Kitabı oku: «Lebendige Seelsorge 4/2020», sayfa 2
Indem die Evangelien das Leben Jesu erzählen, umtasten sie das Geheimnis von Ostern.
Der Engel schickt die Frauen nach Galiläa: „Dort werdet ihr ihn sehen“ (Mk 16,7). Der Weg zurück nach Galiläa steht nicht für die Rückkehr in einen „Alltag“; jeder Alltag ist nach der Auferstehung unmöglich geworden. Mit der Erwartung, dem Auferstandenen „in Galiläa“ zu begegnen, liest man jedoch das Leben Jesu neu. Besondere Bedeutung gewinnen jetzt die Nachfolgeworte: Auferstehung wird konkret in der Nachfolge, sie geschieht auf dem Weg! Man muss dem Entschwindenden, den man immer nur von hinten sieht, nachlaufen. Nur so kann man ihn finden.
DER KÖRPER DES VERSCHWUNDENEN
Woran erkenne ich den Auferstandenen? Der Beginn des christlichen Glaubens ist geprägt von einer Erfahrung, die ihn bis heute begleitet: eine Verborgenheit und Entzogenheit, die sich als Uneindeutigkeit, Ambiguität, manifestiert. Bist Dus oder bist Dus nicht?
Die Ostererzählungen legen Spuren, die zu einer Theologie der Unterscheidung führen. Eindeutig wird der Auferstandene im Brot und an den Wunden. Beides findet sich in der Schrift, die jedoch erschlossen werden muss. Es ist die Emmauserzählung, die für beide Spuren der österlichen Gegenwart eine so einfache wie tiefe Form findet. Der unerkannte Wegbegleiter öffnet zuerst die Augen für die Schrift, die den Sinn des Leidens deutet: Die Wunden gehören in den Heilsplan Gottes (vgl. Lk 24,26). Dann bricht der fremde Gast das Brot und gibt es ihnen (vgl. Lk 24,30). „Da gingen ihnen die Augen auf“ (Lk 24,31) und sie „sahen“ ihn erkennend für einen kurzen Augenblick, bevor auch sie wieder im „geglaubten Licht“ (Lehnert, 114) weitergehen mussten. Geteiltes Brot bedeutet geteiltes Leben, und das schon in den Sündermählern Jesu. Deshalb gibt es noch eine dritte Spur, die das Evangelium legt, um den Auferstandenen zu erkennen: „Ich war hungrig …“ (Mt 25,35ff.): Der Leib des Herrn wird durchsichtig für die Leiber seiner Brüder und Schwestern. In der Fußwaschung bückt sich Gott zu den Füßen der Menschen und weist sie an, das gleiche einander zu tun (vgl. Joh 13,1-17). So führt die Eindeutigkeit der „Geringsten“ nach Christoph Theobald zu einer Manifestation der unsichtbaren Auferstehung: „Und schließlich die menschliche Solidarität und das Engagement für die ‚Letzten‘: sind dieses Taten nicht paradox? Was bringt mich dazu,
Könnte man sich, so frage ich mich heute, nach den Erfahrungen des sakramentalen Lockdowns im Frühjahr 2020, so etwas vorstellen: Eine Welt ohne Sakramente, aber voller Diakonie?
mich für andere einzusetzen, für ein anderes Lebewesen, sogar für diejenigen, die noch nicht geboren sind?“ (Theobald, 116). So lädt der Auferstandene seine Zeuginnen und Zeugen ein, „die Zeichen der Auferstehung im Herzen der Menschheitsgeschichte zu lesen, einer Geschichte, die weitergeht“ (Theobald, 117). Könnte man sich, so frage ich mich heute, nach den Erfahrungen des sakramentalen Lockdowns im Frühjahr 2020, so etwas vorstellen: Eine Welt ohne Sakramente, aber voller Diakonie? Und was sagte diese Vorstellung über die Weise der Anwesenheit Gottes in der Welt? Und was wiederum über die Sakramente, in denen sich diese Anwesenheit ja verdichtet? Auferstehung ist also eine weitere Radikalisierung der Bewegung von Golgota. Die Kenosis, die Selbst-Entleerung Gottes, geht weiter. Er entäußert sich auch als Auferstandener hinein in die Welt (vgl. Kearney, 243).
Damit bin ich wieder in der Osterimagination von Mark Andre: „Er wird erkannt“, schreibt Andre, „er verschwindet vor den Augen von Maria Magdalena, die bleibt als die erste Zeugin, oder vielleicht auch als der wahrhaftige Körper des Verschwundenen.“ Der Auferstandene hat für Andre auch einen Ort: die Grabeskirche oder eben die Auferstehungskirche, Anastasis, in Jerusalem. Dort finden sich die Gläubigen und Ungläubigen, die Suchenden und Zweifelnden der Jahrhunderte. So ist auch diese Kirche, Symbol für die „Gottsucherbanden“, wie es in seiner Oper „Wunderzaichen“ heißt, ein „Körper des Verschwundenen“.
LITERATUR
Gruber, margareta, Nichts ist so schön wie das, was vor unseren Augen verschwindet, in: Gruber, Margareta/Widmann, Jörg, Lob auf Mark Andre. Der Kunst- und Kulturpreis der Deutschen Katholiken geht an einen Komponisten, in: Stimmen der Zeit 143 (2018), 85-91, hier 89-91.
Gruber, margareta, Abba – im Geist des Sohnes beten. Die Krise der Auferstehung und der Gebetsglaube Jesu, in: Redtenbacher, Andreas/Schulze, Markus (Hg.), Sakramentale Feier und theologiaprima. Der Vollzug der Liturgie als Anfang und Mitte der Theologie (Pius Parsch Studien 16), Freiburg i. Br. 2019, 125-140.
Hübenthal, Sandra, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 253), Göttingen 2014.
Kearney, Richard, Revisionen des Heiligen. Streitgespräche zur Gottesfrage, Freiburg i. Br. 2019; insb. Kapitel „Anatheismus und radikale Hermeneutik. Gespräch mit John Caputo“, 243-272.
Lehnert, Christian, Korinthische Brocken. Ein Essay über Paulus, Berlin 2013.
Theobald, Christoph, Transmettre l’Évangile de liberté, Paris 2007.
Toit, David du, Der abwesende Herr. Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstandenen (Wissenschaftliche Monografien zum Alten und Neuen Testament 111), Neukirchen-Vluyn 2006.
„Nicht ohne“
Replik von Stephan Lüttich auf Margareta Gruber OSF
Margareta Grubers Skizze einer kenotischen Theologie der Auferstehung ist ein Stück Nacht-Theologie par excellence. Dies gilt zuerst natürlich inhaltlich für das Wahrnehmen und Ernstnehmen der oszillierenden Ambivalenz des einen Paschamysteriums. Der Ostermorgen löscht den Karfreitag nicht aus. Gottverlassenheit am Kreuz und das sich Entziehen des Auferstandenen zeigen sich als gegensätzliche Pole derselben dunklen Gegenwart Gottes, in der er sich auch weiterhin verbergend offenbart – den neutestamentlichen Zeuginnen und Zeugen, den Mystikerinnen und Mystikern, aber auch den Menschen, die heute versuchen, den Glauben unter den Bedingungen der Gegenwart zu leben.
Dies gilt aber ebenso für die eher assoziative, von künstlerischen Ausdrucksformen angeregte Herangehensweise. Das kompositorische Werk Mark Andres inspiriert eine nicht streng gegliederte, sondern eher kreisende, immer wieder bildhaft verweisende Annäherung an die biblischen Texte. Dieses erfahrungsorientierte, „imaginative“ Vorgehen ist auch für die vielschichtigen Ansätze einer mystisch geprägten Nacht-Theologie charakteristisch, wie sie sich bei Johannes vom Kreuz oder Therese von Lisieux, bei Novalis oder Erich Przywara finden lassen.
Für mich als systematischen Theologen scheint im Hintergrund von Margareta Grubers Entwurf in besonderer Weise das Denken des französischen Jesuiten Michel de Certeau (1925–1986) auf. Sein suggestives Werk wird seit der Jahrtausendwende zunehmend auch im deutschen Sprachraum rezipiert. Im Mittelpunkt seiner Theologie steht der Begriff des „gründenden Bruchs“ („rupture instauratrice“). Das leere Grab biete gerade als Zeichen der unwiederbringlichen Abwesenheit Jesu den Raum zu einem geisterfüllten Neubeginn und zur Entfaltung der geschichtlichen Wirksamkeit von Jesu Leben und Botschaft in der Kirche. Grundsätzlich sei jeder Versuch, das Christentum in der Gegenwart zu leben, von der vielschichtigen Erfahrung dieser Abwesenheit geprägt. Die Christenmenschen könnten sich nie auf einmal gewonnenen Glaubens- oder Lebenssicherheiten ausruhen, sondern bewohnten einen „Nicht-Ort“ („non-lieu“), den sie sich – in Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart – stets neu erwerben müssten.
De Certeaus originelle theologische Terminologie konzentriert sich schließlich in der wiederholt emphatisch vorgetragenen doppelten Negation des „nicht ohne“ („pas sans“). So wie Jesus nicht ohne den Vater sei und darin einerseits seine menschliche Freiheit, andererseits die unableitbare und einzigartige Bindung an den Vater betont werde, so könne die Kirche nicht ohne ihre lebendige Beziehung zum gleichwohl abwesenden Christus gedacht werden. Das Verhältnis zum historischen Ursprung und lebendigen Mittelpunkt des Christentums ereigne sich als „Prozess der Abwesenheit“ („procès d’absence“).
Im Pathos des „nicht ohne“ verbirgt sich hinter der äußeren, grammatischen Negativität die leidenschaftliche Hinwendung zum Anderen Gottes. Beeindruckend wird dies in einer Predigt deutlich, die Michel de Certeau anlässlich einer Gelübdefeier seines Ordens gehalten hat: „Der Religiose hat ‚etwas‘ entdeckt, was in ihm die Unmöglichkeit stiftet, ohne es zu leben. Diese Entdeckung liegt manchmal verdeckt unter dem Gang des Alltagslebens, ein andermal durchbricht sie die Kette der Tage durch eine plötzliche Stille oder einen unvermuteten Schock. Das ist im Einzelnen nicht wichtig. Die Erfahrung hängt an einem Wort oder an einer Begegnung oder an einer Lektüre, die von anderswo und von einem anderen herkommen und uns dennoch für unseren eigenen Raum öffnen und für uns zu jener Luft werden, ohne die wir nicht mehr atmen können. Öffnung und Verletzung zugleich, lässt sie aus uns ein nicht hintergehbares, anspruchsbewusstes und zugleich bescheidenes Bekenntnis des Glaubens hervorbrechen: ‚Ohne dich kann ich nicht mehr leben. Ich habe dich nicht, aber ich halte mich an dich. Du bleibst immer der Andere, und du bist mir notwendig, denn das, was ich wirklich bin, geschieht zwischen uns.‘“ (Certeau, 29f.).
Die Erfahrung der Gottesferne kann zum Impuls neuer und vertiefter Glaubensgeburt werden.
Entwürfe eines nächtlichen Denkens wie die kenotische Oster-Theologie Margareta Grubers oder de Certeaus „nicht ohne“ setzen eine „Glaubensschwachheit“ („faiblesse de croire“) voraus und ermöglichen so eine Schwäche für den Glauben. Sie nehmen die Entfremdungen, die biographischen Brüche und das individuelle Leiden der Menschen ernst und erweisen sich gerade darin als starke Möglichkeit, das Christentum in einer glaubensfremden oder -feindlichen Gesellschaft als Möglichkeit der Lebensdeutung und -gestaltung erneut vorzuschlagen. Die Erfahrung der Gottesferne kann zum Impuls neuer und vertiefter Glaubensgeburt werden.
LITERATUR
Certeau, michel de, GlaubensSchwachheit, Stuttgart 2009.
Gottsucher und Gottfinder im 21. Jahrhundert
Replik von Margareta Gruber OSF auf Stephan Lüttich
Eine Antwort auf den Beitrag von Stephan Lüttich zu schreiben, ist nicht einfach. Sollte ich den von ihm so eindringlich vor Augen gestellten Zeugen einer theologischen und spirituellen Nachterfahrung weitere zur Seite stellen? Das geschieht teilweise durch andere Beiträge dieses Heftes. Lüttich weist ferner auf die Bedeutung der Sprache hin. Ich stimme ihm darin zu, dass wir uns als Christen nicht mehr in den alten Sprachformen postulatorischer Gottes-Sicherheit aufhalten können. Doch unter welchen Bedingungen kann man die fragilen Sprachformen der Gott-Leidenden übernehmen, wenn man über etwas schreibt, aus dem heraus sie schreiben?
Guardini und Przywara, aber auch Chiara Lubich und Mutter Teresa waren Prophet*innen der Gottesnacht in einer Zeit, in der die Gläubigen sich eine solche Dimension ihres Glaubens nicht vorstellen konnten oder sie als Zeichen von Glaubensschwäche unterdrückten, verschwiegen und umso mehr darunter litten. Dass Gott im Dunkel wohnen will, war höchstens eine den „großen“ Mystiker*innen vorbehaltene Auszeichnung, aber keineswegs eine Deutung alltäglicher Gottesnot.
Unsere Zeit hat diese Erfahrung eingeholt. Gottesnacht scheint zum Signum der späten Moderne geworden zu sein. Allerdings ohne dass viele darunter zu leiden scheinen: „Ich glaub nix, mir fehlt nix.“
Theolog*innen sind wie Ärzt*innen. Sie wissen aus ihren Lehrbüchern, dass es die häufige Krankheit der Gottesnacht gibt und identifizieren ihre Symptome. Gibt es einen Therapievorschlag?
Theolog*innen könnten heute vielleicht die sein, die den abwesend Anwesenden aufspüren und seine Verkleidungen enttarnen – so bist Du also, wer hätte das gedacht? Vielleicht ist es manchmal sogar schwerer, Gottes Anwesenheit zu identifizieren als über seine Abwesenheit zu reden. Es gibt die Gefahr, die Abwesenheit Gottes gar nicht wahrzunehmen, weil man mit der Aufrechterhaltung des religiösen Betriebs zu sehr beschäftigt ist, aber auch, sich mit der Abwesenheit zu schnell zufriedenzugeben. Und innerlich bleibt immer der Zweifel, der uns quält, die wir durch das Feuer der Religionskritik gegangen sind: Stimmt das, was wir da sehen und sagen?
Aufhorchen lassen deshalb heute die kontrafaktischen Zeugnisse von Menschen, die die allgemein vorausgesetzte Situation der Gottferne nicht so einfach bestätigen; Menschen, deren Leben nicht von der Ferne sondern von der Nähe Gottes bestimmt ist. Sie sind in unserer Zeit so einsam und verloren wie es die großen christlichen Zeugen des 20. Jahrhunderts waren, die Lüttich nennt. Vielleicht zeigen sie nur eine andere Seite ein und derselben Erfahrung.
Am Beispiel zweier literarischer bzw. filmischer Priestergestalten will ich den Unterschied zwischen den Propheten des 20. Jahrhunderts und solchen des 21. Jahrhunderts verdeutlichen: Der polnische Regisseur Jan Komasa erzählt in seinem Film Corpus Christi (Boże Ciało, 2019) die Geschichte eines jungen Sträflings, der durch den Kontakt zum Gefängnispfarrer von der priesterlichen Existenz so fasziniert ist, dass er sich nach seiner Entlassung als Priester ausgibt. Ein Dorfpfarrer nimmt ihm diese Identität unhinterfragt ab, weil er einen Ersatz braucht um sich einer Entziehungskur zu widmen, und überlässt ihm kurzerhand die Gemeinde. Was als Verkleidung beginnt wird immer mehr zur Bestimmung. Die Aufgaben eines Priesters, die Autorität eines Gottesmanns lassen den „falschen“ Geistlichen über sich hinauswachsen und zum Instrument der Versöhnung in einem dunklen Konflikt werden, der die Gemeinde überschattet. In der Ernsthaftigkeit, mit der er den geistlichen Kampf mit den Dorfbewohnern aufnimmt, erinnert der junge Sträfling in Soutane an Bernanos Landpfarrer (1936); dies ist wohl so gewollt, denn in der kühlen Sachlichkeit der Inszenierung knüpft Komasa stilistisch an die große Bernanos-Verfilmung von Robert Bresson (1951) an. Bei Bresson ist es die metaphysisch dunkel gewordene Welt, die in vielen seiner Filme als Gefängnis imaginiert wird; seine einsamen Gestalten sind anonyme Gottsucher und Gottleidende, schwermütige Gefährten von Guardini und Przywara. Der Protagonist in Komasas Film kommt aus dem realen Gefängnis und erlebt in der übernommenen Identität des Priesters eine Ahnung von der Kraft, die in seinem Glauben steckt und in der er das Gefängnis überwinden könnte. Ein geradezu metaphysischer Schrecken erscheint auf seinem Gesicht, als er „in persona Christi“ handelt. Bei aller Geisterverwandtschaft der beiden jungen Männer in Soutane ist jedoch eine wichtige Akzentverschiebung im Vergleich zu Bernanos und Bresson festzustellen: Thema ist nicht die Gottesnacht der gläubigen Seele, sondern die Finsternis einer grausamen Welt, in der das Licht des Gottesglaubens als kurze Flamme aufleuchtet. Ob die Finsternis es wieder überwältigt, bleibt am Schluss des Films offen. So bleibt über beiden Gestalten das Wort des Landpfarrers: „Alles ist Gnade“. Aber auch dieser Satz ist Gnade.
Als zweites Beispiel möchte ich das Lied der Queen of Soul, Aretha Franklin nennen, das 2006 erschien und aktuell neu aufgelegt um die Welt geht: You never gonna break my faith. Es steht für die Hoffnung, dass es der Finsternis nicht gelingt, das Licht zu überwältigen:
“You can lie to a child with a smiling face
Tell me that color ain’t about a race
You can cast the first stone, you can break my bones
But you’re never gonna break, you’re never gonna break my faith
Faith and hope ain’t yours to give
Truth and liberty are mine to live
Steal a crown from a king, break an angels wings
But you’re never gonna break, you’re never gonna break my faith
My Lord, won’t you help them, help them, help them to understand
That when someone takes the life of an innocent man, woo
Well, they never really won because all they’ve really done
Is set the soul free where it’s supposed to be.”
Praktische Theologie in einer religionslosen Welt?
Bonhoeffers Entwurf eines religionslosen Christentums als praktisch-theologischer Reflexionsmotor
Vor über siebzig Jahren formulierte Dietrich Bonhoeffer im Zuge seiner Haftzeit die Denkfigur eines religionslosen Christentums. Sie gehört zu jenen Wortprägungen Bonhoeffers, die jahrzehntelang für Gesprächsstoff gesorgt haben, weil sich zahlreiche Theolog*innen an ihr „reiben“ konnten. Gerade dieser ihr innewohnende Bewegungsdrang macht die Vorstellung eines religionslosen Christentums besonders aktuell für die evangelische Praktische Theologie und lässt eine Relecture aus der Perspektive der Gegenwart äußerst vielversprechend erscheinen. Antonia Lüdtke
Es ist der 30. April 1944 – eine Zeit „ohne Boden unter den Füßen“, die „unerträglich, lebenswidrig und sinnlos“ (Bonhoeffer, 9f.) erscheint. Krieg, Leid, Gefangenschaft, Diktatur und Tod bestimmen den Alltag unzähliger Menschen. Gottesnacht hängt in der Luft. Aus dieser Situation heraus wagt ein in der Militärabteilung des Gefängnisses Berlin-Tegel inhaftierter Theologe und Widerstandskämpfer der Bekennenden Kirche einen prophetischen Blick in die Zukunft: „Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d. h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein“ (Bonhoeffer, 140).
Dietrich Bonhoeffer schreibt diese Worte in einem Brief an seinen Freund und Wegbegleiter Eberhard Bethge. Der Gedanke eines religionslosen Christentums – oder einer „nichtreligiösen“ bzw. „weltlichen“ Interpretation (vgl. Bethge, 75) wie es in nachfolgenden Briefen auch heißt – ist zwar expressis verbis ein neuer im Horizont Bonhoeffers später sog. „Gefängnistheologie“ (vgl. Tietz), wurde jedoch in seinen vorangegangenen Schriften und Äußerungen bereits inhaltlich vorbereitet und stellt somit insgesamt ein „Theologumenon seiner Existenz“ (Dramm, 310) dar. Dennoch reichte die kurze Zeit bis zu seiner Hinrichtung am 9. April 1945 nicht aus, um das Bild „religionslos-weltlicher“ Christ*innen und einer „religionslos-weltlichen“ (Bonhoeffer, 141) Kirche eindeutig oder gar komplett zu zeichnen. Bonhoeffers Reflexionen diesbezüglich bleiben ein zuweilen kryptisches Fragment, das sowohl zeitgenössischen Theolog*innen, wie bspw. Karl Barth („Kann er eigentlich etwas anderes gemeint haben, als eine Warnung vor allem christlichen Papperlapapp …?“), als auch nachfolgenden Interpretationsgenerationen in Form eines durchaus streitbaren Rätsels begegnet, dessen Lösungsversuche spannende Dialoge und Reflexionsprozesse in Gang setzen. Die mannigfaltige Sekundärliteratur (vgl. Neumann) gibt Zeugnis von der damit einhergehenden Theologieproduktivität, die vor allem die theologische Disziplin der Praktischen Theologie auf besondere Weise tangiert. Doch bevor darauf genauer eingegangen wird, soll zunächst knapp skizziert werden, inwiefern Bonhoeffers Vorstellung eines religionslosen Christentums eine Situation des Wandels bzw. der Unterbrechung markiert. Anhand der von Bonhoeffer gestellten Frage: „Wer ist Gott?“ (Bonhoeffer, 204) lässt sich diese Entwicklung besonders prägnant nachzeichnen.
Antonia Lüdtke
geb. 1985, Dr. theol., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät der Universität Kiel; 2020 Promotion zum Thema Konfessionalität und Religionsunterricht; Preisträgerin des Aenne-Liebreich-Preises für Dissertationen mit Diversityperspektiven; Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Religionspädagogische Grundfragen, Religiöse Heterogenität und Homiletik.
DER „DEUS EX MACHINA“ IN DER RELIGIÖSEN WELT
Die „religiöse“ Vorstellung von Gott beschreibt Bonhoeffer wesentlich in dem Bild eines Gottes, der automatisch immer dann auf der Weltenbühne erscheint, wenn die Not am größten ist und der Mensch sich selbst nicht weiter zu helfen weiß: „Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen – es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen […]“ (Bonhoeffer, 142).
Im Gegensatz zum versagenden Menschen auf der Grenze, ist der Gott der Religiösen als fabricator mundi nicht nur allmächtig, sondern auch allwissend und allgegenwärtig – aber er erfüllt zumeist nicht mehr als die Funktion eines „Lückenbüßer[s] für unsere Verlegenheiten“ (Bonhoeffer, 203). Religion wird von Bonhoeffer somit der Dimension des Metaphysischen zugeordnet und dient in ihrer Grundstruktur der Lebensbewältigung, indem die menschliche Wirklichkeit konstitutiv durch Gott (oder in anderen Religionen durch Götter bzw. das Göttliche/Transzendente) ergänzt wird, weil der Mensch anders nicht mit ihr fertig werden kann (vgl. Ebeling).
Eine solche Omnipotenz Gottes bringt den religiösen Menschen wiederum in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Gott und lässt im menschlichen Inneren die „individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil“ (Bonhoeffer, 144) zentral und lebensbestimmend werden. Religion gehört vor diesem Hintergrund zum Wesen des Menschen schlechthin, religiöse Bedürfnisse werden als „Apriori“ des Menschseins gelesen und sie können durch Religiosität bzw. Glaube befriedet werden. So kennt bspw. auch die Bibel nur „den“ religiösen Menschen, da auch Heid*innen nicht ohne Götter und somit ohne Religion waren.
DER GEKREUZIGTE UND OHNMÄCHTIGE GOTT IN DER MÜNDIGEN WELT
Für Bonhoeffer gehört nun dieser religiöse Mensch der Vergangenheit an. Die allmächtige Gottesmaschinerie funktioniert nicht mehr: Die unvorstellbaren Schrecken des Krieges haben keinen höchsten Gott heraufbeschworen, keine „religiöse“ Reaktion hervorgerufen. In tiefster Nacht ist Gott weder zu sehen noch zu hören. Es herrscht „Funkstille“. Gott ist gewissermaßen
Bonhoeffers Diagnose einer autonomen und entgötterten Welt ist erschreckend radikal, aber dennoch behält Gott Raum in ihr.
„erledigt“. Der Mensch muss mit seiner Situation alleine fertig werden – und: es geht. Das Leben läuft weiter. Die Menschen erkennen allmählich, dass sie in einer Welt leben müssen „etsi deus non daretur“ – auch wenn es keinen Gott gäbe (Bonhoeffer, 191) – sie sind mündig geworden. Befreit von falschen Gottesvorstellungen steht der Mensch nun auf eigenen Füßen im Diesseits, in der Welt, als religionslose*r „Weltliche*r“ – und nicht mehr als „homo religiosus“. Ein diametraler Vorzeichenwechsel. Bonhoeffers Diagnose einer autonomen und entgötterten Welt ist erschreckend radikal, aber dennoch behält Gott Raum in ihr: „Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Mk 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns“ (Bonhoeffer, 192). Die nicht-religiöse Interpretation charakterisiert Bonhoeffer demnach als eine christologische Interpretation und die Frage danach, wer Gott sei, beantwortet er in einer religionslosen Welt mit einer christozentrischen Kreuzestheologie: „Begegnung mit Jesus Christus. Erfahrung, daß hier eine Umkehrung alles menschlichen Seins gegeben ist, darin, daß Jesus nur ‚für andere da ist‘. Das ‚Für-andere-dasein‘ Jesu ist die Transzendenzerfahrung!“ (Bonhoeffer, 204).
Eine gottlose Welt ist also keine Welt ohne Gottesbeziehung.
Eine gottlose Welt ist also keine Welt ohne Gottesbeziehung. Aber im Gegensatz zu früher entscheidet nicht die Religion oder ein religiöser Akt über das Christ*insein, sondern das „Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben“ (Bonhoeffer, 193). Damit ist ganz wesentlich der Gedanke der Nachfolge angesprochen: Nicht zuerst an sich selbst und die eigenen Sorgen, Fragen, Ängste, Verfehlungen etc. denken, sondern sich „hineinreißen“ lassen in das Sein Jesu – mit allem was dazu gehört: Leid, Ohnmacht, Tod und vor allem dem „Dasein-für-andere“ (Bonhoeffer, 204). Glauben meint sodann menschlich sein und mitleiden, mitten im Leben stehen, die gottlose Wirklichkeit aushalten und Stärke aus der Teilhabe am Christusereignis schöpfen. Die Gotteserfahrung liegt nicht im Unendlichen oder im Jenseits, sondern im erreichbaren Nächsten. Für Bonhoeffer ist sogar die mündige und „Gott-lose“ Welt gerade „Gott-näher“ als die unmündige, religiöse Welt (Bonhoeffer, 194).
PRAKTISCHE THEOLOGIE UND RELIGIONSLOSIGKEIT – RELATIVIERUNGSBEWEGUNGEN
Praktische Theologie hängt am Religionsbegriff. Sie ist existenziell mit ihm verflochten. Ihr Gegenstand bzw. Bezugspunkt ist die „religiöse Praxis“ und was als diese bestimmt wird, entscheidet sich am Religionsverständnis (das durchaus variiert). Eine absolut religionslose Praktische Theologie wäre gegenstandslos und somit kaum denkbar bzw. würde aus der genuin „positiven Wissenschaft“ (Schleiermacher), der eine Praxis vorausliegt, eine negative machen. Insofern fordert Bonhoeffers Prognose der Religionslosigkeit mit Blick auf alle theologischen Disziplinen gerade die Praktische Theologie auf besondere Weise heraus. Es liegt vor diesem Hintergrund nahe, Bonhoeffers Prognose relativ zu lesen – dann ergeben sich interessante Verbindungslinien und Übereinstimmungen: Bohnhoeffer beschreibt mit seiner Vision eines religionslosen Christentums nicht eine Welt ohne Christentum oder christliche Praxis oder gar Kirche, sondern vornehmlich einen extremen Gestaltwandel bzw.
Bohnhoeffer beschreibt mit seiner Vision eines religionslosen Christentums nicht eine Welt ohne Christentum oder christliche Praxis oder gar Kirche, sondern vornehmlich einen extremen Gestaltwandel bzw. „Gewandwechsel“ des Christentums.
„Gewandwechsel“ (vgl. Bonhoeffer, 141) des Christentums. Aus praktisch-theologischer Perspektive – die u. a. erkundend und wahrnehmend auf die Praxis blickt – kann dieser Grundgedanke in der Gegenwart bestätigt werden. Im Zuge der Spätmoderne wurden weitreichende Transformationsprozesse in Gang gesetzte, welche vor allem durch (die wiederum selbst sehr unterschiedlich verstandenen) Phänomene der Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung beschrieben werden können – und das Ende ist noch nicht in Sicht. Religion ist demnach zwar nicht verschwunden, hat jedoch ihre (vermeintliche) Eindeutigkeit, unhinterfragbare gesellschaftliche Vormachtstellung und selbstverständliche Relevanz im Leben der Menschen unwiderruflich verloren und verbleibt somit extrem schwer fassbar bzw. nicht singulär fixierbar.
MIT UND OHNE RELIGION – EIN REFLEXIONSMOTOR IN DER PRAKTISCHEN THEOLOGIE
Für die Praktische Theologie kann Bonhoeffers Denkfigur ein wahres Kleinod sein, weil sie einerseits generell dazu nötigt, das disziplinarische Selbstverständnis, also den eigenen Gegenstand und die subjektive Blickrichtung, immer wieder neu kritisch zu hinterfragen: Worauf blicke ich als Praktische*r Theolog*in, wenn ich „die religiöse Praxis“ erkunde? Wie verlaufen die Grenzen und Übergänge zwischen Konfessionen und Religionen? Habe ich auch sog. Religionsferne mit im Blick und welche Rolle spielen diese?
Andererseits bringt Bonhoeffers Fragment auch eine Vielzahl von Gestaltungsaufgaben für die „klassischen“ praktisch-theologischen Handlungsfelder mit, wie z. B.:
- Wie ist eine Kirche „für andere“ (auch für Religionslose und -ferne) kirchentheoretisch zu denken? Welche soziale(n) Forme(en) sollte sie einnehmen? Wie soll sie auftreten, was ist ihr „Kerngeschäft“ und was die eigentliche Botschaft?
- Wie kann verkündigende Predigt auch „andere“ erreichen? Welche Sprache kann die Lebensrelevanz von Glauben individuell transportieren?
- Wie kann religiöse Bildung konzipiert werden, wenn „etsi deus daretur“ und „etsi deus non daretur“ als gleichberechtigte Perspektiven nebeneinander stehen?
- Wie kann in der seelsorgerlichen Situation Gott in seiner anwesenden Abwesenheit erfahrbar werden?
Dieser Fragenkatalog ließe sich noch lange fortsetzen. Bonhoeffer liefert, wie er selbst auch feststellt (vgl. Bonhoeffer, 191), mit seinem Bild eines religionslosen Christentums mehr Aufgaben als Lösungen. Das ist womöglich gerade die Chance: So bleibt Praktische Theologie beständig im Modus der Reflexion – aufmerksam, dialogbereit und immer in Bewegung.
LITERATUR
Bethge, Eberhard, Christologie und „Religionsloses Christentum“ bei Bonhoeffer, in: Ders., Glaube und Weltlichkeit bei Dietrich Bonhoeffer, Stuttgart 1969, 75-99.
Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Vollständige Textausgabe, hg. von Eberhard Bethge. Mit einem Nachwort von Christian Gremmels, Gütersloh 23 2019.
Dramm, Sabine, Dietrich Bonhoeffers „religionsloses Christentum“ – eine überholte Denkfigur?, in: Gremmels, Christian/Huber, Wolfgang (Hg.), Religion im Erbe. Dietrich Bonhoeffer und die Zukunftsfähigkeit des Christentums, Gütersloh 2002, 309-320.
Ebeling, Gerhard, Die „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“, in: ZThK 52 (1955), 296-360.
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