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Nicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umformung des Christentums
Nicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umformung des Christentums
Wie findet man eine christlich reflektierte Haltung zu den neurechten Bewegungen und Parteien, die gerade Europa und die Welt spalten? Gesprächsbereitschaft zeigen oder klare Kante? Die Polarisierungen verlaufen hier auch durch die Kirchen und manchmal sogar durch einzelne Personen.
Es braucht eine Auseinandersetzung mit neurechtem Denken, einen guten eigenen Kompass gegen identitäre Versuchungen und in der Kommunikation aufmerksame Klugheit jenseits pastoraler Naivität. Michael Schüßler
Es ist die Gefahr eines Beitrags zum Gespräch mit „Neuen Rechten“, lediglich moralisierende Appelle zu illustrieren. Ich beginne zur Erdung mit drei eigenen Erfahrungen.
Meine Mutter ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem katholischen Sudetenland vertrieben worden und ins protestantische Nordbayern geflüchtet. Erst spät ist mir klar geworden, wie sehr diese Fluchterfahrung, der Mangel und das Nicht-erwünscht-sein meine ganze Familie geprägt hat. Als „Kriegsenkel“ (Sabine Bode) gibt es bei mir eine Ahnung davon, wie lange und subtil das zerstörerische Potenzial von Fluchttraumata sein kann.
Sommer 2016. Ein Grillabend mit den Nachbarn aus dem gut situierten Stadtteil. Ich komme mit einem pensionierten Arzt ins Gespräch. Schnell landen wir bei der „Flüchtlingskrise“. Ich bin begeistert über die Willkommenskultur, er reagiert süffisant entsetzt. Man wisse doch, dass die Afrikaner aufgrund ihrer genetischen Ausstattung zu einer freiheitlichen Demokratie gar nicht in der Lage seien.
Die von Sarrazin nach rechts „enthemmte Mitte“ (Decker/Kiess/Brähler) stand neben mir am Grill.
Katholikentag 2018 in Münster. Zu einer Podiumsdiskussion sind die kirchenpolitischen Sprecher aller im Bundestag vertretenen Parteien angekündigt, auch die AfD. Ein Bündnis katholischer Vereine und Initiativen ruft dazu auf, den AfD-Politiker offiziell auszuladen und damit ein Zeichen gegen rechtes Gedankengut zu setzen. Ich bin als Erstunterzeichner angefragt, sage aber ab. Mit einer Skandalisierung der AfD, so fürchte ich, geht man deren politischer Strategie auf den Leim.
Michael Schüßler
Dr. theol. habil, Dipl-Päd., Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen; forscht zu Verflüssigungsprozessen in Kirche und Gesellschaft, zu Digitalität, Genderfragen und einer postheroischen Diakonietheologie.
Die öffentliche Geste verfestigt nur das Bild der Neuen Rechten als Anti-Establishment-Bewegung.
Das alles ergibt kein Gesamtbild, aber es spiegelt ein paar der Probleme, um die es im Folgenden geht.
MIT RECHTEN REDEN, OHNE ZU ZERSTÖREN
Mit Rechten reden? Das verdirbt einem nur den Tag, sagen die einen. Dafür ist es bereits zu spät, jetzt geht es um klare Kante, sagen die anderen. Aber gerade Christ/innen müssten mit Rechten Verständnis haben, dazu verpflichte die Nächstenliebe, sagen die Dritten.
Um die richtige Balance zu finden aus „Verstehenwollen“ und „Positionbeziehen“ ist es hilfreich, sich einige kommunikationstheoretische Grundlagen ins Gedächtnis zu rufen. Für eine brauchbare Verdichtung einiger der jüngst erschienenen Handlungs-Empfehlungen zum Umgang mit Rechten folge ich Bernhard Pörksen.
Eine vielleicht enttäuschende Erkenntnis steht am Beginn. Erstens gilt nämlich die Strategie pauschaler Abgrenzung und diffamierender Verurteilung als gescheitert. Sie unterläuft meist die eigenen moralischen Standards und wirkt kontraproduktiv. Wer „Alle Nazis!“ oder „Alles rassistische Ideologen!“ schreit, erzeugt bei unschlüssigen Sympathisanten erst jenen Drang zur Positionierung, der lose Zugehörigkeiten verfestigt. Zweitens wird das Gespräch mit unentschlossenen Mitläufern langfristig nicht umsonst sein. Man müsse zum „Hermeneuten der Wut“ werden, um zu begreifen, was sich hinter den Parolen verbirgt, so Pörksen. Hier verläuft allerdings ein schmaler Grat zum naiven Einverständnis.
Deshalb sollte drittens klar sein, dass Dialog kein Allheilmittel ist. Kommunikation transportiert Probleme, löst sie aber nicht automatisch. Bei einem Gespräch mit echten Fronten darf auch benannt werden, was unsäglich ist und wo die persönliche Grenze verläuft. „Grundsätzlich für das Gespräch zu votieren, heißt also nicht, auf Schärfe zu verzichten, sondern auf die diffamierende, oft falsche Sofort-Einordnung des politischen Gegners“ (Pörksen). Positionierung ja – Polarisierungen nach dem Schulz-von-Thun-Motto „Ich bin das Ideal – du bist der Skandal“ eher nicht.
Viertens hilft es deshalb, sich mit Empörung zurückzuhalten. Die Provokation durch Tabubrüche gehört zur Strategie rechter Kader. Die entstehende Alarmstimmung und öffentliche Erregung zeige dann nur die „Kaputtheit des Systems“. Fünftens sollte man unterscheiden zwischen den Kadern, also den ideologischen Stichwortgebern, und dem sympathisierenden Publikum bzw. den Wählern. Manche testen für sich vielleicht nur eine radikale Position, fühlen sich abgehängt oder suchen einfach die Protesterfahrung. Für die Auseinandersetzung mit Anführern und Aktivist/innen dagegen braucht es strategische Vorbereitung, wissensbasierte Gesprächsstrategien und rhetorische Kompetenz.
Dazu gehört sechstens, sich nicht aufs Glatteis führen zu lassen und das neurechte „Framing“ zu übernehmen. Für die Bedeutung entscheidend sind nämlich nicht reine Fakten, sondern die Person und die Sprache, die den Fakten einen sinnvollen Rahmen verleihen. Wer auf das Gegenüber nur reagiert, liefert sich ihm aus. „Wann immer man in der politischen Debatte […] gegen bestimmte Maßnahmen oder Ideologien argumentiert, verNicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umformung des Christentums heddert man sich sprachlich – und damit gedanklich – in der Weltsicht des Gegners, anstatt in den Köpfen seiner Zuhörer einen Frame zu aktivieren, der von der eigenen […] Weltsicht erzählt“ (Wehling, 56). Donald Trump ist eine Katastrophe, denken sie jetzt nicht an ihn – eben!
IDENTITÄT UND VIELFALT: RECHTES DENKEN VERSTEHEN
Um die Gegenwart ins Bild zu bekommen, lässt sich ganz verkürzt ein roter Faden durch die jüngere Geschichte herausarbeiten. Der katholische Staatsrechtler Carl Schmitt (geb. 1888) war ein Kritiker der Weimarer Demokratie und Wegbereiter des Naziregimes. Heute gilt er als Ideengeber der Neuen Rechten. 1923 schrieb er: „Zur Demokratie gehört notwendig erstens Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen. Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, dass sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß“ (Schmitt, 13f.).
Schmitt entwickelt einen völkischen Begriff von Demokratie, die gerade nicht aus der Vielheit der Einzelnen entsteht. „Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat“ (Schmitt, 22). Nach Jan-Werner Müller beschreibt das ziemlich genau die gängige Definition von (Rechts-)Populismus: „Wir – und nur wir – repräsentieren das wahre Volk“ (Müller, 26). Vielfalt und hybride Vermischungen erscheinen dagegen als Wurzel allen Übels.
Die Neue Rechte knüpft an dieses Denken an. Man akzeptiert die Vielfalt an Kulturen, aber nur in ihrem identitären Getrenntsein. Götz Kubitschek (geb. 1970), neurechter Verleger und Publizist erklärt: „Ethnopluralismus bedeutet, dass wir den ethnokulturellen Ausdruck der anderen würdigen, und nicht vorhaben, in irgendeiner Weise […] vereinnahmend zu wirken. Diese Haltung impliziert, dass man hofft, dass die anderen auch ethnopluralistisch sind und uns in Ruhe lassen. […] Klar ist, dass jedes Volk auch eine ethnische Größe ist und dass der Verlust dieser relativen Homogenität große Probleme nach sich zieht“ (Kubitschek, zit. nach Wagner, 82f.). Das erst auf den zweiten Blick rassistische Motto lautet: Es darf ja Afrikaner oder Muslime geben, aber nicht auf dem Gebiet, in dem „unser Volk“ lebt.
Neu ist auch ihre strategische Ausrichtung auf die Mitte der Gesellschaft. Statt dumpfer Skinheadkultur und Nazi-Folklore sucht man Rat bei der linken Protestkultur der 68er. Kubitschek übernahm von der APO die Strategie gezielter Provokationen und hoffte auf Nachahmer. Und so ist es dann auch gekommen, von Pegida über die AfD bis zu den Identitären. Martin Sellner (geb. 1989) ist deren österreichischer Sprecher. Von Lenins „Was tun?“, von Antonio Gramsci und Gene Sharp, dem Vordenker gewaltfreier Revolutionen im Osten und beim arabischen Frühling, habe er gelernt, „wie man es schafft, nicht selbst aggressiv zu werden, sondern den Gegner zu übertriebenen Reaktionen zu reizen und auf diese Weise zu blamieren“ (Sellner, zit. nach Wagner, 209).
In der Praxis funktioniert das so: Während eines kritischen Vortrags der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl über neurechte Bewegungen hatte Sellner seine Leute im Publikum verteilt. Nach ein paar Minuten ging der Erste nach vorne und hat ihr mit den Worten eine Rose überreicht: „Frau Strobl, dürfen wir Sie zu unserem Stammtisch einladen. Damit Sie einmal nicht über uns, sondern mit uns reden?“ (zit. nach Wagner, 209). Die harmlose Gesprächseinladung war eine strategische Provokation im Raum des Politischen. Nachdem Strobl verärgert abgelehnt hatte, wiederholten andere die Aktion, bis die Veranstaltung abgebrochen wurde. „Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party“ (Kubitschek, 24), so Kubitschek in einem programmatischen Text von 2006. Das sollte man wissen.
Armin Nassehi, der Münchner Soziologe, wusste das alles, als er 2014 Kontakt zu Kubitschek aufnahm. Der nachzulesende Mailwechsel ist in vieler Hinsicht lehrreich. Überraschend einig sind sich beide zunächst in der Kritik an linksliberaler Doppelmoral. Man genieße in jungen Jahren das bunte Treiben des Multikulti-Stadtteils, ergreife aber spätestens mit der Schulreife des ersten Kindes die Flucht. „Multikulturalismus unter Ärzten, Rechtsanwälten, Künstlern – das läuft doch vollkommen anders, keinesfalls vergleichbar ab mit dem, was Überfremdung für die breite Bevölkerung bedeutet. Ich habe […] Fragen: […] Was ist das deutsche, wo zeigte sich heute und wie wäre die Gesellschaft zu ordnen, damit es in seiner Eigenart erhalten bliebe?“ (Kubitschek, zit. nach Nassehi 2015, 312). Nassehi sieht das Problem, dass viele nämlich „links denken und rechts leben“. Also Vielfalt und universale Menschenrechte verteidigen, doch den lebenspraktischen Zumutungen soweit es geht in elitäre Milieus ausweichen.
Doch was wäre die neurechte Alternative? Rechts bedeutet, „Menschen immer nur als Gruppenexistenzen anzusehen, also als Angehörige von Ethnien, von Schichten, von Religionen“ (Nassehi 2014). Kubitschek stimmt zu: „Die Gruppenexistenz des ‚Wir‘ im nationalen und damit auch ethnisch gebundenen Sinn ist unhintergehbarer, davon bin ich überzeugt“ (Kubitschek, zit. nach Nassehi 2015, 320). Entscheidend sei für ihn dann, ob das deutsche Volk etwas Besonderes sei. Nassehi antwortet: „Nun, das ist es schon aus logischen Gründen, sonst könnten wir gar nicht unterscheiden. […] Aber was heißt das für unsere Frage? Ich meine: nichts!“ Der Unterschied zwischen uns, so Nassehi, „das ist der Glaube daran, dass das Grundproblem moderner Gesellschaftlichkeit an mangelnder Homogenität seines Personals bestehe“, während „unsere Gesellschaft auch ohne Migranten pluralistischer und unübersichtlicher ist, als wir es imaginieren. Insofern ähnelt der konzentrierte Blick auf Migranten und Fremde ein bisschen der Sexbesessenheit religiöser Moral, insbesondere katholischer und evangelikaler Natur. Vielleicht kratzt man dann da, wo es gar nicht juckt […]“ (Nassehi 2015, 326).
Das würde bedeuten: Wer mit Migrant/innen im überfüllten Wartezimmer sitzt und lange warten muss, dessen Problem wird nicht durch Grenzkontrollen, Antigenderismus oder Islamfeindlichkeit gelöst, den Lieblingsthemen der Neuen Rechten. Man müsste für ein gerechteres Gesundheitssystem und eine bessere Versorgung mit Ärzt/innen sorgen. Doch so einfach ist es nicht.
Nicht ohne die Anderen! Widerständiges zur identitären Umformung des Christentums
NEURECHTE TIEFENGESCHICHTE UND TOXISCHE OPFERKONKURRENZEN
Die rechten Identitätsangebote treffen auf eine gesellschaftliche Atmosphäre, die mit dem Aufstiegsoptimismus des 20. Jahrhunderts nicht mehr viel gemein hat. In der „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey) sickert das Gefühl der Unsicherheit und der Bedrohung des Erreichten bis weit in die Mitte. Die eigenen Kinder werden es wohl nicht besser haben. Sie hangeln sich in der Wettbewerbs- und Steigerungslogik einer „marktgerechten Demokratie“ von Befristung zu Befristung. Statistisch betrachtet alles kein Problem, es geht uns gut und viele surfen letztlich erfolgreich durchs Leben. Aber die Absturzgefahr surft immer mit. Und handlungsleitend sind eben nicht Statistiken, sondern wie sich das Leben anfühlt.
Genau diese „gefühlte Wahrheit“ hat die Soziologin Arlie Russell Hochschild am Erfolg der rechtskonservativen Tea-Party-Bewegung in den USA interessiert. Sie verdichtet ihre intensive Feldforschung in eine typologische „Tiefengeschichte“. Die geht so: Viele weiße, christliche, männliche Amerikaner warten geduldig in einer Schlange, die bergauf zum American Dream führt. Man arbeitet, hält sich an die Regeln, hat Krisen überstanden und ist stolz auf das Erreichte. Doch plötzlich drängeln sich afrikanische Einwanderer und syrische Flüchtlinge in die Schlange. Überhaupt sind viel mehr Frauen dabei, die um den Aufstieg konkurrieren. Und die Regierung bittet manche sogar noch nach vorne. „Du bist ein mitfühlender Mensch. Aber jetzt verlangt man von dir, Mitleid für alle diejenigen aufzubringen, die sich vorgedrängt haben. […] Du hast Geschichten über unterdrückte Schwarze, […] verkappte Schwule, verzweifelte Flüchtlinge gehört, aber irgendwann sagst du dir, dass du die Schotten gegen menschliches Mitgefühl dichtmachen musst – besonders wenn es darunter einige gibt, die dir schaden könnten“ (Hochschild, 192).
Damit ist jede Verfehlung von Minderheiten politisierbar. Nicht nur in den USA, auch in Frankreich (Front National), in Ungarn (Orban) und in Deutschland. David Begrich berichtet: „Ich habe Bürgerversammlungen erlebt, wo es um die Unterbringung von Flüchtlingen in einem sozialen Brennpunkt geht. Da sagen die Leute: ,Ich warte darauf, dass für mein Kind einen Zuschuss für den Kauf neuer Schulmaterialien gibt [sic!]. Die syrischen Flüchtlinge haben all ihr Schulzeug schon zusammen, weil ihnen das gespendet wurde. Mir spendet keiner etwas.‘ So ethnisiert man soziale Widersprüche“ (Begrich, 17).
Dass Minderheiten die gleichen Rechte erhalten, dass Frauen in männerdominierte Machtbereiche drängen, dass die Integration von Migranten gelingt (vgl. SVR) und dass islamisches Leben immer sichtbarer zu Deutschland gehört, das erleben einige Menschen als massive Kränkung ihrer bisherigen Stellung. „Am liebsten möchtest du rufen: ,Ich gehöre auch einer Minderheit an!“ (Hochschild, 200). Regina Ammicht-Quinn hat das toxische Opferkonkurrenz genannt, „weil das Ziel nicht eine offenere, gerechtere Gesellschaft, sondern eine geschlossene(re) und für mich gerechte Gesellschaft ist“ (Ammicht-Quinn).
Genau diese entsolidarisierende „Selbstviktimisierung“ (Leo/Steinbeis/Zorn, 97) ist das Zentrum des neurechten Narrativs. Die Verachtung schwieriger Kompromisse, die zum Teil hasserfüllten Tabubrüche und die Abwertung von Minderheiten erzeugen eine emotionale Identitätserfahrung, „eine[r] berauschende[n] Befreiung von dem Gefühl, fremd im eigenen Land zu sein“ (Hochschild, ,306). Insofern geht es nicht nur um soziale Abstiegsängste, sondern auch um kulturelle Identitätskämpfe.
Begreifen lässt sich die entstandene Mobilisierung deshalb nicht mehr ohne die Dynamik digitaler Medien. Bekannt sind die selbstbestätigenden Effekte von Echokammern und Filterbubbles. Unbeachtet bleibt oft, dass ausgrenzende Gruppenidentitäten ihren Anker im verkörperten Leben haben. Michael Seemann hat die Verbreitung von rechten Fakenews und deren Richtigstellung bei Twitter untersucht: Eine Reisewarnung nach Schweden wegen Terrorgefahr. Das Ergebnis: Eine große Gruppe hat diese Fakenews verbreitet, aber nicht die Richtigstellung, über die sie nachweislich per Twitter informiert war. Das heißt, es liegt nicht am technischen Zugang zu Wissen, dass nur bestimmte Informationen verbreitet werden. Diese Gruppe hat „die Fake News verbreitet, völlig unabhängig davon, ob die Informationen wahr sind oder nicht – einfach weil sie es so will.“ Entscheidend: „Informationen dienen weniger als Wissensressourcen, denn als Identitätsressourcen – und da spielt es keine Rolle, ob sie wahr oder falsch sind“ (Seemann/ Kreil, 15). Die selbst gewählte Zugehörigkeit zu der Bezugsgruppe der Gleichgesinnten wird entscheidend. Und deren Identität sortiert und formt das komplizierte Weltwissen je nach Bedarf.
Wahrscheinlich ist die zugespitzte Opferkonkurrenz das Spiegelbild einer digital vollstreckten Marktgesellschaft, nämlich alles auf die Wettbewerbs-Logik konkurrierender Identitäten festzulegen. Auch Religion und die Kirchen.
NICHT OHNE DIE ANDEREN – WIDERSTÄNDIGES ZUR IDENTITÄREN UMFORMUNG DES CHRISTENTUMS
Das verändert die Religionen insgesamt und damit auch das Christentum. Vor allem traditionalistische und charismatisch-pentekostale Glaubensformen scheinen sich nahezu perfekt in die singulär-tribale Kultur des digitalen Kapitalismus einzupassen. „Das Religiöse […] bewegt sich auf einem globalen Markt der Religionen, auf dem besonders fundamentalistische Spielarten mit ihrem Anspruch radikaler Authentizität Attraktivität entfalten“ (Reckwitz, 409). Zugleich gibt es immer wieder neurechte Versuche, um die tief verankerten religiösen Identitäten von Katholik/innen für ihre politische Strategie auszubeuten. Gerade wer dem institutionellen Machtverlust der Kirche hinterhertrauert, entdeckt vielleicht schnell gemeinsame Themen: Islamkritik, konservative Familienwerte, Homophobie und Ordnungsdenken. Doch wo blieben dann biblische Gastfreundschaft, jesuanische Nächstenliebe und katholische Weite?
Das Christentum ist keine identitäre Religion! Man kann den Glauben nicht auf nur ein Prinzip, eine geschlossene Kulturform oder das eine Set an Satzwahrheiten festlegen. Natürlich hat man solche Umformungen im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder versucht. Doch deren Erfolg war meist eng verbunden mit der Gewaltgeschichte des Christentums.
Als religiös-militante Exklusivzugehörigkeit kann Identität im Glauben schnell toxisch werden. Denn sie gerät in destruktive Abgrenzung zu anderen Identitäten, um die eigenen Sicherheiten stabil zu halten und zu retten. Es gibt dazu übrigens keine Alternative besserer, linker Sicherheiten, denn das wäre nur eine Umpolung der gleichen ausgrenzenden Muster. Glauben heißt Vertrauen ins Risiko des Lebens, auch wenn die Dinge kompliziert sind. Ich habe hier viel von dem französischen Jesuiten Michel de Certeau gelernt (vgl. Schüßler).
Nach Certeau macht es die christliche Offenbarung aus, dass wir keinen identitären Zugriff auf das Ursprungs-Ereignis haben. Das Grab Jesu ist leer und auf dem Weg nach Emmaus ist der Auferstandene in dem Moment verschwunden, in dem er identifiziert werden könnte. Die Jünger müssen sich ihren eigenen Reim darauf machen. „Das Ereignis faltet sich aus (es verifiziert sich) im Modus des Verschwindens in den Differenzen, die es möglich macht. […] In allen ihren Gestalten hat diese Beziehung des ‚Anfangs‘ zu seiner ,Verifikation‘ keine andere als eine plurale Form“ (Certeau, 177). Umgekehrt heißt das: „Die Zeugen sprechen nicht mehr von Gott, wenn sie auf den Singular zurückgenommen werden und wenn sie seinen Platz einnehmen“ (Certeau, 106). Wenn es um die Treue zum christlichen Ursprung geht, ist die Testfrage nicht die nach der sichtbaren Einheit, sondern viel entscheidender die nach der notwendigen Vielfalt an Orten und Praxisformen. Jetzt erscheint es umgekehrt problematisch, wenn die Wahrheit des Evangeliums auf ein „Einheitsprinzip“ zurückgeführt wird. Das Zulassen, ja das Suchen der je anderen Entdeckungsweise des Evangeliums wird selbst zum Kriterium dafür, welcher Autorität man glauben und vertrauen kann: spricht sie im Singular oder im Plural? „Der Häretiker ist, genau genommen, nicht derjenige, der ‚auswählt‘ (da der Glaube gelebt wird und ein Engagement impliziert, ist er Beleg für eine ‚Wahl‘, ist er partikulär), sondern derjenige, der andere Rekurse ‚untersagt‘, […] der jede andere Autorität als die seine für einen bedeutungslosen Rest hält […]. Der Häretiker bricht die Kommunikation ab“ (Certeau, 112). Die entscheidende Wendung bei Certeau lautet: Christliches Leben geht „nicht ohne“ (Certeau, 103f.) die jeweils Anderen, nicht ohne den Nächsten, nicht ohne die Gegner, nicht ohne Opposition. Es geht nicht ohne Diversität und damit sind wir mitten in der Gegenwart. Denn „‚nicht ohne‘ heißt auch nicht ohne jene, die Vielfalt selbst als Bedrohung erleben.
Während Carl Schmitt und die Neue Rechte das Zusammenleben an die ausgrenzende Identität einer Einheit binden, die alles andere nicht nötig hat und bekämpft, besteht für Certeau die heilsame Wahrheit des Christentums darin, gerade „nicht ohne“ die jeweils Anderen leben und glauben zu können. Genau darum lohnt es zu kämpfen und zu werben. Der eingangs zitierte Bernhard Pörksen beschließt seine Tipps mit der Aussicht, es müsse „möglich sein, den ganzen Schmerz sichtbar zu machen, nicht allein die Angst und die Verletzung spezieller Gruppen“ (Pörksen). Wer mit Neuen Rechten über ihre Sorgen redet, darf deshalb vom Schicksal muslimischer Geflüchteter und den (Über-)Lebensgeschichten junger Afrikaner nicht schweigen. Den ganzen Schmerz sichtbar zu machen, das wäre auch von Certeau her eine treffende Aufgabenbeschreibung christlicher Pastoral. Ganz einfach allerdings ist das nicht.
LITERATUR
Ammicht-Quinn, Regina, Toxische Befreiung? Versuch über Opferkonkurrenzen, in: feinschwarz.net (vom 11.04.2018), www.feinschwarz.net/toxische-befreiung-versuch-ueber-opferkonkurrenzen/ (abgerufen am 12.09.2018).
Begrich, David, Waffen des Lichts. Muss man mit den Rechten reden? Interview von Alex Rühle mit David Begrich und Thomas Wagner, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 249 vom 28./29.10.2017, 17. de Certeau, Michel, GlaubensSchwachheit, herausgegeben von Luce Giard, Stuttgart 2009.
Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Brähler, Elmar (Hg.), Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger „Mitte-Studie“, Gießen 2016. Hochschild, Arlie Russell, Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt a. M. 2017.
Kubitschek, Götz, Provokation!, in: Sezession 12 (2006), 22-24, sezession.de/wp-content/uploads/2009/07/Kubitschek_Provokation.pdf (abgerufen am 16.09.2018).
Leo, Per/Steinbeis, maximilian/Zorn, Daniel-Pascal (Hg.), Mit Rechten reden. Ein Leitfaden, Stuttgart 2017. Müller, Jan-Werner, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016. Nachtwey, Oliver, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016 (Mit Datenmaterial und vielen Beispielen).
Nassehi, Armin, Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Hamburg 2015.
Nassehi, Armin/Kassel, Dieter, Ausländerfeindlichkeit. „Wir typisieren sofort“. Warum viele „links“ reden, aber „rechts“ denken. Armin Nassehi im Gespräch mit Dieter Kassel, in: Deutschlandfunk Kultur (vom 06.01.2014), www.deutschlandradiokultur.de/auslaenderfeindlichkeit-wir-typisieren-sofort.954. de.html?dram:article_id=273824 (abgerufen am 16.09.2018). Pörksen, Bernhard, Umgang mit Rechtspopulisten: Raus aus der Abwertungsspirale. Mit Rechten reden und mit Rechtspopulisten streiten – aber wie? Vorschläge aus kommunikationspsychologischer Perspektive, in: Der Tagesspiegel (vom 19.11.2017), https://www.tagesspiegel.de/medien/umgang-mit-rechtspopulisten-raus-aus-derabwertungsspirale/20602236.html (abgerufen am 11.09.2018). Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 52018.
Schmitt, Carl, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 41969.
Schüßler, Michael, Entzogenes Ereignis? Zur positiven Aktualität von Certeaus theologischer „Arbeit des Negativen“, in: Bauer, Christian/Sorace, Marco A. (Hg.), Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Ostfildern 2018 (im Erscheinen). Seemann, Michael/Kreil, michael, Digitaler Tribalismus und Fake News, ctrl-verlust.net/DigitalerTribalismusUndFakeNews.pdf (abgerufen am 16.09.2018).
SVR, Stabiles Klima in der Integrationsrepublik Deutschland. SVR-Integrationsbarometer 2018, Berlin, https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2018/09/SVR_Integrationsbarometer_2018.pdf (abgerufen am 18.09.2018).
Wagner, Thomas, Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten, Berlin 2017.
Wehling, Elisabeth, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016.
Wiebicke, Jürgen, Zehn Regeln für Demokratieretter, Köln 2017.
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