Kitabı oku: «Lebendige Seelsorge 5/2018», sayfa 2
„Diese Menschen müssen uns doch etwas zu sagen haben!“
Dissens und Konflikt als Zeichen der Zeit
„Eine Kirche, die Menschen in ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen nicht ernst nimmt, hat heute keine Chance mehr auf Akzeptanz“ (Etscheid-Stams/Laudage-Kleeberg/Rünker, 13). Mit diesen Worten wird in der Einleitung der „Kirchenaustrittstudie“ pointiert die These vertreten, dass ein Kirchenaustritt als Botschaft, als Prophetie, aber auch als Mittel des Protestes verstanden werden kann für und gegen die bestehende Kirche und ihr Selbstverständnis. Wie kann diese Prophetie theologisch so vertieft werden, dass sie wirkungsvoll innerhalb der Kirche sein kann? Gunda Werner
Die „Kirchenaustrittsstudie“, die vom Bistum Essen in Auftrag gegeben worden ist, hat für die Teilnahme an ihrem Online-fragebogen mit Postkarten in Kneipen geworben. Das Motto der Postkarten: „Should I stay or Should I go?“ Diese Frageform entspricht dem, was die Befragten den Autorinnen und Autoren an Inneneinsichten in den eigenen Prozess des Austritts geben konnten. Denn ein Austritt ist das Ergebnis eines längeren Ringens mit sich selbst, es ist kein spontaner Entschluss. Deswegen ist es umso wichtiger zu erfahren, was am Ende den Ausschlag für einen Austritt gibt.
„SHOULD I STAY OR SHOULD I GO?“
In der Einleitung zur Studie werden dabei zwei Fragerichtungen intoniert, die in sehr unterschiedliche Richtungen gehen. Auf der einen Seite wird die theologische Dimension der Fremdprophetie stark gemacht. Das Bistum als Auftraggeberin möchte wissen, wieso Menschen gehen. Die Ausgetretenen werden darüber hinaus nicht einfach als Menschen außerhalb der Kirche verstanden, sondern als getaufte Christen und Christinnen und damit als bleibender Teil der Christus Zugehörigen (10). Auf der anderen Seite wird auch sehr offen darauf hingewiesen, dass die junge Alterszugehörigkeit der Ausgetretenen gravierende finanzielle Einbußen bedeutet (12). Flankiert werden diese beiden Motivationsstränge mit der Frage, wie offen Kirche im Blick auf eine interne Vielfalt sein kann, wenn sie die gesellschaftliche Pluralisierung so ernst nimmt, dass sie Teil ihrer eigenen Gestalt werden könnte. Diese Aufgabe nimmt die theologische Reflexion auf.
Gunda Werner
geb. 1971, seit April 2018 Professorin für Dogmatik, Leiterin des Instituts für Dogmatik in Graz; Studium der katholischen Theologie und Philosophie in Münster, Promotion in Dogmatik 2005 in Münster, Habilitation und Venia Legendi für Dogmatik und Dogmengeschichte 2015 in Bochum als erste Frau an der dortigen KatholischTheologischen Fakultät; 1995–2009 in verschiedenen pastoral-seelsorglichen Bereichen, in der Bildungsarbeit sowie in der Pflege, 2012–2018 als wissenschaftliche Assistentin in Bochum, als Vertretungsprofessorin in Bonn und Bochum, als Juniorprofessorin in Tübingen tätig.
DIE WESENTLICHE AUFGABE DER KATHOLISCHEN KIRCHE BESTEHT IN EINER ANGEMESSENEN ANTWORT AUF DIE GESELLSCHAFTLICHE PLURALISIERUNG
In dieser Reflexion bieten die Autoren eine Denkmöglichkeit, wie die Veränderung pastoral zu verstehen sein könnte, weil die „wesentliche Herausforderung für die katholische Kirche“ nämlich darin besteht, „auf die gesellschaftlichen Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse zu antworten“ (210). Damit stellen sie die Überzeugung an den Beginn ihrer Überlegungen, dass die gesellschaftliche Entwicklung in einem engen Zusammenhang mit der kirchlichen Realität zu verstehen ist. Als Referenzhorizont und wesentliche Größe ist ihnen dabei die ‚Reich Gottes‘–Botschaft Jesu zentral. Diese war schon zu Lebzeiten Jesu jene Hoffnungsgestalt gewesen, die die „unterschiedlichen Zugehörigkeitsgestalten beim historischen Jesus“ (211) zusammenhielt. Dieser Referenzhorizont ist aber gerade nicht eine ausschließlich historische Größe, sondern ein gegenwärtiger Anspruch. Mit dem Hinweis auf die biblischen Zeugnisse, die verschiedene Formen der Zugehörigkeit und Nachfolge kennen, eröffnen die Autoren nämlich die Denkmöglichkeit, diese unterschiedlichen Modelle auch heute zu entwerfen. Der genauere Blick in die neutestamentlichen Schriften gibt ja keine genaue Antwort auf die Frage, wer denn Jüngerin und Jünger Jesu ist (223–227). Beschrieben werden Lebensentscheidungen, die von einer radikalen Nachfolge bis zu einer konsultatorischen Nähe zu Jesus reichen. Sie alle werden aber als Jesus nah und bedeutsam angesehen. Deswegen schlagen die Autoren auch vor, diese Kategorie der Jünger/innenschaft als Grundlage zu nehmen, die die „typisch (post-)moderne Vielgestaltigkeit von (Glaubens-)Identitäten und Lebenspraktiken als Normalfall christlicher Glaubenspraxis“ auffassen (227).
ABSCHIED VON EINER PASTORAL DER RAHMUNG UND EINER KATHOLISCHEN IDEALBIOGRAPHIE
Diese Vielfältigkeit, die weder soziologisch noch politisch in Frage gestellt wird oder werden kann, erscheint jedoch innerkirchlich als Stolperstein. Dass ein Kirchenaustritt aus einem Prozess der Entfremdung heraus geschieht, hat inhaltlich einen Baustein in der Erfahrung, dass Kirche in ihren v. a. moralischen Einstellungen, aber auch in der Gleichberechtigung von Frauen, als nicht aktuell, nicht wertschätzend erfahren wird. In der theologischen Reflexion wird die Pluralitätsrealität kontrastiert mit einem spezifischen theologischen Entwurf kirchlicher Pastoral, der Pastoral der Rahmung (210ff.). Diese Pastoral der Rahmung geht davon aus, dass der konkrete Mensch in einer engen kirchengemeindlichen Bindung steht, die sich sowohl in „umfassender sakramentaler Betreuung“ als auch in „biographischer Normierung und Kontrolle durch die kirchliche Institution“ auszeichnet (211). Hier ist die Zugehörigkeit gerade nicht im Plural, sondern im Singular gedacht, weil sie eng angebunden ist an eine durch binnenkirchliche Logiken hergestellte Eindeutigkeit.
Erstaunlich an dieser „Kirchenaustrittsstudie“, wie auch an anderen Studien, ist ja weniger dieser Befund als die kirchlichen Beharrungskräfte, eindeutige Zugehörigkeiten zur gegenwärtigen katholischen Vergemeinschaftungsform zu suchen. Dabei, so die Autoren, dürfte doch schon anhand der Zahlen „niemand mehr bezweifeln, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts die klassische kirchliche Sozialform einer erheblichen Erosion ausgesetzt ist“ (213). Diese Wahrnehmung geht Hand in Hand mit der Feststellung, dass die Voraussetzung für die Pluralisierungs- und Individualisierungsschübe gegenwärtiger Gesellschaften, die Säkularisierung, im europäischen Kontext jedenfalls, nicht zu einem Verschwinden der Religion geführt hat. Es handelt sich um eine Transformation derselben, die allerdings in ihren Auswirkungen für die verfasste Religiosität ungeheure Konsequenzen hat (220). Selbst wenn die rahmende Pastoral in manchen Bereichen noch greift und selbst wenn sie konzeptionell attraktiv ist, ist sie doch bereits von der faktischen gesellschaftlichen Entwicklung ein- und überholt worden und findet kein belastbares Gegenüber mehr.
Die Entfremdung einer selbstverständlichen ins Privateste hineinreichenden und regierenden Religionsautorität kann seit dem Ende der 1960er Jahren nicht mehr aufgehalten werden; geschichtlich wird man diesen Prozess sogar noch früher ansetzen müssen: „In dem geschichtlichen Moment seiner praktischen [das Konzept der rahmenden Pastoral; GW] gesellschaftlichen Delegitimation durch die Religionskritik wurde das Konzept der rahmenden Pastoral zu einem Dispositiv, von dem es geraten schien, sich gesellschaftlich wie individuell zu emanzipieren“ (221).
STRATEGIE EINER NEUEN VEREINDEUTIGUNG ODER THEOLOGIE DES DISSENSES UND KONFLIKTS?
In diese Wahrnehmungen hinein plädieren die Autoren für eine pluralitätsfähige Kirche und sprechen den Vereindeutigungsstrategien keine Zukunft zu. Letztere zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit einer Neuevangelisierung eine rekonfessionalisierte Kirche wiederherstellen wollen, die sich durch die Eindeutigkeit der Zugehörigkeit und ihrer Territorialität oder Gruppenidentität auszeichnet. Der Unterschied zur beschriebenen Pastoral der Rahmung ist hier, dass sich alle, also auch die bisherigen Christen und Christinnen aus der Pastoral der Rahmung heraus neu entscheiden sollen zu einem eindeutigen, entschiedenen Christsein. Diese Zugehörigkeitslogik wird von den Autoren als anachronistisch bezeichnet, weil sie sich auf eine gesellschaftliche Voraussetzung bezieht, die es so nicht mehr gibt. Diese Form ist sogar anachronistisch in doppelter Weise: sie muss ihr Idealbild aus der Vergangenheit ziehen und zwar institutionell-strukturell und theologisch. Ersteres wird gemessen an z. B. der Sakramentenhäufigkeit, letzteres an einer theologischen Konstruktion von Kontinuität kirchlicher Strukturen und theologischer Inhalte, die historisch so nicht zu halten sind (Beispiele dafür sind neben den Movimenti das „Mission Manifest“).
Die Autoren der Studie begrüßen die Konsequenzen der Pluralisierung auch noch in ihren kirchlichen Irritationen und dadurch bedingten Abbrüchen, weil sie darin die Möglichkeit sehen, zu einer Idee von Kirchlichkeit vorzustoßen, die diese Pluralität von Anfang an hatte (231). In der Tat kann die Vereindeutigung von Traditionsbeständen und ihre praktischen Ausformungen als eine Konsequenz des 19. Jahrhunderts und seiner Ausbildung eines katholischen Milieus angesehen werden (so nimmt auch die theologische Reflexion darauf Bezug, 215f.).
Ist diese Eindeutigkeit bereits historisch nicht belegbar (so v. a. die Studien von Hubert Wolf), ist sie es theologisch in den letzten 50 Jahren noch weniger. Ich möchte die Anregungen der Studie daher aufnehmen und auf eine theologische Frage zuspitzen, die meines Erachtens weiterführen kann. Wenn es nicht egal sein kann, wieso Menschen sich von der Kirche entfremden und schließlich gehen, steht dahinter die Auffassung, dass diese Kirche ein Ort ist, an dem das Zueinander von Gott und Mensch in einer besonderen Weise ausgedrückt und erlebt wird und darin seine primäre Bedeutung hat. Verlassen Menschen also diesen Ort, weil sie sich nicht angenommen fühlen, anderer Meinung sind, dann lohnt es sich zum einen, diesen Prozess und seine Inhalte näher anzuschauen. Dies leistet die Studie. Es lohnt sich zum anderen aber auch, eben diesen Protest, diesen Konflikt, diesen Dissens also, als theologisches Thema eigens zu beleuchten.
DISSENS ALS LOCUS THEOLOGICUS
Ist der Dissens ein Ort theologischer Erkenntnis? Bradford Hinze aus New York ist entschieden dieser Meinung und geht sogar noch einen Schritt weiter. Er möchte den Konflikt, den Dissens als Möglichkeit der Gnade Gottes verstehen (vgl. Hinze 2018). Dem Dissens, dem Konflikt, sollte deswegen nicht nur mehr Aufmerksamkeit geschuldet werden, sondern er sollte auch anders bewertet werden. Die Bewertung anderer Stimmen, anderer Meinungen und anderer Lebensformen innerhalb von Kirche als Dissens beruht vor allem auf einer Interpretationshoheit derer, die entscheiden, was richtig ist und was nicht. Diese binäre Struktur von orthodox/abweichend ermöglicht es aber weder, konstruktive Wege auf Menschen zuzugehen, die sich vom kirchlichen Geschehen distanziert haben, noch den Inhalt des Glaubens in die gegenwärtige Zeit auszulegen.
Die Spannung zwischen der Vielfalt der Stimmen und der binären Struktur erscheint als die theologische Herausforderung in einer pluralisierten Moderne. Denn das Ziel sollte es doch vielmehr sein, eine theologische Argumentation zu entwickeln, die die Vielfalt der Stimmen als pluriforme Gestalten der einen Kirche und nicht als Dissens von der als einen und nur als eindeutig zu erfassenden Wahrheitsform denken kann.
Bradford Hinze bietet verschiedene theologische Topoi an, von denen drei hier weiterführend sein können. Erstens findet der Dissens als innerkirchliches Phänomen in der Breite der praktizierenden Katholiken und Katholikinnen seinen Eingang in die Realität kirchlichen Lebens mit der Enzyklika Humanae vitae von Paul VI. (1968). In dieser Situation, von der Studie in den zeitlichen Kontext sogenannter Periodeneffekte eingeordnet (74), entscheiden sich Menschen gegen einen Teilaspekt der Enzyklika, dessen Nein zur künstlichen Empfängnisverhütung, ohne dass damit zu einer Verneinung des Glaubensgutes als solchem eine Aussage gemacht worden ist (vgl. Hinze 2018, 129). Dieser Dissens eröffnet den Weg für eine Kultur der Konflikte, der Nicht-Zustimmung zu einzelnen Aspekten, vor allem der Morallehre der Kirche, aber auch zu doktrinalen Fragen (z. B. Frauenpriestertum).
Allerdings ist zweitens der Weg des Dissenses, so Hinze weiter, während der Pontifikate von Johannes Paul II.und Benedikt XVI. diszipliniert worden. Dies geschah, indem theologische Entwürfe und Gruppierungen in ihren divergierenden Äußerungen geahndet wurden sowie auch durch lehramtliche und kirchenrechtliche Klärungen im Blick auf abweichende Meinungen (so die Instruktion Donum veritatis zur Berufung des Theologen, also auch beispielsweise c. 212§ 1 CIC 1983, Glaubensgehorsam, und c. 752 CIC 1983, Verstandes- und Willensgehorsam, bei Dissens allenfalls gehorsames Schweigen, vgl. auch Hinze 2018, 130). Dabei ist doch gerade der Dissens und der Konflikt durch die kritische Theorie nicht nur für das Überleben (demokratischer) Gesellschaften hervorgehoben, sondern auch für das Vorhandensein divergierender Meinungen in kirchlichem Kontext betont worden. Letztlich verdeutlichen die durch statistisch belegbare Entscheidungen von Gläubigen, ihr Heil außerhalb der Kirche zu suchen, eben diesen Dissens, der sich als Ausdruck den Austritt sucht.
Deswegen ist es drittens sinnvoll, den theologischen Gedanken des ‚differenzierten Konsens‘, wie er im Rahmen der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung 1999 formuliert wurde, auch innerkirchlich weiterzudenken (ebenda § 50; vgl. Hinze 2018, 131) Die Erkenntnis also, dass die Themen, in denen ein Konsens herrschen sollte, von den Themen, in denen es unterschiedliche Tradition geben kann, differenziert werden sollten. Dies würde auch der in der Ökumenekonstitution des II. Vatikanums, Unitatis redintegratio, betonten Hierarchie der Wahrheiten entsprechen. In diesem Sinne ist die Studie konsequent weiterzudenken auf ihren theologischen Kerngehalt der Ekklesiologie hin, nämlich die Gottesfrage.
Die Relevanz, die die Auseinandersetzungen um den Inhalt des Glaubens in seinen pluralen Gestalten für den Glauben selber hat, ist eine Erkenntnis, an die Theologie nicht nur erinnern kann, sondern sich auch selbst erinnern muss, weil eben die Erinnerung nottut, dass es keine einheitliche Tradition gibt, sondern sie stets pluriforme Ausgestaltungen hatte. Umso mehr könnte es das Anliegen kirchlicher Lehre sein, mit der Tradition die Vielgestaltigkeit, mit anderen Worten, die vielen Formen des Dissenses nicht als Krise, sondern als angemessene Gestalt von Kirche zu verstehen.
Dass dies nicht allein als graue systematischtheologische Theorie zu verstehen ist, zeigt die aktuelle Veränderung der Bewertung der Todesstrafe, wie sie Papst Franziskus am 02.08.2018 vollzogen hat und in diesem Kontext die entsprechende Stelle im Katechismus veränderte. „Heute gibt es ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass die Würde der Person auch dann nicht verloren geht, wenn jemand schwerste Verbrechen begangen hat. Hinzu kommt, dass sich ein neues Verständnis vom Sinn der Strafsanktionen durch den Staat verbreitet hat. Schließlich wurden wirksamere Haftsysteme entwickelt, welche die pflichtgemäße Verteidigung der Bürger garantieren, zugleich aber dem Täter nicht endgültig die Möglichkeit der Besserung nehmen. Deshalb lehrt die Kirche im Licht des Evangeliums, dass ‚die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie gegen die Unantastbarkeit und Würde der Person verstößt‘, und setzt sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung in der ganzen Welt ein“ (Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2267). Mit diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, dass sich die Lehrmeinung der katholischen Kirche aufgrund der Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit (hier die Strafrechtssysteme) als auch auf der anthropologischen Verfassung des Menschen (auch als Verbrecher kein Würdeverlust) verändern kann und dies als evangeliumskonform verstanden wird. Dies wurde aber bis ins Jahr 1969 im Vatikanstaat in gegenteiliger Form erlaubt (also die Todesstrafe). Dieses Beispiel ist auch deswegen weitreichend, weil es die Argumente an die Hand gibt, die in den genannten Dissensbeispielen ebenso gelten: Veränderung gesellschaftlicher und/oder rechtlicher Voraussetzungen sowie anthropologischer Grundannahmen als auch, würde ich als These in den Raum stellen, ein Lernen der Institution in ihren Glaubensaussagen. Wieso also, können (noch) an der Kirche Interessierte fragen, geht dies nicht auch in den Themen der Ehe- und Sexualmoral, der Gleichberechtigung, der Anerkennung der Menschenrechte?
VIELFÄLTIGKEIT ALS „TYPISCH KATHOLISCH“ VERSTEHEN UND PRAKTISCHE KONSEQUENZEN ZIEHEN
Die Vielfältigkeit von Traditionen war nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall kirchlichen und theologischen Lebens! Wäre es also denkbar, dass sich die Gestaltung kirchlicher Realität am Konflikt und Dissens orientiert? Dies würde einen deutlichen Schritt weiter gehen, als den Ausgetretenen zuzuhören. Es würde bedeuten, die Austretenden und die Ausgetretenen als Subjekte aktiver theologischer und kirchlicher Gestaltung zu verstehen, als Teil der Traditionsbildung. Nur mit ihnen kann und sollte eine Theologie und mit ihr kirchliche Instanzen auf eine Gestalt von Kirche reflektieren, die ein Modell von Pluralität und Einheit zu denken versuchen sollte. Oder sogar muss? Richard Gaillardetz argumentiert deutlich für die Notwendigkeit, die binäre Struktur von orthodoxem Glauben und abweichendem Glauben zu verlassen, und dem Wunsch nach Einheit als Einheitlichkeit gerade nicht nachzugeben (vgl. Gaillardetz, 132).
In der Vorlesung und Übung in diesem Semester, in der ich die „Kirchenaustrittsstudie“ mit den Studierenden bearbeitet und diskutiert habe, hatte ein Student bei der Vorstellung der Austrittskriterien einen wunderbaren Versprecher: „Aus der fehlenden Bindung zur Kirche als Austrittsgrund“ wurde „die fehlende Bindung der Kirche.“ Dieser Versprecher öffnet aber genau die theologische Denkrichtung, die bereits figuriert worden ist: nur in einer Bindung der Kirche an die Menschen und ihre Zeit kann sie der Ort sein, der für die jeweilige Zeit Heils-Zeit sein kann. Die Sorge um die Transzendenz sollte sie nicht sorgen, denn dafür sorgt ihre Darstellung ihres bezeugten Grundes, den sie ja gerade nicht herstellen muss.
LITERATUR
Etscheid-Stams, Markus/Laudage-Kleeberg, Regina/Rünker, Thomas (Hg.), Kirchenaustritt – oder nicht? Wie Kirche sich verändern muss, Freiburg 2018.
Gaillardetz, Richard, Beyond Dissent: Reflections on the Possibilities of a Pastoral Magisterium in Today’s Church, Theological Roundtable, in: Horizon 45 (2018) 132–136.
Hinze, Bradford, Dissenting Church: New Models for Conflict and Diversity in the Roman Catholic Tradition, in: Horizon 45 (2018) 128–132.
Ders., The Grace of Conflict, in: Theological Studies (forthcoming).
Vom Wert des Zuhörens
Die Replik von Ulrich Riegel und Tobias Faix auf Gunda Werner
Gunda Werner schlägt in ihrem Beitrag vor, Dissens nicht mehr als Gefahr kirchlichen Zusammenhalts zu deuten, sondern als Weg (inner-)kirchlicher Klärungsprozesse. Hierzu zwei kurze Anmerkungen: Erstens, dass ein sachorientierter Dissens im Sinn Gunda Werners funktioniert, liegt auf der Hand. Was aber passiert, wenn dissente Positionen emotional unterlegt sind? Im Arianismus-Streit lässt sich wunderbar studieren, wie ein inhaltlicher Formelkompromiss scheitert, weil die Gegner persönlich nicht mehr miteinander klarkommen. Gerade im religiösen Bereich berühren inhaltliche Fragen oft die eigene Identität. So erweist sich der Austrittsprozess vielfach nicht als Ergebnis inhaltlicher Dissonanz, sondern als Konsequenz persönlicher Enttäuschungen und Verletzungen. In dieser Hinsicht wäre es spannend, von Gunda Werner mehr darüber zu erfahren, welche Rolle die affektive Dimension in ihrer Idee spielt, Dissens als ein Prinzip des kirchlichen Miteinanders heranzuziehen.
Zweitens: Der Dissens als Form des kirchlichen Miteinanders bedarf organisierter Plattformen. Die kirchliche Tradition kennt in der via concilii eine solche Plattform, die zudem in den verschiedenen Räten auf weltkirchlicher, diözesaner und gemeindlicher Ebene gut etabliert ist. Im Unterschied zum protestantischen Christentum mit seiner synodalen Verfasstheit ist die via concilii im römisch-katholischen Christentum sehr oft schlecht beleumundet (vgl. z. B. www.kathpedia.com/index.php/Konziliarismus). Dass eine solche via concilii in der römisch–katholischen Kirche nur in Kollegialität mit dem Papst (bzw. den jeweils vor Ort verantwortlichen kirchlichen Repräsentanten) zu denken ist, schränkt sie allerdings nicht ein, sondern spezifiziert sie in einer typischen Weise. Sie gemahnt aber auch der besonderen Verantwortung, die diesem Amt bzw. diesen Ämtern zu eigen ist, wenn es darum geht, Dissens bzw. Vielstimmigkeit zu moderieren. In dieser Hinsicht ist einschlägig, dass die Klage über die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei kirchlichen Amtsträgern zu den klassischen Austrittsmotiven gehört.
Welche Rolle können Ausgetretene in einer Kirche spielen, die ihr Miteinander am Dissens und Konflikt orientiert? Gunda Werner sieht die Chance, dass Ausgetretene in einer solchen Kirche „Subjekte aktiver theologischer und kirchlicher Gestaltung“ (S. 318) sein können. Das mag so sein, insbesondere dann, wenn mit dem Austritt noch nicht jegliches Interesse an Kirche verloren ist. Unsere Interviews zeigen, dass es solche Menschen durchaus gibt. Allerdings bringen viele Ausgetretene deutlich zum Ausdruck, dass sie mit dieser Kirche abgeschlossen haben. Diese Menschen ernst zu nehmen bedeutet auch, sie in Ruhe zu lassen und ihre Entscheidung zu akzeptieren. Weiterhin ist gerade bei den Menschen, die sich einstmals in der Kirche engagiert haben, der Austrittsprozess mit persönlichen Kränkungen verbunden, sodass es beim Austritt nicht nur um dissente kognitive Positionen geht.
In allen diesen Fällen erscheint uns eine Kirche, die Ausgetretene als Subjekt im obigen Sinn versteht, als übergriffig. (Wir vermuten, dass Gunda Werner hier sofort zustimmen würde). Umgekehrt zeigen die Essener Erfahrungen eindrücklich, dass gerade das offensive Zugehen auf die Menschen, das Zuhören einen großen positiven Effekt in der Wahrnehmung von Kirche auslöst. Sowohl die von uns Angesprochenen als auch die Menschen, die medial von der Essener Studie mitbekommen haben, haben mehrheitlich erfreut reagiert, dass Kirche offensichtlich bereit ist, von Menschen, die ihr kritisch gegenüberstehen, zu lernen.
Gerade das offensive Zugehen auf die Menschen löst einen positiven Effekt in der Wahrnehmung von Kirche aus.
Im Zuhören scheint sich mehr als ein Gesprächsangebot auszudrücken. Im Zuhören legt die Kirche eine Haltung an den Tag, die viele Interviewte in der Essener Studie bislang vermisst haben: Eine Kirche, die bereit ist, selbst Schritte auf die Menschen zuzugehen und so nahbar zu sein und verstehbar zu werden. Denn eines wurde in der Studie sehr deutlich: die Kirche als macht- und prachtvolle Institution wird mehr als kritisch gesehen. Deshalb wird gerade im Zuhören von Ausgetretenen die von Gunda Werner vorgeschlagene Gestaltung kirchlicher Realität, die sich an Dissens und Konflikt orientiert, verwirklicht
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