der Welt das erlöste und in sich selbst versöhnte Volk zu sein, dies vor aller Welt zu bezeugen und die Einheit der Menschen jenseits aller ethnischen, kulturellen, nationalen, sozialen oder anderen Spaltungen, die durch das Kreuz Christi beseitigt wurden, zu verwirklichen“ (Justitia et Pax, Nr. 20). Papst Franziskus betont in Fratelli tutti: „Die ständig steigende Zahl der Verbindungen und Kontakte, die unseren Planeten überziehen, macht das Bewusstsein der Einheit und des Teilens eines gemeinsamen Geschicks unter den Nationen greifbarer. So sehen wir, dass in die Geschichtsabläufe trotz der Verschiedenheit der Ethnien, der Gesellschaften und der Kulturen die Berufung hineingelegt ist, eine Gemeinschaft zu bilden, die aus Geschwistern zusammengesetzt ist, die einander annehmen und füreinander sorgen“ (Fratelli tutti 96).
UND DIE PASTORAL?
Angesichts dieses Befundes müssten KatholikInnen gegen Rassismus gefeit sein. Doch die Europäische Wertestudie 2010 belegte, dass die Ablehnung von MigrantInnnen und MuslimInnen und der Wunsch nach homogenen Gesellschaften unter allen ChristInnen in Europa weit verbreitet sind (vgl. Arts/Halman, 89). Christliche Identität wird überdies vermehrt zur Abgrenzung von ethnisch, kulturell und religiös Anderen genutzt (vgl. PEW Research Center). Auch migrantische KatholikInnen berichten von Diskriminierungserfahrungen und sind in den Strukturen ihrer Ortskirchen nicht angemessen repräsentiert (vgl. Keßler). Rassismus ist in der deutschsprachigen Theologie kaum Thema. Aufforderungen von Papst Franziskus zur Aufnahme und Integration von MigrantInnen werden heftig kritisiert, nicht zuletzt aufgrund seiner positiven Sicht auf Migration.
Auch für ihn ist in der Linie von Erga migrantes caritas Christi Migration ein „Zeichen der Zeit“: „eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt“ (EM 14). EM postuliert überdies: „Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen“ (EM 9).
Rassismus ist im Kontext von Migration demnach die Ablehnung eines „Zeichen[s] der Zeit“, d. h. die Weigerung, Migration nicht als Zuspruch und Anspruch Gottes anzuerkennen und daraus entsprechende ethische und politische Konsequenzen zu ziehen.
Nun kann man eine solche Sicht auf Migration nicht verordnen. Hannah Arendt hatte Recht, wenn sie meinte, es sei „in einer globalisierten Welt unmöglich, mit dem idealistischen Vokabular von Menschenwürde und Gleichheit die Bereitschaft für die nötigen praktischen und politischen Konsequenzen zu erzeugen“ (Arendt, 501). Zu tief sind rassistische Wahrnehmungsmuster im kollektiven Erbe verankert. Zu schmerzhaft ist die Selbstkonfrontation, ProfiteurIn einer rassistischen Ordnung zu sein (vgl. Diangelo). Krisen und Konflikte sind daher – wie bei jedem „Zeichen der Zeit“ – unvermeidliche Begleiterscheinungen im Kontext von Migration und dem damit einhergehenden Zusammenwachsen der Menschheit. Tatsächlich spalten sich angesichts von Migration auch die Kirchen: Jenem Teil der Gläubigen, die sich um die Aufnahme und Integration von MigrantInnen und Geflüchteten bemühen, steht ein Teil gegenüber, der dies rigide ablehnt.
Um Rassismus zu bekämpfen, genügt es daher nicht, allein an den moralischen Einstellungen zu arbeiten. Zur Disposition stehen eine tribalistische Weltsicht und politischhegemoniale Ordnungsvorstellungen. Rassismusbekämpfung kann daher nur eingebettet in pastoral ganzheitliche, d. h. spirituelle, mentale, ethische, politische und theologische Lernprozesse erfolgen. Pastoraltheologische Konzepte dafür stehen erst am Anfang, einige Ideen seien kurz skizziert:
Zunächst bedarf es einer entmoralisierenden Sensibilisierung für das Problem. Es gilt, das Phänomen in seiner geschichtlichen Genese und seinen sozialen und politischen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft zu verstehen. Eine solche kognitive Einbettung kann entlasten, schmerzhaft bleibt es allemal. Auch eine spirituelle und theologische Begleitung kann helfen, die Unvereinbarkeit zwischen Rassismus und dem christlichen Glauben zu erkennen. Vor allem aber bedarf es positiver Erfahrungen des Zusammenlebens über ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg: Regionale Nachbarschaftsprojekte sowie interkultureller und interreligiöser Dialog sind dafür bewährte Wege. Auch moderierte Begegnungen mit Menschen, die Rassismus am eigenen Leib erfahren haben, können das Interesse am gesellschaftspolitischen Einsatz für gerechtere gesellschaftliche und kirchliche Ordnungen wecken.
Nicht zuletzt braucht es alternative Narrative und Visionen, die die Sehnsucht nach und Freude auf eine inklusive Kirche, Gesellschaft und Welt wecken, in denen Diversität ‚normal‘ ist und Gerechtigkeit herrscht. Die biblische Tradition ist reich an solchen Erzählungen, Bildern und Verheißungen. Orte, an denen ein solch inklusives Zusammenleben die große Idee von der Einheit der Menschen bereits heute lokal und konkret erfahren und erahnen lässt, gibt es in Kirche und Gesellschaft längst. Holen wir sie ans Licht! Sie geben Hoffnung, dass eine Welt ohne Rassismus möglich ist.
LITERATUR
Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [Teil II: Imperialismus], München 31986 [1951].
Arts, Will/Halman, Loek, Value Research and Transformation in Europe, in: Polak, Regina (Hg.), Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 79–99.
Diangelo, Robin, Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein, Hamburg 2020.
Geulen, Christian, Geschichte des Rassismus, München 2007.
Heitmeyer, Wilhelm u. a. (Hg.), Deutsche Zustände [10 Bände], Berlin 2002–2011.
Keßler, Tobias (Hg.), Lebenslänglich! Das Ringen von Migrierten und Geflüchteten um gleichberechtigte Partizipation in Gesellschaft und Kirche, i. E.
OSCE, OSCE Human Dimension Commitments and State Responses to the Covid-19 Pandemic; pdf-upload unter: https://www.osce.org/files/f/documents/e/c/457567_0.pdf.
Päpstliche Kommission Justitia et Pax, Die Kirche und der Rassismus [Arbeitshilfe Nr. 67], Bonn 1998.
PEW Research Center, Being Christian in Western Europe; abrufbar unter: https://www.pewforum.org/2018/05/29/being-christian-inwestern-europe.
Rosenberger, Sieglinde/Seeber, Gilg, Kritische Einstellungen: BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration, in: Polak, Regina (Hg.), Zukunft. Werte. Europa. Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich, Wien 2011, 165–190.
Zerger, Johannes, Was ist Rassismus?, Göttingen 1997.
[Links alle zuletzt eingesehen am 25.01.2021]
Deutsche Kirche – weiße Kirche?
Die Replik von Marita Wagner auf Regina Polak
Ich stimme Regina Polak in ihrem Argument, dass Rassismus nicht nur ein moralisch-individuelles, sondern darüberhinausgehend auch politisches Problem ist, welches insbesondere in der Migrationspolitik zutage tritt, zu. Mit Blick auf das Thema Rassismus scheint es besonders schwerzufallen, eine gesellschaftliche „Gesamtverantwortung“ (Arendt, 500) zu übernehmen, weil dies zunächst eine selbstkritische Auseinandersetzung und sodann einen verantwortungsbewussten Umgang mit den eigenen (weißen) Privilegien erfordert. Privilegierte Menschen erleben diese notwendige, ausstehende Umverteilung von unverdienten, qua Geburt erhaltenen Bevorzugungen oft als einen vermeintlich gesellschaftlichen Nachteil, wodurch sich das Gefühl einer ungerechtfertigten existentiellen Hinterfragung und daher der Bedrohung einstellt. Wie sähe vor diesem Hintergrund eine postkoloniale (Pastoral-)Theologie aus, die Beziehungen heilt, indem sie zu einer Globalisierung beiträgt, in der allen Menschen Gerechtigkeit zuteilwird (vgl. Mabanza)? Als kritischen Denkanstoß kann hier unter anderem der Roman von Abdourahman A. Waberi Die Vereinigten Staaten von Afrika dienen, in dem der Autor das eurozentrische Weltsystem gegen den Strich liest und beschreibt, wie eine Welle an Geflüchteten aus dem Globalen Norden an den afrikanischen Küsten wie Djerba und Algier stranden. Waberi zeichnet das Bild eines von Fortschritt, Entwicklung und einer wissenschaftlichen Bildungselite geprägten afrikanischen Staatenbundes, der sich aufgrund seiner Finanzstärke zu behaupten weiß – und gegenüber den Bedürfnissen und Nöten der von Armut geplagten europäischen Völker emotional eher unberührt bleibt.
Polak schreibt, dass Rassismus heute in der EU geächtet sei. Ein wichtiger öffentlicher Schritt in der Auseinandersetzung mit Anti-Schwarzem Rassismus ist sicherlich, dass die UN im Jahr 2015 eine Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft ausgerufen hatte, an deren Zielumsetzung auch Berlin beteiligt ist. Dazu zählen in erster Linie die Bekämpfung von Diskriminierung sowie die Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit. Ein Konsultationsprozess mit Selbstorganisationen Schwarzer Menschen in Berlin hat 2018 begonnen. Dass People of Color und deren Lebenswirklichkeiten in Deutschland bislang nicht genügend sichtbar, obwohl vorhanden sind, und daher meist immer noch negiert werden, zeigt die Debatte um die Frage, ob es einer Studie zu Rassismus in der Polizei und damit einhergehend rassistisch motivierter Polizeigewalt bedürfe. Nachdem Bundesinnenminister Horst Seehofer diese Forderung zurückgewiesen hatte und dafür in die Kritik geraten war, stimmte er der Studie doch zu – später dann allerdings stellte er zur Bedingung, die Fragestellung zu erweitern, indem Rassismus in der Gesamtgesellschaft untersucht werden solle. Der Rassismus in der Polizei wird nur noch als ein Unterkapitel behandelt werden. Dieses Ringen und sich Winden um eine tiefergehende Aufarbeitung rassistischer Gewaltstrukturen in allen Lebensbereichen – psychisch wie physisch – zeigt, wie schwer es fällt, den eigenen weißen Schutzwall fallenzulassen und sich bewusst ‚verwundbar‘ zu machen.
Weiter fortgeschritten in der Aufarbeitung und Sichtbarmachung Schwarzen Lebens in Deutschland ist der Berliner Verein Each One Teach One (EOTO). Er setzt sich für die „Interessen Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland und Europa ein“ (Each One Teach One (EOTO) e. V.). Von Juli bis September 2020 führte EOTO eine Onlinebefragung, den #AFROZENSUS durch, um statistisch aufzuzeigen, „welche Erfahrungen Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland machen, wie sie ihr Leben in Deutschland einschätzen und welche Erwartungen sie an Politik und Gesellschaft haben“ (#AFROZENSUS). An der Volkszählung durften folglich nur Menschen afrikanischer Herkunft teilnehmen. Thematisch wurde explizit auch nach den eigenen Erfahrungen mit Racial Profiling und rassistischer Polizeigewalt gefragt. Die Ergebnisse sollen bereits im Frühjahr 2021 veröffentlicht und der Politik zur Verfügung gestellt werden. Parallel ist ein ergänzender qualitativer Forschungsteil bestehend aus Interviews und Fokusgruppen in Planung. Unterstützt und begleitet wird dieses Forschungsprojekt unter anderem von Aminata Touré, Vizevorsitzende des Landtags in Schleswig-Holstein, deren Eltern damals als malische Geflüchtete nach Deutschland migrierten (vgl. Arte TRACKS).
Regina Polak führt in ihrem Beitrag kirchliche Positionierungen auf, in denen Rassismus und Diskriminierung verurteilt werden, weil sie dem Plan Gottes von der Einheit der Menschheit zuwiderlaufen. Es zeigt sich, dass Rassismus aber auch vor der Kirche als Teil des gesellschaftlichsozialen Raumes nicht haltmacht. Angesichts der Tatsache, dass Kirche und Christentum im Rahmen der Zivilisierungsmission keineswegs unbeteiligte Zuschauer waren, reicht der Verweis auf die theoretische Unvereinbarkeit von christlichem Glauben und Rassismus nicht aus. Es braucht innerhalb der Kirche eine ernstgemeinte Auseinandersetzung mit dem eigenen gewaltvollen christlichen Erbe und der Ausübung von Zwang und Dominanz auf bestimmte Bevölkerungsgruppen sowie den anhaltenden hegemonial-eurozentrischen Prägungen christlicher Theologie, die sich bereits in der Besetzung von Kirchenämtern sowie der Repräsentanz von People of Color in kirchlichen Gremien und Organisationen widerspiegelt. Unsere Kirche in Deutschland ist weiß, was angesichts der Tatsache, dass jede*r vierte Katholik*in einen weltkirchlichen Lebenshintergrund aufweist, verwunderlich ist. Auch innerhalb der Kirche existiert kein machtfreies Vakuum. Aus diesem Grund sollte die Pastoral hier in meinen Augen nicht zu vorschnell als Lehrerin oder Expertin zutage treten und sich als antirassistische Verbündete Schwarzer Menschen emporschwingen. An erster Stelle braucht es eine kritische Introspektion, eine Arbeit an sich selbst und dem eigenen Weißsein sowie demütiges Zuhören den Menschen gegenüber, denen angesichts der anhaltenden ‚kolonialen Matrix der Macht‘ (vgl. Dussel; Mignolo) eine vollumfängliche Partizipation an der Weltgesellschaft gewaltsam abgesprochen wird. Was tut die Kirche, um sich selbst zu dekolonisieren? Wo finden interkulturelle Begegnung und Zusammenleben statt? Muttersprachliche Gemeinden bieten einen wichtigen geschützten Ort für Menschen mit weltkirchlichem Hintergrund, der es ihnen erlaubt, bestimmte Kollektiverfahrungen gemeinsam zu reflektieren. Gleichzeitig bleibt zu fragen, welche zusätzlichen kirchlichen Erfahrungs- und Begegnungsräume kreativ geschaffen werden können, um eine interkulturelle Fragmentierung und Separierung zu vermeiden, und ein echtes gelebtes Miteinander sowie ein neues Vertrauen zu- und ineinander zu fördern. Und gerade dieses Vertrauen ist es, das es wieder, bzw. der Ansicht einer befreundeten Schwarzen Theologin zufolge nach, erstmals überhaupt (!) zu gewinnen gilt.
LITERATUR UND LINKS
Arte TRACKS, Afrozensus - mit Megaloh, Aminata Belli und Aminata Touré; abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=I57LePt0cgc.
Berlin.de, UN Dekade für Menschen Afrikanischer Herkunft; abrufbar unter: https://www.berlin.de/sen/lads/schwerpunkte/rechts-extremismus-rassismus-antisemitismus/un-dekade-fuer-menschen-afrikanischer-herkunft.
Dussel, Enrique, Der Gegendiskurs der Moderne. Kölner Vorlesungen, Wien 2013.
Each One Teach One (EOTO) e. V., https://www.eoto-archiv.de.
Mabanza, Boniface, Gerechtigkeit kann es nur für alle geben. Eine Globalisierungskritik aus afrikanischer Perspektive, Münster 2009.
Mignolo, Walter, Epistemischer Ungehorsam. Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien 2012.
Waberi, Abdourahman A., In den Vereinigten Staaten von Afrika, Hamburg 2008.
#AFROZENSUS, https://afrozensus.de.
[Links alle zuletzt eingesehen am 03.01.2021]
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