Kitabı oku: «Les Misérables / Die Elenden», sayfa 27
V. Ein anständiges Begräbniß
Javert führte Jean Valjean in das Stadtgefängniß ab.
Madeleines Verhaftung verursachte in Montreuil-sur-Mer ein außerordentliches Aufsehen, eine allgemeine Aufregung. Zu unserem größten Leidwesen können wir nicht verhehlen, daß so ziemlich alle Welt ihn im Stich ließ, blos weil er im Zuchthaus gesessen hatte. Allerdings kannte man noch nicht den Hergang, wie er sich in Arras abgespielt hatte. Den ganzen Tag über konnte man in der ganzen Stadt Unterhaltungen folgenden Kalibers hören:
»Wissen Sie schon, er war ein entlassener Galeerensklave? Wer denn? – Der Bürgermeister. – Ach was! Herr Madeleine? – Ja ja! – Wirklich? – Er hieß gar nicht Madeleine, sondern Bejean, Bojean oder Boujean; na, kurz, ein ganz gemeiner Name. – Gott erbarme sich! – Er ist dingfest gemacht! – Dingfest! – Vorläufig sitzt er im Stadtgefängniß. – Vorläufig? – Ja wohl. Er kommt vor's Schwurgericht wegen eines Straßenraubes. – Nun, das wundert mich gar nicht. Der Mann war zu gut, zu vollkommen, zu fromm. Er schlug das Ordenskreuz aus, gab allen Betteljungen Almosen u. s. w. Ich habe mir immer gedacht, daß etwas Unterköthiges sich dahinter verbarg!«
Die vornehme Welt besonders stimmte diesen Ton an.
Unter Anderem machte eine alte Dame, eine Abonnentin des royalistischen Drapeau blanc, folgende unergründlich tiefsinnige Bemerkung:
»Mir thut es weiter nicht leid. Ist es doch eine gute Lehre für die Bonapartisten!«
So verschwand das Phantom, das den Namen Madeleine geführt hatte, aus der Stadt Montreuil-sur-Mer. Nur drei oder vier Leute in der ganzen Stadt bewahrten ihm ein treues Andenken. Eine von ihnen war die alte Portierfrau, die bei ihm gedient hatte.
Diese brave Alte saß am Abend des Tages, wo er verhaftet worden war, in ihrer Wohnung, noch ganz bestürzt und voll trübsinniger Gedanken. Die Fabrik war den ganzen Tag geschlossen gewesen, der Thorweg verriegelt, die Straße verödet. In dem Hause befanden sich nur die beiden Nonnen, Schwester Perpetua und Schwester Simplicia, die an dem Bette Fantinens wachten.
Zu der Zeit, wo Madeleine nach Hause zu kommen pflegte, stand die alte Portierfrau, der Gewohnheit gehorchend, auf, nahm den Schlüssel zu seinem Zimmer aus einer Schublade, so wie den Leuchter, den er des Abends gebrauchte, wenn er in sein Zimmer hinaufstieg; hängte dann den Schlüssel an den Nagel, wo ihn Madeleine zu finden gewohnt war und stellte den Leuchter daneben, als ob sie ihn erwartete. Hierauf setzte sie sich wieder hin und hing ihren Gedanken nach. Alles dies that die arme Alte, ohne sich dessen bewußt zu sein.
Erst zwei Stunden später erwachte sie aus diesem Zustande mit dem Ausruf: »I du mein Gott! Wie komme ich bloß dazu, daß ich seinen Schlüssel an den Nagel gehängt habe?«
In demselben Augenblick ging die Thür auf, eine Hand langte herein, ergriff Schlüssel und Leuchter und zündete die Kerze an dem brennenden Talglicht der Portierfrau an.
Diese sah mit weit aufgerissenem Munde und mit verhaltenem Athem zu.
Sie kannte die Hand, den Arm, den Rockärmel.
Es war Madeleine.
Es währte einige Sekunden, ehe sie sprechen konnte. So starr war sie vor Schrecken, wie sie später erzählte.
»Mein Gott, Herr Bürgermeister,« rief sie aus, »ich glaubte, Sie wären ...«
Sie wagte nicht fortzufahren, denn das Ende ihrer respektvoll begonnenen Rede wäre respektwidrig ausgefallen, und für sie war Jean Valjean noch immer der Herr Bürgermeister.
Er beendete den Satz, den sie angefangen:
»Im Gefängniß, meinen Sie. Nun ja, da war ich auch. Aber ich habe eine Stange der Fenstervergittrung herausgebrochen, habe mich von einem Dach hinabfallen lassen und hier bin ich. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer und Sie, holen Sie Schwester Simplicia. Sie ist gewiß bei der Leiche der armen Fantine.«
Die Alte gehorchte in aller Eile.
Er gab ihr keine Verhaltungsregeln. War er doch sicher, daß sie ihn besser hüten würde, als er sich selbst.
Wie er es angestellt hat, um in den Hof zu gelangen, da die Hauptthür des Hauses verriegelt war, hat man nie erfahren können. Er hatte einen Schlüssel zu einer kleineren seitlichen Thür, den er immer bei sich trug; aber diesen Schlüssel hatte man ihm doch wohl abgenommen, als er bei seiner Verhaftung visitirt wurde. Jedenfalls ist dieser Punkt nie aufgeklärt worden.
Er stieg also die Treppe, die zu seinem Zimmer führte, hinauf. Oben angelangt, ließ er das Licht auf einer der letzten Stufen zurück, schloß leise die Thür auf, machte im Dunkeln das Fenster und den Fensterladen zu und holte erst jetzt den Leuchter.
Diese Vorsicht war nicht überflüssig; denn sein Fenster konnte, wie man sich erinnern wird, von der Straße aus gesehen werden.
Nun blickte er um sich, nach dem Tisch, dem Stuhl, dem Bett, das seit drei Tagen unbenutzt dastand. Von der Unordnung, die er vor zwei Tagen angerichtet hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Die Portierfrau hatte das Zimmer in der gewohnten Weise »aufgeräumt und rein gemacht.«
Nur hatte sie aus der Asche die beiden Stockzwingen und das vom Feuer geschwärzte Zweifrankenstück aufgelesen und säuberlich auf den Tisch gelegt.
Madeleine nahm jetzt ein Blatt Papier und schrieb: »Dies sind die beiden Zwingen von meinem Knotenstock und das dem kleinen Gervais abgenommene Zweifrankenstück, dessen ich in der Verhandlung Erwähnung that.« Auf dieses Blatt Papier legte er dann das Geldstück und die beiden Zwingen, so daß sie jedem, der in das Zimmer trat, recht in die Augen fallen mußten. Darauf entnahm er einem Schrank ein altes Hemd, daß er in zwei Stücke zerriß, und wickelte die beiden Leuchter ein, aber ohne Hast und in aller Ruhe, denn er aß während dieser Arbeit noch ein Stück schwarzes Brod, wahrscheinlich das Gefängnißbrod, das er bei seiner Flucht mitgenommen hatte.
Dies erkannte man an den Brodkrümchen, die man später bei der Haussuchung fand.
Da klopfte es zweimal an die Thür.
»Herein!« rief er.
Es war Schwester Simplicia.
Sie war bleich, hatte rothe Augen, und der Leuchter, den sie in der Hand hielt, zitterte heftig. Schwere Schicksalsschläge haben die Eigentümlichkeit, daß sie, so vollkommen oder so abgestumpft wir auch sein mögen, unser Innerstes aufwühlen und das wesentlich Menschliche zu Tage legen. Tief erregt durch die Ereignisse dieses Tages war die Nonne wieder Weib geworden, hatte geweint und zitterte.
Jean Valjan schrieb noch einige Zeilen auf ein zweites Stück Papier und überreichte es der Nonne mit den Worten:
»Ehrwürdige Schwester, geben Sie diesen Zettel dem Herrn Pfarrer.«
Das Papier war nicht zusammengefaltet, und sie ließ einen Blick darauf fallen.
»Sie können es lesen!« sagte er.
Sie las; »Ich ersuche Se. Hochehrwürden Alles, was ich hier zurücklasse, an sich zu nehmen, und damit die Kosten meines Prozesses und die Beerdigung der heute verstorbenen Fantine zu bestreiten. Das Uebrige sollen die Armen bekommen.
Die Schwester wollte sprechen, aber sie konnte fast nur unverständliche Laute hervorbringen. Zuletzt aber brachte sie doch einige zusammenhängende Worte heraus:
»Wünschen der Herr Bürgermeister nicht die Leiche der armen Fantine noch einmal zu sehen?«
»Nein!« antwortete er. »Die Polizei ist mir auf den Fersen. Würde ich in ihrem Zimmer arretirt werden, so könnte das ihre Ruhe stören.«
Diese Worte hatte er kaum zu Ende gesprochen, als sich auf der Treppe ein starkes Geräusch vernehmen ließ. Schwere Tritte kamen herauf, und die alte Portierfrau schrie so laut und durchdringend sie konnte:
»Ich schwöre Ihnen beim lieben Herrgott, daß den ganzen Tag und den ganzen Abend Niemand gekommen ist. Ich habe sogar die ganze Zeit über keinen Fuß aus meiner Wohnung gesetzt.«
»Es ist aber Licht in dem Zimmer,« antwortete eine Männerstimme, an der sie Javert erkannten.
Die Zimmerthür war so angebracht, daß sie, wenn sie aufgemacht wurde, die Ecke rechts verdeckte. In diese Ecke stellte sich jetzt Jean Valjean, nachdem er das Licht ausgeblasen hatte.
Schwester Simplicia sank neben dem Tisch auf die Kniee.
Nun ging die Thür auf und Javert kam herein, während man vom Korridor her Geflüster und die lauten Reden der Portierfrau vernahm.
Die Nonne erhob nicht die Augen. Sie betete.
Das Licht stand auf dem Kaminsims und erleuchtete das Zimmer nur schwach.
Als Javert die Schwester bemerkte, blieb er verdutzt stehen.
Der Hauptzug von Javerts Charakter, sein Element, die Sphäre, in der er lebte und webte, war, wie wir schon auseinandergesetzt haben, Achtung vor jedweder Autorität. Hiergegen ließ er weder einen Widerspruch noch eine Einschränkung gelten. Selbstverständlich war für ihn die Autorität der Geistlichkeit die allerhöchste; er war religiös und in dieser Hinsicht, wie in jedem andern Punkte äußerst korrekt. In seinen Augen war ein Priester eine Intelligenz, die sich nicht irrt; eine Nonne ein Wesen, das nicht sündigt. Er sah in ihnen Seelen, die von der Welt durch eine unübersteigbare Mauer getrennt waren, und in dieser Mauer war ein Thor, das sich nur aufthun konnte, um die Wahrheit hinauszulassen.
Als er die Schwester bemerkte, wollte er sofort umkehren.
Aber dieser ersten Regung stellte sich eine andere entgegen, sein Pflichtgefühl, das ihn gebieterisch nach einer anderen Seite hintrieb. Er blieb also und wollte wenigstens sich erlauben, eine Frage zu thun.
Er stand vor jener Schwester Simplicia, die nie in ihrem Leben gelogen hatte. Dies wußte Javert und hegte deshalb für sie eine besondere Ehrfurcht.
»Ehrwürdige Schwester, sind Sie in diesem Zimmer allein?«
Es trat eine kurze, aber peinliche Pause ein, wo die arme Portierfrau vor Angst zu vergehen glaubte.
»Ja!« hauchte endlich die barmherzige Schwester, indem sie die Augen aufhob.
»Also haben Sie nicht – ich bitte um Verzeihung wegen meiner Aufdringlichkeit, aber meine Pflicht verlangt es – Jemand hier gesehen, einen Mann, der aus dem Gefängniß entsprungen ist und von der Polizei gesucht wird, einen gewissen Jean Valjean?«
Die Schwester antwortete: »Nein!«
Sie log, log zweimal hintereinander. Schlag auf Schlag, ohne Bedenken, rasch wie Einer, der sein Leben zum Opfer bringt.
»Ich bitte ergebenst um Verzeihung«, sagte Javert und zog sich mit einer tiefen Verbeugung zurück.
Fromme Schwester, seit vielen Jahren weilst Du nicht mehr auf dieser Welt! Du bist in das Reich des Lichtes emporgestiegen, wieder zu Deinen Schwestern, den Jungfrauen, und Deinen Brüdern, den Engeln versammelt. Möge Dir diese Lüge im Paradiese angerechnet sein!
Die Versicherung der barmherzigen Schwester hatte solche Beweiskraft für Javert, daß er nicht einmal die sonderbare Kerze auf dem Tische beachtete, die erst eben ausgeblasen war und noch schwelte.
Eine Stunde später wanderte ein Mann durch Nacht und Nebel in der Richtung von Montreuil-sur-Mer nach Paris. Dieser Mann war Jean Valjean. Laut Her Aussage einiger Fuhrleute, die ihm begegneten, trug er ein Bündel und war mit einem Kittel bekleidet. Wo er diesen Kittel her hatte, hat man nie erfahren. Aber vor wenigen Tagen war in dem Hospital der Fabrik ein alter Arbeiter gestorben, der nur einen Kittel hinterließ. Vielleicht war es dieser.
Noch ein Wort über Fantine, das letzte.
Wir haben Alle eine Mutter, die Erde. Dieser Mutter wurde Fantine wiedergegeben.
Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln, – und vielleicht hatte er Recht – indem er von Jean Valjean habe so viel Geld wie möglich für die Armen behielt. Um wen handelte es sich denn? Um einen Zuchthäusler und ein öffentliche Dirne. Deshalb vereinfachte er Fantinens Beerdigung und begnügte sich für sie mit dem Allernothwendigsten, der gemeinsamen Totengrube.
Fantine wurde also in der Ecke des Friedhofs zur Ruhe bestattet, die nichts kostet, die Allen und Keinem gehört, und wo die Leichen der Armen auf einen Haufen und durch einander geworfen werden. Zum Glück verwechselt Gott die Seelen nicht. Auch Fantine wurde bei nächtlicher Dunkelheit auf die ersten besten Knochen gelegt, und ihre Asche mit anderer Asche vermischt.
Zweiter Theil. Cosette
Erstes Buch. Waterloo
I. Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt
An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 wanderte Jemand, – Derjenige, der diese Geschichte erzählt, – von Nivelles in der Richtung nach La Hulpe. Eine Viertelstunde hinter einem Wirtshause, auf dessen Schild! »Zu den vier Winden. Echabeau, Privatcafé« zu lesen war, gelangte er auf der welligen Chaussee in ein kleines Thal, wo rechts vom Wege eine Herberge lag. Hier zog sich seitwärts neben einem Ententeich ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er daselbst an einer spitzgiebeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert eine Strecke entlang gegangen, sah er ein großes gewölbtes Thor mit geradem Kämpfer, in dem majestätischen Stil Ludwigs XIV., mit einem flachen Rundbild an jeder Seite. Auf der Wiese, die sich vor dem Thor ausdehnte, lagen drei Eggen, durch deren Oeffnungen alle möglichen Maiblumen hindurchgewachsen waren.
Der Wanderer bückte sich und betrachtete aufmerksam das untere Ende des Gurtpfeilers, wo ihm eine merkwürdige rundliche Aushöhlung auffiel. In demselben Augenblick öffneten sich auch die beiden Thorflügel und eine Bäuerin trat heraus.
»Das ist von einer französischen Kanonenkugel!« bemerkte sie zu dem Fremden. »Und das Loch weiter oben, in der Thür, hat eine Kartätschenkugel gemacht. Die ist nicht durchgegangen.«
Wie heißt dieser Ort?« fragte der Wanderer.
»Hougomont.«
Der Fremde richtete sich wieder auf, warf einen Blick über die Hecken und bemerkte am Horizont, durch die Bäume hindurch, eine Art Hügel und auf diesem Hügel etwas, das aus der Ferne einem Löwen ähnlich sah.
Er stand auf dem Schlachtfeld von Waterloo.
II. Hougomont
Hougomont war das erste Hindernis, auf das Napoleon, Europas großer Baumfäller, bei Waterloo stieß; der erste Knast, den seine Axt nicht durchhauen konnte.
Ehedem war es ein Schloß, jetzt nur noch ein Gehöft. Hougomont ist für den Alterthumskenner eine von Hugo, dem Herrn von Somerel, erbaute Burg.
Der Wanderer stieß die Thür auf und trat in den Hof. Hier sah er eine Mistgrube, Spaten und Karste, einige Karren, einen alten Brunnen mit Traufrinne und eisernem Drehkreuz, ein hüpfendes Füllen, einen Truthahn, eine Kapelle mit einem Türmchen, einen Birnbaum. Dies also war der Hof, dessen Eroberung für Napoleon ein unerreichbares Ideal blieb! Dieser Fleck Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben.
Hier bewiesen die Engländer eine bewundernswert Tapferkeit. Hier erwehrten sich die vier Kompagnien der Cooke'schen Garden sieben Stunden lang einer ganzen Armee.
Auf der Karte stellt sich Hougomont als ein unregelmäßiges Rechteck dar, dessen eine Ecke abgestumpft ist. Hier befindet sich das Südthor. Denn Hougomont hat zwei Thore, ein südliches, das Schloßthor, und ein nördliches, das in das Gehöft führt. Gegen diesen Ort also sandte Napoleon seinen Bruder Jérôme; hier trafen die Divisionen Guilleminot, Foy und Bachelu zusammen, fast das ganze Armeekorps Reille wurde hier verwendet und zurückgewiesen; Kellermanns Kanonen richteten nichts aus gegen dies tapfere Stück Mauer und es bedurfte der größten Anstrengungen seitens der Brigade Bauduin, um von Norden in Hougomont einzudringen, während die Brigade Soye im Süden sich nur eines geringen Theils bemächtigen konnte.
Ein Bruchstück des Nordthors hängt noch an der Mauer. Es besteht aus vier Brettern samt den zwei Querhölzern, worauf die Bretter aufgenagelt sind; an diesem Bruchstück sieht man noch die Spuren, die von dem Kampfe beredtes Zeugnis; ablegen. Auch der Thürpfosten wies noch lange Zeit nachher Abdrücke von blutigen Händen auf. An dieser Stelle wurde Bauduin getödtet.
Im Jahre 1815 standen auf diesem Hof eine Menge Gebäude, die in der Schlacht als Redouten, Fleschen, Schanzen benutzt wurden. Die Franzosen konnten sie nicht nehmen, nicht behaupten. Von allen Seiten, den Böden, den Kellern, den Fenstern herab beschossen, brachten die Angreifer Faschinen herbei, um die Gebäude in Brand zu stecken, aber ohne Erfolg.
In dem zerfallenen Schloßflügel sieht man durch vergitterte Fenster demolirte Wachtstuben und eine zweistöckige, vom Erdgeschoß bis zum Dach hinauf geborstene Wendeltreppe. Auf den oberen Stufen dieser Treppe belagert, zerstörten die englischen Gardisten die unteren, deren Trümmer, große blaue Fliesen, noch heute zwischen den Brennnesseln liegen.
Auch in der Kapelle haben Franzosen und Engländer sich gemordet. Drinnen sieht es seltsam genug aus. Die Messe ist hier seit dem Gemetzel nicht mehr gelesen worden. Aber der Altar ist stehen geblieben. Vier weiß getünchte Wände, dem Altar gegenüber eine Thür, zwei gewölbte Fensterchen, oben an der Thür ein Krucifix, darüber ein viereckiges mit Heu verstopftes Loch, in einer Ecke ein alter Fensterrahmen: So sieht diese Kapelle jetzt aus. In der Nähe des Altars ist eine Holzstatue der heil. Anna aus dem 15. Jahrhundert angenagelt; der Kopf des Jesuskindes wurde von einer Kanonenkugel abgeschlagen.
Auch durch Feuer ist das Gotteshaus beschädigt worden. Die Franzosen, die sich desselben schon bemächtigt hatten, wurden hinausgetrieben, kehrten aber wieder zurück und warfen Feuer hinein. Das ganze Gebäude brannte wie ein Hochofen, die Thür, die Dielen brannten, nur das hölzerne Christusbild nicht. Zwar die Füße hat das Feuer arg mitgenommen, aber sonst ist es unbeschädigt geblieben. Ein Wunder! sagen die Leute der Umgegend. Ja, aber das Jesuskind, dem der Kopf abgerissen wurde, ist doch nicht so glücklich gewesen, wie das Christusbild!
Die Wände der Kapelle sind mit Inschriften bedeckt. Nahe den Füßen des Christusbildes liest man den Namen Henquinez. Und viele andere: Conde de Rio Maior, Marques y Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit wüthenden Ausrufungszeichen.
An der Thür der Kapelle wurde ein Leichnam aufgelesen, der eine Axt in der Hand hielt. Es war die Leiche des Unterlieutenants Legros.
Tritt man hinaus, so sieht man links einen Brunnen. Auf dem Hofe ist noch ein anderer. Man fragt: »Wozu zwei Brunnen? Warum ist der hier nicht mit Rolle und Eimer versehen?« »Ja, der ist voller Skelette!«
Der Letzte, der Wasser aus diesem Brunnen geschöpft hat, hieß Wilhelm van Kylsom. Er war ein Bauer, der in Hougomont wohnte und die Gärtnerei betrieb. Seine Familie flüchtete sich am 18. Juni 1815 in den Wald, der damals mehrere Tage und Nächte die obdachlose Bevölkerung der Umgegend aufnahm und noch viele Jahre nachher Spulen dieses Aufenthalts, namentlich verkohlte alte Baumstümpfe, aufwies.
Wilhelm van Kylsom dagegen blieb in Hougomont, um »das Schloß zu hüten« und – verkroch sich in einen Keller. Hier entdeckten ihn die Engländer, holten ihn aus seinem Schlupfwinkel heraus und bedeuteten ihm, indem sie mit den flachen Klingen auf ihn losschlugen, daß sie Wasser haben wollten. Dies brachte er ihnen dann aus dem erwähnten Brunnen.
Nach der Schlacht hatte man Eile, die Leichen wegzuschaffen. Denn der Tod verfolgt auch nachher noch den Sieger, indem er die Pest gegen ihn ausschickt. Der Typhus ist eine Ergänzung des Triumphes. Da kam also den Siegern der Brunnen, der sehr tief ist, recht gelegen. Er nahm dreihundert Leichen auf. Waren auch Alle, die hineingeworfen wurden, wirklich schon Leichen? Manche behaupten »Nein!« Die Nacht darauf liehen sich im Brunnen schwache Stimmen, die um Hilfe riefen, vernehmen.
Ein Haus auf dem Gehöft ist noch bewohnt, An der Thür dieses Hauses ist eine kunstvolle Klinke, Diese ergriff der hannoversche Lieutenant Wilda, um sich in das Haus zu flüchten, als plötzlich ein Sappeur ihm die Hand abhieb.
Die Familie, die in diesem Hause wohnt, stammt von dem erwähnten Gärtner Wilhelm van Kylsom, der nun schon längst gestorben ist. Eine Frau in grauen Haaren erzählte mir, als ich mich 1861 dort aufhielt! »Ich war damals drei Jahre alt, Meine Schwester, die größer war als ich, fürchtete sich und weinte. Man trug uns weg, in den Wald, Mich nahm meine Mutter auf den Arm, Alles legte sich platt auf die Erde und horchte. Ich machte den Kanonendonner nach: Bumm! Bumm!«
Durch die eine Thür des Hofes gelangt man in den Garten, einen wahren Schreckensort,
Er besteht aus drei Theilen. In dem einen, dem Blumengarten, der tiefer gelegen ist, fingen sich sechs Voltigeure des ersten Regiments der Chevaux-legers wie Bären in einer Grube, und nahmen den Kampf gegen zwei Kompagnieen Hannoveraner auf, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war. Die Angreifer, zweihundert an der Zahl, legten sich hinter das Steingeländer, das den Blumengarten umgiebt, und schossen von oben auf die Sechs hinab, die, nur von den Sträuchern geschützt, sich eine Viertelstunde lang wehrten, ehe sie unterlagen.
Von dem Blumen- zu dem Obstgarten hinauf führen einige Stufen. Hier fielen binnen einer Stunde, auf einem Raum, der nur wenige Quadratklaster mißt, fünfzehnhundert Mann, Noch steht die Mauer so vertheidigungsfähig wie damals, mit den achtunddreißig Schießscharten, die von den Engländern in verschiedenen Höhen angebracht wurden. Vor der Mauer, nach Süden zu, ist eine hohe Hecke, die sie dem Blick entzieht, und als die Franzosen den Ort stürmten, glaubten sie, sie hätten es nur mit diesem Hindernis zu thun. Plötzlich aber sahen sie die Mauer vor sich, und aus den Schießscharten prasselte ein fürchterliches Kanonen- und Gewehrfeuer auf sie hernieder, so daß der Angriff der Brigade Soye hier scheiterte. So fing Waterloo an.
Dennoch wurde der Baumgarten genommen. Da sie keine Leitern hatten, krallten sich die Franzosen mit den Nägeln ein. Dann wurde Mann gegen Mann unter den Bäumen gekämpft. Alles Gras bethaute sich mit Blut. Ein Nassausches Bataillon, siebenhundert Mann stark, wurde da über den Haufen geschossen. Nach außen zu, wo Kellermann das Gemäuer mit zwei Batterien bearbeitete, trägt es die Spuren von Kartätschenkugeln.
Dieser Garten ist im Monat Mai so idyllisch und friedlich wie jeder andere. Hier blühen Maßliebchen, werden Pferde, trocknen Frauen ihre Wäsche, wühlen Maulwürfe ihre Gänge unter der Erde. Aber im Grase liegt ein entwurzelter, noch lebensfähiger Baumstamm. An diesen hat sich damals der Major Blackman angelehnt, um zu sterben. Unter einem andern großen Baum fiel der deutsche General Duplat, ein Sprößling einer französischen Hugenottenfamilie, die durch das Edikt von Nantes heimatlos wurde. Neben diesem Baum steht ein anderer, ein Apfelbaum, dem nach der Schlacht ein Verband aus Stroh und Lehm angelegt wurde, und so wie er erhielten alle andern Bäume mehr oder minder schwere Wunden durch Gewehr- und Kanonenkugeln.
Also Bauduin getötet, Foy verwundet, Brand, Mord, Ströme von französischem, englischem, deutschem Blut, ein Brunnen voll Leichen, das Regiment Nassau und das Regiment Braunschweig vernichtet, Duplat, Blackman getötet, die englische Garde decimirt, zwanzig Bataillone von den vierzig des Reille'schen Armeekorps niedergemacht, dreitausend Menschen allein in der alten Baracke Hougomont niedergesäbelt, -geschossen; -gestochen und verbrannt, und wozu das alles? Damit jetzt ein Bauer zu einem Fremden sagen kann: »Mein Herr, wenn Sie mir drei Franken geben, zeige ich Ihnen das Schlachtfeld von Waterloo!«
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