Kitabı oku: «Lebendige Seelsorge 5/2019», sayfa 2
Für das Christentum kommt die Familie als Basisstruktur nicht in Frage, wohl aber die lokale Gemeinde. Auf der Ebene der lokalen Gemeinde laufen die unterschiedlichen Funktionszusammenhänge der Gesellschaft zusammen und sind die Menschen herausgefordert, sich die sachlich und funktional ausdifferenzierte Welt als eine lebbare Sinnwelt zu erschließen. Dies legt es nahe, sie als primären Ort des Christlichen in der Moderne zu betrachten.
Die katholische Kirche steht sich mit dem Übermaß an Organisation selbst im Weg.
THESE 5: UMKEHR VOM WEG DER ORGANISATION
Der Weg der katholischen Kirche der letzten 200 Jahre war der Weg der Organisation. Gerade die katholische Kirche konnte dabei auf eine lange frühorganisatorische, bis in des 11. Jahrhundert zurückreichende Tradition zurückgreifen (vgl. Kaufmann 2012, 194-215). Was den päpstlichen Juristen des Mittelalters als Utopie vorschwebte, wurde im 19. und 20. Jahrhundert empirische Realität: eine zentralisierte, bürokratisch organisierte Kirche, die mit dem Jurisdiktionsprimat und der Unfehlbarkeit das Papstes alle organisatorischen und religiösen Machtmittel an der Spitze zusammengezogen hatte. Ekklesiologsich und kirchenrechtlich galt die zentralisierte Organisationsgestalt der Kirche als eine heilige, von Christus selbst eingesetzte Ordnung.
Die zur Organisation gegenläufigen, gemeinschaftlichen Sozialformen innerhalb der Kirche gerieten unter Druck und verloren an Bedeutung. Neben den gemeinschaftlichen Lebensformen der Orden waren es die Lokalgemeinden, die an Eigenständigkeit und Möglichkeit zur autonomen Selbstgestaltung verloren. Trotz aller Gemeindeeuphorie, die das 2. Vatikanum auslöste, hat sich daran bis heute nur wenig geändert. Nicht die formale Organisation selbst, wohl aber ein Übermaß an zentralisierter, hierarchischer Organisation ist der Religion abträglich (vgl. Kaufmann 2012). Dies kann als gesichertes Ergebnis sozialwissenschaftlicher Forschung gelten.
Die bürokratische Organisation sollte die katholische Religion angesichts einer als feindlich wahrgenommenen modernen Welt schützen und vor dem Untergang bewahren. Heute zeigt sich, dass sich die katholische Kirche mit ihrem Übermaß an Organisation selbst im Wege steht. Ihre notwendige Reform muss vom Primat des neutestamentlich und frühchristlich bezeugten gemeinschaftlichen Charakters der Gemeinde ausgehen (vgl. Luz; Karle).
THESE 6: INTERMEDIARITÄT UND SUBSIDIARITÄT ALS EIGENE RESSOURCEN
Es wird höchste Zeit, dass die katholische Kirche das, was sie im 20. Jahrhundert als Heilmittel gegen die Krise des Staates und der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt entwickelt hat, im 21. Jahrhundert als für sich selbst geltend anerkennt und zur Leitperspektive ihrer Reform macht.
1931 hatte in der Enzyklika Quadragesimo anno (QA) Pius XI. mit drastischen Worten konstatiert, dass die verschiedenartigen intermediären Vergemeinschaftungen zerschlagen worden seien, „bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrigblieben“ (QA 78). Dagegen setzte der Papst die Einsicht: „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen; darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“ (QA 79). Es gibt keine nachvollziehbaren Gründe, warum dies nicht auch für den Sozialkörper Kirche gelten sollte. Es spricht vielmehr vieles dafür, dass die doppelte normative Orientierung des Subsidiaritätsprinzips gerade auf dem Feld von Religion und Kirche heute eine besondere Dringlichkeit besitzt.
Die Reform muss vom Primat des neutestamentlich und frühchristlich bezeugten gemeinschaftlichen Charakters der Gemeinde ausgehen.
Unter den Bedingungen moderner Religionsfreiheit bilden auch in Sachen Religion der Einzelmensch und seine eigenen Kräfte den Angelpunkt einer geglückten Glaubens- und Lebenspraxis. Gleichzeitig gilt, dass das, was die „kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu einem guten Ende führen können“ (QA 79), ihnen nicht entzogen werden darf.
Auf dem Feld der Religion sind die intermediären Gemeinwesen insofern unverzichtbar, als sie zwischen der religiösen Sinnwelt des Einzelnen und den objektivierten Sinnstrukturen der Kirche notwendige Vermittlungsleistungen erbringen (vgl. Berger/Luckmann, 59). Darin liegt die Bedeutung der Kirchengemeinde als intermediäre Größe. Als Handlungs- und Resonanzraum des individuellen Glaubens dürfen die Gemeinden nicht zu groß sein, sie brauchen aber auch als Institutionen der Vermittlung im Religiösen wie im Gesellschaftlichen eine gewisse Größe als Orte vielfältigen sozialen Lebens.
Die Kirche – vergleichbar dem Staat im Politischen – hat die Aufgabe, den kleineren Einheiten den Freiraum zu sichern und helfend und unterstützend die Bedingungen dafür sicherzustellen, dass sie ihre Funktion möglichst gut erfüllen können. Intermediarität und Subsidiarität gelten bis heute als ein spezifisch katholisches Erbe in der modernen Sozialtheorie. Es wäre leichtfertig, diese Ressource heute nicht in eigener Sache zu nutzen und dem kirchlichen Reformhandeln zu Grunde zu legen.
LITERATUR
Berger, Peter/Luckmann, Thomas, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995.
Bucher, Rainer, Die Pfarrgemeinde von morgen. Skizzen zu ihrer Zukunft aus deutscher Perspektive, in: Henkelmann, Andreas/ Sellmann, Matthias (Hg.), Gemeinde unter Druck – Suchbewegungen im weltkirchlichen Vergleich: Deutschland und die USA, Münster 2012, 145-174.
Ebertz, Michael N., Aufbruch in der Kirche. Anstöße für ein zukunftsfähiges Christentum, Freiburg i. Br. 2003.
Ebertz, Michael N., Vor der Aufgabe der Neugründung. Die Kirche in sich wechselseitig verstärkenden Krisen, in: Herder Korrespondenz Spezial 2011, 2-6.
Gabriel, Karl, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i. Br. 72000.
Gabriel, Karl/Geller, Helmut, Ausblick: Entwicklungstrends in Kirchengemeinden, in: Geller, Helmut/Pankoke, Eckart/Gabriel, Karl, Ökumene und Gemeinde, Opladen 2002, 361-389.
Geller, Helmut, Strukturprinzipien von Kirchengemeinden, in: Geller, Helmut/Pankoke, Eckart/Gabriel, Karl, Ökumene und Gemeinde, Opladen 2002, 27-46.
Karle, Isolde, Warum braucht Kirche Gemeinde?, in: Evangelische Theologie 70 (2010) 465-478.
Kaufmann, Franz-Xaver, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Freiburg i. Br. 2011.
Kaufmann, Franz-Xaver, Kirche in der ambivalenten Moderne, Freiburg i. Br. 2012.
Luz, Ulrich, Ortsgemeinde und Gemeinschaft im Neuen Testament, in: Evangelische Theologie 70 (2010) 404-415.
Milieuhandbuch, Religiöse und kirchliche Orientierung in den Sinus-Milieus (im Auftrag der MDG Medien-Dienstlesitung GmbH), Heidelberg/München 2013.
Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno. Deutsche Übersetzung in: Katholische Arbeitnehmerbewegung (Hg.), Texte zur Katholischen Soziallehre, Köln 92007, 61-122.
Pollack, Detlef, Historische Analyse statt Ideologiekritik. Eine historisch-kritische Diskussion über die Gültigkeit der Säkularisierungstheorie, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011) 482-522.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), „Mehr als Strukturen…“. Neuorientierung der Pastoral in den (Erz-)Diözesen. Ein Überblick. Arbeitshilfen Nr. 216, Bonn 2007.
THEMA
Reform durch „Missionarische Synodalität“
Die Replik von Paul Metzlaff auf Karl Gabriel
Karl Gabriel führt in seinem Beitrag insbesondere soziologische Argumente an, um die Gemeinden als notwendige Basisstrukturen des Christlichen und als primäre Orte der heute notwendigen Reform der Kirche in der Moderne bzw. Postmoderne auszuweisen. Seine These grenzt er sowohl gegenüber einer das Subsidiaritätsprinzip schwächende Hierarchisierung, auf die in der Replik nicht eingegangen sei, als auch gegen delokalisierte kirchliche Gruppen ab. Die von ihm identifizierten drei Systeme der lokalen Basisstruktur seien durch eine Erosion des Glaubens (Verwaltung der Heilsgüter), flächenmäßige Vergrößerung der Pfarreien (Gemeinschaft) und die Funktionalisierung der Gesellschaft (Dienstleistung) in Veränderung begriffen bzw. gefährdet. „Als Konsequenz ergibt sich, dass unter vollständig funktional differenzierten gesellschaftlichen Bedingungen Religion Felder undifferenzierten sozialen Lebens benötigt, um existieren zu können“ (S. 318). Dieser Raum sei die lokale Gemeinschaftlichkeit der Gemeinde, die auch Ausgangspunkt der Erneuerung der Kirche sei.
Im Anschluss an diese These wird hier ergänzend gefragt, welcher Art diese Gemeinschaftlichkeit sei, dass sie zur Erneuerung der Kirche beitrage. Dafür wird auf den Begriff der „Synodalität“ rekurriert. Ein unmittelbar daran anschließender zweiter Schritt geht vom Ausgangspunkt der soziologischen Ausführungen und der zuzustimmenden Konsequenz aus, dass Religion der Funktionalität enthobene Räume benötige, um heute Ressourcen entfalten zu können. Neben der konkreten Lokalität, die dem Christlichen helfe, gesellschaftlicher funktionaler Reduktion zu entrinnen und dadurch frei Heilsgüter anzubieten, wird hier die Kategorie der konkreten Begegnung ausgeführt. Zielpunkt ist die Kennzeichnung einer „Missionarischen Synodalität“ als notwendige Grundlage der Reform der Kirche.
Die lokale Gemeinschaft kann als Volk Gottes am Ort bezeichnet werden, das gemeinsam in der Zeit voranschreitet und deshalb synodal (syn-hodos) ist. Jeder Weg benötigt ein klares Ziel, das wesentlich durch die Art des Weges mitbestimmt ist. In der Vorbereitung und Durchführung der letzten Weltbischofssynode zum Thema „Jugend, Glaube und Berufungsunterscheidung“ hat Papst Franziskus die geistliche Unterscheidung als Methode der Synodalität herausgestellt, die in den drei aufeinander aufbauenden Wegabschnitten „Wahrnehmen – Deuten – Wählen“ besteht. Wenn Kirche und Synode Synonyme sind, gilt es diese Art des Vorangehens auf alle Ebenen kirchlichen Lebens zu übertragen.
Die erste Etappe besteht in der wirklichen „Wahrnehmung“ des und der Anderen. Dies setzt sowohl ein Hören, das damit rechnet, dass mir im Anderen ein Impuls Gottes begegnen könnte, als auch eine Freiheit im Sprechen (Parrhesia) voraus. Entscheidend ist, dass alle, die am konkreten Ort unterwegs sind, gemeinsam auf den Geist Gottes hören und sich von ihm leiten lassen. Das unterscheidet die Kirche von einem Parlament, wie Papst Franziskus oft betont. Im zweiten Abschnitt wird das Gehörte im Licht des Glaubens unterschieden, um eine bloß öffentliche Meinung vom notwendigen Impuls des Geistes zu trennen. Erst im dritten und letzten Teil des Weges folgt „sub et cum petro“ die Wahl geeigneter neuer Wege, die alle dem Ziel der Mission dienen sollen. Wie die Jünger von Emmaus noch in der gefährlichen Nacht zurückkehren und den Anderen von ihrer Erfahrung berichten (Lk 24,35), ist Synodalität kein Selbstzweck, sondern soll ein Weg der Kirche werden, der mehr und mehr der Evangelisierung dient (vgl. Episcopalis communio, Nr. 1). Ziel des gemeinschaftlichen Vorangehens am Ort ist es also, dies in einem geistlichen Prozess der Unterscheidung zu vollziehen, der die Möglichkeiten der Christusbegegnung fördert, womit der oben erwähnte zweite Schritt eröffnet wird.
Die Relation der Funktionalität kennzeichnet die Beziehung zweier austausch- und ersetzbarer Abstrakta, deren Zueinander vollständig mathematisch-logisch in einem geschlossenen System beschrieben werden kann. Die Heilsverwaltung am Ort bedarf zwar der gesetzlichen Regelungen, wie sie z. B. in can. 528 §2 CIC ausgeführt sind, doch erschöpft sie sich nicht in deren funktionaler Ableistung. Es liegt im Wesen des Konkreten und des Lebendigen, dass es sich einer funktionalen Definition entzieht und jegliches System sprengt, wie z. B. die wissenschaftstheoretische Position des Fallibilismus zeigt. Jeder Mensch ist konkret-lebendig, womit ein vollständiges Durchdringen einer Person mittels eines mathematisch-beschreibbaren Netzes, wie die Algorithmen der Social Media, unmöglich ist. Immer bleibt ein nicht erklärbarer und unverfügbarer Rest – das Geheimnis der Person – bestehen, dem sich allein in der Begegnung nähern lässt. Begegnung ist die Zurückstellung des Eigenen im Nachvollzug der Sicht- und Lebensweise der oder des Anderen.
Die Reform der Kirche und der Ausbruch aus zunehmender Funktionalisierung benötigen eine konkrete lokale Gemeinschaft als Ort konkreter Begegnung, die synodal im geistlichen Prozess der Unterscheidung auf die Raumeröffnung der Christusbegegnung hingeordnet ist.
Neben der Konkretion der Lokalität durchbricht solche jeder Person die gesellschaftlich bevorzugte funktionale Reduktion. Deshalb ist die Gemeinschaft am Ort als Raum der konkreten Begegnung ein notwendiger Ort des Glaubens, womit natürlich auch praktische Fragen nach der notwendigen Größe der Gemeinschaft, ihrer vielfältigen Zusammensetzung, ihrem inneren ethischen Codex und ihrer nach außen sichtbaren, einladenden und anziehenden Willkommenskultur eröffnet sind. Sie ist jedoch, wie die Ausführungen zur Synodalität angedeutet haben, auf die größere Begegnung verwiesen, die sie überhaupt erst konstituiert und welche ihr dauerhaft Halt zu geben vermag. Hat der Glaube, wie Karl Gabriel schreibt, an Selbstverständlichkeit verloren und bedarf es hier der Erneuerung, wird es Aufgabe der christlichen Struktur am Ort sein, vielfältige Begegnungsräume mit der konkreten Person Jesu Christi anzubieten. Von ihm her wird sich auch neu der Höhepunkt gemeindlichen Lebens, die Hl. Messe, als form- und gestaltgewordene lebendige Begegnung in der Einheit der Gemeinschaft erschließen lassen.
Die Reform der Kirche und der Ausbruch aus zunehmender Funktionalisierung benötigen also eine konkrete lokale Gemeinschaft als Ort konkreter Begegnung, die synodal im geistlichen Prozess der Unterscheidung auf die Raumeröffnung der Christusbegegnung, d. h. auf die Mission, hingeordnet ist. Dies haben die Synodenväter der Jugendsynode unter dem Stichwort der „Missionarischen Synodalität“ zum Ausdruck gebracht: „Daher muss in jedem lokalen Umfeld wieder ein Bewusstsein dafür geweckt werden, dass wir als Volk Gottes dafür verantwortlich sind, das Evangelium in den verschiedenen Kontexten und innerhalb aller Situationen des Alltags Fleisch werden zu lassen. Dabei geht es darum, sich von der Denkweise des Delegierens zu lösen, die pastorales Handeln so stark bestimmt“ (Relatio finalis, Nr. 128).
LITERATUR
Abschlussdokument der XV. Ordentlichen Generalversammlung der Weltbischofssynode zum Thema „Die Jugend, der Glaube und die Berufungsunterscheidung“ (27. Oktober 2018), online unter: www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2018/Abschluss-dokument-Jugendsynode-2018.pdf (Relatio finalis).
Papst Franziskus, Apostolische Konstitution Episcopalis Communio (15. September 2018).
THEMA
Halbiertes Christentum
Die Replik von Karl Gabriel auf Paul Metzlaff
Mit Paul Metzlaff verbindet mich das Anliegen, nach Wegen zu suchen, wie der christliche Glaube in einer säkularen Gesellschaft nicht nur überleben, sondern zu einer neuen Blüte finden kann. Die Richtung aber, die er in seinem Beitrag „Volkskirche oder Entscheidungskirche?“ vorschlägt, halte ich für einen Irrweg. An vier Punkten möchte ich dies verdeutlichen.
1. Ambivalente Freiheit des Entscheidens
Meine Einwände beginnen bei der Analyse, die Paul Metzlaffs weiteren Überlegungen zu Grunde liegt. Metzlaff spricht von einer „ungeheure(n) Freiheit“ (S. 311), die nicht nur die Möglichkeit zur Wahl schenke, sondern einen Zwang zu wählen impliziere. Diese Diagnose der Situation des heutigen Menschen unterschlägt, dass es sich bei der „ungeheuren Freiheit“ um ein höchst ambivalentes Phänomen handelt und der Zwang zu wählen keineswegs den einzigen, die Freiheit einschränkenden Zwang darstellt (vgl. Beck). Vielmehr handelt es sich um ein ambivalentes Freiheitsversprechen, das unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht oder nur begrenzt eingelöst werden kann. Wie die Individualisierungsdebatte gezeigt hat, verschwinden die gesellschaftlichen Zwänge nicht, sondern ändern ihr Gesicht. Sie werden nicht mehr als von Personen ausgehende Zwänge erlebt, sondern gehen von gesichtslosen, anonymen Institutionen aus. So reichen heute die Zwänge des Arbeitsmarkts bis in die Kindheit zurück. Ohne eine gute Schulausbildung gibt es im späteren Leben immer weniger zu entscheiden.
Richtig ist, dass die Menschen heute mehr als bisher ihr Handeln als selbstverantwortliches Entscheiden zugerechnet bekommen. Statt den darin enthaltenen radikalen Individualismus von einer christlichen Position aus zu kritisieren, bemüht sich Metzlaff darum, ihn als Chance für einen zeitgemäßen Glauben zu interpretieren. Entsprechend siedelt er seine „christliche Vision des erfüllten Lebens“ (S. 313f.) nicht innerhalb, sondern jenseits der konkreten Gesellschaft an.
2. Volkskirche auf Gewohnheitskirche reduziert
In der seit vielen Jahren diskutierten Frage, ob unter (post-)säkularen Bedingungen die Volkskirche in Richtung einer Entscheidungskirche zu überwinden sei, warnt Metzlaff zu Recht vor Einseitigkeiten und plädiert in Richtung eines (katholischen) „Sowohl-als-auch“. Allerdings verkürzt er das begriffliche Verständnis von Volkskirche um zentrale Aspekte. Der Volkskirche entspricht für Metzlaff ein Glaube, „der die kulturellen, gesellschaftlichen und persönlichen Lebensvollzüge durch eingeübte und tradierte Gewohnheiten prägt“ (S. 311). Mit der Beschränkung des Verständnisses von Volkskirche auf Gewohnheitskirche bleiben Bezüge des Begriffs in Richtung „Kirche im Volk“ oder „Kirche des Volkes“ bzw. „Kirche für das Volk“ unartikuliert (vgl. Haese/Pohl-Patalong). In einem entsprechend erweiterten Verständnis von Volkskirche geht es um eine Kirche und eine christliche Gemeinde, die bewusst verbunden mit der sie umgebenden Gesellschaft leben und die angesichts prekärer Lebensverhältnisse Verantwortung für die Möglichkeiten eines erfüllten Lebens in der Gesellschaft bzw. in ihrem Lebensraum vor Ort übernehmen. Auch an dieser Stelle tendiert Metzlaff zu einem individualistisch verkürzten Verständnis des christlichen Glaubens.
3. Inhaltsleere Vision des erfüllten Lebens
Paul Metzlaff möchte – so formuliert er sein Hauptanliegen – eine „christliche Vision des erfüllten Lebens in Spiel bringen“ (S. 313). Was macht für Metzlaff diese Vision aus, wie beschreibt er sie? Wer erwartet, dass inhaltlich wenigstens die Umrisse einer Vision erfüllten Lebens erkennbar würden, sieht sich getäuscht. Man erfährt nur, dass sie in der Person Christi und in der Begegnung mit ihr besteht. Entsprechend bedeutet Mission für Metzlaff die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Menschen Jesus Christus begegnen. Es sollen Räume eröffnet werden, „in denen diese Erfahrung gemacht und die Entscheidung getroffen werden kann, Jesus Christus ins eigene Leben eintreten zu lassen“ (S. 313).
Als Beispiel für einen zeitgemäßen Raum der Erfahrung des Evangeliums und der Begegnung mit Jesus Christus verweist Metzlaff auf die Großveranstaltung „Light up the Dome“, die gerade mit einigen tausend Teilnehmern am 01. September 2019 in Fulda stattgefunden hat. Der einzelne junge Mensch soll im Massenevent die Chance bekommen, Jesus Christus zu begegnen und eine Entscheidung zu fällen, die grundlegende Bedeutung für sein gesamtes Leben besitzt.
Worin die christliche Vision eines erfüllten Lebens für Metzlaff inhaltlich besteht, darüber erfährt man nichts. Er spricht lediglich davon, dass die von der Erfahrung ausgehende Entscheidung ästhetische, intellektuelle und ethische Ergänzungen braucht, um Kontinuität zu erlangen. Um welche Art von Ergänzungen es sich handeln könnte, wird nicht gesagt. Im Anschluss an Hans Joas könnte man die von Metzlaff ins Zentrum gestellte Christusbegegnung als intensive Erfahrung der Selbsttranszendenz und des Ergriffenseins von der Macht des Heiligen interpretieren. Aber auch für Joas bedarf diese Erfahrung einer inhaltlichen Deutung, damit von Religion bzw. christlicher Religion überhaupt gesprochen werden kann (vgl. Joas, 27).
Auch Metzlaffs Kritik an Karl Rahners Vorstellung von „Anonymen Christen“ verweist auf das Problem der Inhaltsleere der vorgestellten christlichen Vision eines erfüllten Lebens. Rahner hatte natürlich die Vorstellung eines erfüllten Lebens vor Augen, das am Wohlergehen der Anderen, besonders der Armen und Unterdrückten, orientiert ist. Deshalb konnte er von Menschen mit einer solchen christlichen Lebenspraxis von „Anonymen Christen“ sprechen. Ohne Bezug auf Inhalte des Christlichen macht es tatsächlich keinen Sinn, von „Anonymen Christen“ zu sprechen.
4. Christentum ohne Geschichte und Gesellschaft
Gleichgültig wie der Streit unter Soziologen und Historikern um die Säkularisierung ausgeht (vgl. Gabriel/Gärtner/Pollack), von Metzlaff und seinen Mitstreitern vom Mission Manifest wird sie als unumstößliches Faktum behandelt. Die Säkularisierungsthese bietet ihnen die scheinbar empirisch gesicherte Grundlage dafür, Gesellschaft und Geschichte den Rücken zuzukehren und sich den Individuen und ihren persönlichen Entscheidungen zuzuwenden. Die christliche Vision eines erfüllten Lebens, von der Metzlaff spricht, lässt keinerlei Bezüge zu Kultur und Gesellschaft erkennen. Ein „von der Weltlichkeit der Welt“ gelöstes und gereinigtes Christentum, wie es in These 10 des Mission Manifest im Anschluss an Papst Benedikt angestrebt wird (vgl. Mission Manifest), lässt sich aber nur als „halbiertes Christentum“ charakterisieren. Ihm fehlt der Stoff, an dem sich der christliche Glaube bewähren und als glaubwürdig erweisen könnte. Kirche wird zu einer Angelegenheit der klar Entschiedenen und von der Welt Getrennten. Damit ist man aber nah bei dem, was soziologisch seit Max Weber und Ernst Troeltsch als Sekte bezeichnet wird. Ein „Comeback der Kirche“, von dem das Mission Manifest spricht, ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.
LITERATUR
Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.
Gabriel, Karl/Gärtner, Christel/Pollack, Detlef (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 22014.
Haese, Bernd Michael/Pohl-Patalong, Uta (Hg.), Volkskirche weiterentwickeln. Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft, Stuttgart 2010.
Joas, Hans, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg/Basel/Wien 2004.
www.missionmanifest.online [abgerufen am 16.09.19].
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