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ERSTER HAUPTTEIL (I): Forschungsüberblick und Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf (Jünger)
1 Forschungsüberblick: Die zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung ab 1921
Dieses Kapitel beschreibt und bewertet die Deutungen der zwölf Jünger Jesu in der Mt-Forschung der letzten etwa hundert Jahre. Den Startpunkt dieses Forschungsüberblicks bildet Rudolf Bultmanns bahnbrechendes Werk Die Geschichte der synoptischen Tradition aus dem Jahr 1921, das nicht nur hinsichtlich seiner form- und redaktionskritischen Methodik forschungsgeschichtlich prägend war, sondern auch hinsichtlich seiner Deutung der zwölf Jünger Jesu im MtEv.1 Den Endpunkt bildet Joel Willitts kurzer Artikel „The Twelve Disciples in Matthew“ aus dem Jahr 2011.2 Alle hier besprochenen Forschungsbeiträge dieses Zeitraumes werden gemäß ihrer jeweiligen Auslegungsmethode drei verschiedenen Gruppen zugeordnet: zuerst der Formkritik, danach der Redaktionskritik und zuletzt der Narrativen Kritik. Bei der Besprechung dieser drei Gruppen wird jeweils mit der Darstellung sämtlicher Forschungspositionen zum Thema Zwölferkreis begonnen, wobei die Forschungspositionen nach den Kriterien „zeitliche Phase“ und / oder „inhaltliche Position“ angeordnet sind. Auf die Darstellung folgt jeweils die kritische Bewertung der Forschungspositionen. Diese Anordnungsweise ermöglicht mindestens zweierlei: erstens auf evtl. vorhandene Zusammenhänge zwischen den Auslegungsmethoden und den inhaltlichen Ergebnissen zu schließen. Und zweitens Zusammenhänge zwischen dem Thema Zwölferkreis und anderen Themen zu erkennen. Aus der hier vorgenommenen Bewertung der bisherigen Forschungsgeschichte werden im hierauffolgenden Kapitel (I,2) Schlussfolgerungen gezogen, indem das Verhältnis zwischen „Jünger“ und „Zwölf (Jünger)“ bestimmt wird und darauf aufbauend Textstellen im MtEv identifiziert werden, die von den Zwölf (Jüngern) handeln.
1.1 Formkritik
Karl Ludwig Schmidt, Martin Dibelius und Rudolf Bultmann zählen zu den Forschern, die mit ihren Arbeiten die Grundlage für die klassische Formkritik der Evangelien gelegt haben.1 Doch einzig Bultmann hat sich in Die Geschichte der synoptischen Tradition u.a. relativ ausführlich zum Jünger- bzw. Zwölferkreis in den Evangelien und speziell im MtEv geäußert.2 Seine Deutung wurde in der späteren Mt-Forschung nicht selten rezipiert, wenngleich meist nur auszugsweise.3
1.1.1 Rudolf Bultmann
Rudolf Bultmann verfolgt mit seiner formgeschichtlichen Untersuchung folgendes Ziel: „[…] ein Bild von der Geschichte der Einzelstücke der Tradition zu geben; von der Entstehung dieser Tradition wie von ihrer Abwandlung bis zu der Fixierung, in der sie uns in jedem der Synoptiker vorliegt […].“1 Folglich durchlief auch der bei den Synoptikern versammelte Jüngerstoff zunächst vor-markinische Tradierungsstufen, sodann die markinische Tradierungsstufe, bevor er schließlich von Mt oder Lk redigiert und weitertradiert wurde. Um das Ziel der Formkritik zu erreichen, müsse man neben dem „Stilgesetz“ auch die „Gesetze der literarischen Weiterüberlieferung“ berücksichtigen.2 Eines dieser zentralen Überlieferungsgesetze besagt, dass die ursprünglich im Großen und Ganzen stabilen Erzählungen im Überlieferungsprozess von „legendarischen Schöpfungen der Phantasie“ beeinflusst wurden, so dass kurze und einfache Erzählstücke zunehmend um Details erweitert wurden und verschiedenartig wuchsen.3 Dieses Überlieferungsgesetz wendet Bultmann in seiner Analyse des synoptischen Stoffs allgemein auf Personen und speziell auf die Jünger an.4 Er stellt fest, dass sich eine grundsätzliche Tendenz abzeichne: anfangs noch unbestimmte Personen wurden zunehmend zu bestimmten Personen. Das zeige sich erstens darin, dass zunächst unbestimmte Personen (-gruppen) zu bestimmten Gruppen und „Typen“ gezählt wurden, in etwa den Schriftgelehrten, Pharisäern oder den Jüngern. Hierzu gehört, dass vormals einheitliche Gruppen intern differenziert wurden, was z.B. in Mt 28,17 deutlich werde, wonach nur eine Teilmenge der Jünger am Auferstandenen zweifelte. Und zweitens zeige sich die zunehmende Bestimmung darin, dass bis dato unbestimmte Einzelpersonen mit zusätzlichen Details versehen wurden, in etwa Namen erhalten haben, mit bestimmten Eigenschaften charakterisiert oder ihnen bestimmte Handlungen zugeschrieben wurden.5
Daraus folgt: in der vor-markinischen Phase seien mit den „Jüngern“ nicht die Zwölf gemeint gewesen, sondern eine unbestimmte und nicht fest umrissene Anhängerschar um Jesus. Reste dieser alten Tradition fänden sich z.B. in Mk 3,34: solche, die Gottes Willen tun, gehören zu Jesu Familie und sind seine „Anhänger“ bzw. „Jünger“. Die Jünger seien auf dieser Entwicklungsstufe meistens – wie eine Einzelperson – als Einheit dargestellt worden, erkennbar an der Kollektivbezeichnung „Jünger“. Allerdings seien bereits in dieser frühen Phase hin und wieder Einzelpersonen aus der allgemeinen Jüngergruppe namentlich hervorgehoben worden.6 Dennoch gilt s.E. grundsätzlich die Regel, dass Differenzierungen und Individualisierungen ein eindeutiges Zeichen für den sekundären Charakter seien. In der markinischen Phase schematisiere der Redaktor des MkEv die Jünger: sie seien „als selbstverständliche Begleitung Jesu überall vorausgesetzt“, mit Ausnahme ihrer Berufung, Aussendung und Rückkehr.7 Dass Jesus an manchen Stellen alleine auftritt, ohne seine Jünger, deutet Bultmann folgendermaßen: „[…] daß die Jünger in manche Einzelgeschichten der Tradition noch nicht eingedrungen sind […].“8 Darüber hinaus zeige sich die redaktionelle Arbeit des Mk darin, dass er die Jünger mit den Zwölf identifiziere: „Und zwar denkt Mk, wo er von den μαθηταί als Gruppe redet, offenbar immer an die Zwölf (auch wohl an den Stellen vor der Berufung naiv und ohne Reflexion 2,15f18.23; 3,7.9).“9 Die Nennung der δώδεκα sei – abgesehen von 3,13-19 und 6,7-13 – „sekundäre Redaktionsarbeit des Mk und vielleicht gar z.T. späterer Abschreiber.“10 Diese Entwicklung von einer „unbestimmten Anhängerschar“ zur „bestimmte[n] Gruppe der Zwölf“ zeige sich z.B. an 4,10, wo der Evangelist Mk das ursprüngliche „es fragten ihn, die um ihn waren“ um „samt den Zwölf“ ergänzt habe.11 Aber auch in dieser mk Tradierungsphase müsse man damit rechnen, dass Mk (und alle späteren Abschreiber) hin und wieder einzelne Personen aus dem Zwölferkreis hervorgehoben hätten.12 In der nächsten matthäischen Überlieferungsphase übernehme Mt von Mk sowohl die Gleichsetzung von Jüngern und Zwölferkreis, wobei die Gleichsetzung für Mt inzwischen sogar selbstverständlich sei, als auch die Rolle der Jünger als ständige Begleiter Jesu, wobei Mt ihre Rolle als Begleiter noch weiter ausbaue:
„Die Jünger spielen dieselbe Rolle wie bei Mk. Daß Mt oft die μαθηταί ausdrücklich nennt, wo sie im Mk-Text nur vorausgesetzt sind, will natürlich nichts sagen. Er fügt sie aber auch manchmal da ein, wo Mk nicht an sie denkt: 9,19; 12,49; 23,1. […]. Die Zwölfzahl ist bei ihm selbstverständlich, und es ist bezeichnend, daß er auch in der Verklärungsszene und im Gespräch nachher einfach οἱ μαθηταί sagt (17,6.10.13); er scheint vergessen zu haben, daß nach 17,3 nur die drei Vertrauten anwesend sind, wie er denn auch V.14 nicht wie Mk 9,14 sagt, daß sie πρὸς τοὺς μαθητάς kamen, sondern πρὸς τὸν ὄχλον, und wie er 24,3 die eschatologische Rede nicht an die vier Vertrauten, sondern an die μαθηταί insgesamt gerichtet sein lässt.“13
Ein anderes Beispiel für Bultmanns Verständnis ist Mt 12,49: hier nenne Mt die um Jesus sitzenden Personen „Jünger“, aber er verstehe unter ihnen „zweifellos“ die Zwölf (par Mk 3,34).14 Sehr ähnlich sieht Bultmann das bei den Apophthegmata: „Auch für Mt versteht sich diese Identität [der μαθηταί mit den Zwölf; V.L.] schon von selbst […].“15 Die von Mk eingebrachte Gleichsetzung der „Jünger“ mit den „Zwölf“ sei auf der nächsten Überlieferungsstufe bereits selbstverständlich geworden, so dass spätere Abschreiber wie Mt wieder allgemein von „seinen Jüngern“ reden, aber damit – stillschweigend, weil voraussetzend – die bestimmten „Zwölf“ meinen!16 So wie in Mt 17,1-14 par Mk 9,2-14 spreche Mt auch an diesen Stellen allgemein von „Jüngern“, während in der Parallele bei Mk einzelne Jünger genannt sind. Bultmann deutet diesen mt Vorzug von „Jüngern“ gegenüber Einzeljüngern als „Interesse für die Zwölf“.17 Daraufhin leitet Bultmann zum nächsten Aspekt der „Überlieferungstendenz“ über: von der selbstverständlichen Gleichsetzung der Jünger mit den Zwölf ausgehend werden auf der nächsten Überlieferungsstufe wieder Einzelpersonen – wie z.B. Petrus – aus dem Zwölferkreis hervorgehoben.18 Deswegen entspreche es laut Bultmann eher der allgemeinen Entwicklung, dass Mt manchmal einzelne Jünger nennt, anstatt wie Mk allgemein von den „Jüngern“ zu reden (z.B. Mk 7,17 par Mt 15,15 oder 18,21).
1.1.2 Kritische Anfragen an Bultmanns formkritische Deutung der zwölf Jünger
An Bultmanns Deutung der Jünger im Allgemeinen sowie der zwölf Jünger im Speziellen lassen sich einige kritische Anfragen richten.1 Erstens: Ist Bultmanns Entwicklungs-Modell in sich konsistent und damit auch praktisch anwendbar? Denn für Bultmann ist die Hervorhebung von Einzelpersonen einerseits ein Kennzeichen für den sekundären Charakter und andererseits theoretisch in allen Überlieferungsphasen auffindbar.2 Nach welchen Kriterien sollte dann über das Alter einer solchen Angabe entschieden werden? Das führt zu den nächsten beiden kritischen Beobachtungen. Zweitens: Bultmanns These, dass die meisten der Verweise auf den Zwölferkreis im MkEv auf den Evangelisten Mk zurückgehen, lässt sich aus redaktionskritischer Sicht in Frage stellen, so z.B. durch Ernest Best geschehen.3 Drittens: Einerseits sieht Bultmann im Wechsel von den allgemeinen Jüngern (im MkEv) hin zum einzelnen und konkreten Jünger (im MtEv) die normale und erwartbare Entwicklung. Allerdings findet sich im MtEv auch der umgekehrte Wechsel, wenn Mt nicht mehr einzelne Personen reden lässt, wie es noch bei Mk der Fall war, sondern allgemein die „Jünger“. Diesen ungewöhnlichen Wechsel deutet Bultmann aber als Interesse an den Zwölf. Sollte das Überlieferungsgesetz tatsächlich stimmen: ließe sich dieser Wechsel nicht auch als ein Argument gegen eine einfache Abhängigkeit des MtEv vom MkEv deuten? Und könnte man außerdem diese Reihenfolge als Infragestellung des Überlieferungsgesetzes deuten, dass es zumindest in dieser starren Form nicht zutrifft? Das leitet über zum nächsten Punkt. Viertens: Lässt sich nachweisen, dass in der Überlieferung des synoptischen Stoffs die Differenzierung, Detailliertheit und Individualisierung tatsächlich zunimmt? In der Jesus-Forschung werden die „Überlieferungsgesetze“ als Authentizitäts-Kriterium infrage gestellt.4 Ebenfalls kritisch ist die neuere Form- und Gattungsforschung: sie bemängelt den Grundsatz der klassischen Formgeschichte, dass das Einfachere und Kürzere das Ursprünglichere sei. Vielmehr müsse man mit verschiedenen Varianten von Formen rechnen, die insgesamt unbeständig seien.5 Vielfach wird hierbei verwiesen auf E.P. Sanders’ The Tendencies of the Synoptic Gospels, in der Sanders die Überlieferungsgesetze der formgeschichtlichen Schule (insbesondere bei Bultmann und Dibelius) einer gründlichen Überprüfung unterzogen und kritisiert hat: die von Dibelius und Bultmann behauptete Tendenz, dass die Detailliertheit mit der Zeit stetig wachse, sei falsch und von ihnen nie ausreichend begründet worden.6 Stattdessen gebe es sowohl Erweiterungen als auch Kürzungen im Stoff.7 Fünftens: Bultmann begründet seine These, dass Mt die „Jünger“ und die Zwölf gleichsetze, mit der Behauptung, dass Mt diese Gleichsetzung von Mk übernommen habe. Diese Gleichsetzung sei für Mt „selbstverständlich“. Bultmann impliziert erstens, dass man die Gleichsetzung nicht an der redaktionellen Tätigkeit des Evangelisten Mt nachweisen müsse. Hierbei stellt sich die Frage: auf welche alternative Weise könnte man belegen oder widerlegen, was der Evangelist gedacht oder gemeint hat, wenn er „Jünger“ schrieb, wenn nicht am Text selbst? Und wäre es nicht konsequent zu schlussfolgern, dass die Rede von den „Jüngern“ in die vor-mk-Phase einzuordnen sei, weil „Jünger“ so allgemein und unbestimmt klingt, als wäre eine nicht näher definierte Anhängerschaft gemeint? Und zweitens impliziert Bultmann, dass der Evangelist Mt den Jünger-Stoff des MkEv „richtig“ gelesen habe. Doch hat Mt diese (nur) in der redaktionellen Tendenz erkennbare Gleichsetzung von Jüngern und Zwölf wirklich erkannt, indem er – gewissermaßen form- und redaktionskritisch denkend – die älteren traditionellen Elemente von den jüngeren mk Elementen trennen konnte?8 Außerdem müsste Bultmann dann erklären, warum der Evangelist Lk die Zwölf meistens „Apostel“ (und manchmal „Jünger“) und die anderen Jesusanhänger meistens „Jünger“ nennt. Vorausgesetzt, dass Lk (u.a.) das MkEv als Quelle hatte: Könnte es nicht auch sein, dass Lk im MkEv gar keine absolute Gleichsetzung von „Jüngern“ und Zwölf vorfand? Sechstens: Belegen die Stellen, die Bultmann aus dem MtEv anführt, tatsächlich ein besonderes Interesse des Evangelisten Mt am konkreten Jüngerkreis, den er zudem mit dem Zwölferkreis gleichsetze? Z.B. lässt sich aus Mt 17,4 lediglich ableiten, dass einzelne Mitglieder des Zwölferkreises auch „Jünger“ genannt werden. Und würde man in Mt 17 die Erzählungsabfolge von V.1-13 und V.14-20 beachten, dann wäre es eine angemessene Schlussfolgerung, dass mit den „Jüngern“ in V.16.19 diejenigen gemeint sind, die Jesu Verklärung gerade nicht miterlebt hatten; d.h. es gibt in 17,1ff zwei verschiedene Personengruppen, die beide „Jünger“ genannt werden.9
1.2 Redaktionskritik
Nach dem zweiten Weltkrieg kam mit den Veröffentlichungen von Günther Bornkamm (zum MtEv), Willi Marxsen (zum MkEv) und Hans Conzelmann (zum LkEv) die redaktionskritische Methodik auf und dominierte die Evangelien-Forschung mindestens bis in die 1980er Jahre.1 Der Redaktor galt nicht mehr in erster Linie als „Sammler“ von überlieferten Einzelformen, die er mehr oder weniger sinnvoll ordnete,2 sondern als ein theologisch bewusster und klug gestaltender Interpret seiner Quellen.3 Anhand der redaktionellen Modifikationen seiner Quellen versuchte man sowohl die Theologie des Evangelisten als auch den „Sitz im Leben“ eines Textes zu rekonstruieren.4 Dabei betrachtete man den Text gewissermaßen als ein „Fenster“ für die dahinterliegende reale Gemeindesituation.5 Das konkretisierte sich u.a. darin, verschiedenen Personen des Textes reale Personen innerhalb oder außerhalb der mt Gemeinde zuzuweisen. Einen besonders klaren Blick auf die mt Gemeindesituation versprach man sich von der Jüngergruppe im MtEv. Im Zusammenhang mit den „Jüngern“ und ihrer Bedeutung für die mt Gemeinde gingen etliche redaktionskritisch arbeitende Forscher auch speziell auf die zwölf Jünger ein. Dabei waren v.a. zwei Verhältnisbestimmungen ausschlaggebend: erstens das Verhältnis zwischen den Jüngern und den zwölf Jüngern, und zweitens das Verhältnis zwischen den (zwölf) Jüngern und „Mitgliedern“ der mt Gemeinde.
1.2.1 „Klassische“ redaktionskritische Studien
„Jünger“ als „ekklesiologischer terminus“. Stanton spricht stellvertretend für die redaktionskritische Mt-Forschung zwischen 1945 und 1980, wenn er resümiert: „Matthew᾽s distinctive portrait of the disciples (including Peter) is very much part of his ecclesiological interest.“1 Spätestens seit Günther Bornkamm galt in der redaktionskritischen Mt-Forschung der Begriff „Jünger“ (ὁ μαθητής oder οἱ μαθηταί) als ein zentraler „ekklesiologischer terminus“, weil mit ihm nachösterliche Gemeindethemen wie z.B. „Nachfolge“ verbunden seien.2 Daher war es konsequent, wenn Bornkamm und einige andere Mt-Forscher der redaktionskritischen Pionierphase auf der einen Seite die Jünger im MtEv und auf der anderen Seite die adressierte mt Gemeinde als austauschbare Größen verstanden: mit „Jünger“ sei die mt „Kirche“ gemeint. Bornkamms ekklesiologische Deutung der Jünger teilten nicht nur seine eigenen „Schüler“ Gerhard Barth3 und Reinhart Hummel,4 sondern viele andere Mt-Forscher (dazu gleich mehr), z.B. Wolfgang Trilling, der in Das Wahre Israel: Studien zur Theologie des Matthäusevangeliums (1959) zum Ergebnis gelangte, dass mit „Jünger“ im MtEv der „ideale Jünger“ gemeint sei.5
Die „Zwölf (Jünger)“ als „typische“ Jünger der mt Gemeinde. Weder Bornkamm noch Barth, Hummel oder Trilling nahmen eine Unterscheidung zwischen den zwölf Jüngern bzw. Aposteln einerseits und den Jüngern andererseits vor:6 Laut Bornkamm sind die zwölf Jünger, die in Mt 9,35-11,1 ausgesandt werden, nicht mehr als „Jünger par excellence, Prototypen und Vorbilder auch der späteren Jüngerschaft“, sie sind v.a. Vorbilder für die Mission der Kirche.7 Weil für Barth die Gleichsetzung der Jünger mit der Kirche im Vordergrund steht, können s.E. weder die zwölf Jünger noch die Apostel einen besonderen Status oder eine besondere Funktion haben, die sie von den allgemeinen Jüngern abhebt.8 Und Trilling schlussfolgert, dass mit „Jünger“ kein Apostel oder eine andere historische Person gemeint sein könnte. Vielmehr gelte: „An vielen weiteren Stellen ist zu erkennen, daß Matthäus den engeren Kreis (bei Markus meist der ,Zwölf‘) als Typus und Paradigma für den wahren christlichen Jünger auffaßt.“9
Die „Zwölf (Jünger)“ als Inhaber und Vorbilder eines besonderen „Amtes“? In den 1970er Jahren rückten mehrere redaktionskritische Arbeiten bestimmte Begriffe des MtEv in den Fokus und diskutierten, ob diese Begriffe termini technici seien und als solche auf bestimmte Funktionen oder Ämter in der mt Gemeinde hinwiesen:10 Weisen z.B. Mt 5,12; 7,22f; 10,41; 23,34 auf Propheten in der mt Gemeinde hin, zu denen evtl. auch die Wundertäter und Exorzisten zählten? Das bejahen z.B. Hummel,11 Sand,12 Schweizer13 oder Künzel.14 Doch Trilling15 und Frankemölle16 verneinen das. Gab es z.B. aufgrund von Mt 8,19; 11,25; 13,52; 18,18; 23,8-12.34 Schriftgelehrte bzw. Lehrer, zu denen evtl. auch „Weise“ gehörten? Dem stimmen z.B. Hummel,17 Trilling,18 Sand,19 Schweizer20 oder Künzel21 zu. Frankemölle22 und van Tilborg23 hingegen lehnen das ab. Oder existierte – z.B. aufgrund von Mt 10,41 – eine bestimmte Gruppe von „Gerechten“? Das negiert z.B. Trilling,24 Schweizer jedoch ist sich diesbezüglich unsicher.25 Oder leiteten vielleicht Presbyter bzw. Älteste und außerdem Episkopen die Gemeinde? Das können sich z.B. Sand26 und Frankemölle27 nicht vorstellen. Ergänzend zu diesen Begriffen wurde v.a. aufgrund von Mt 16,17ff ein mögliches Petrus-Amt debattiert:28 Viele Forscher erkannten die herausragende Rolle des historischen Petrus an, der erstens die Schlüsselgewalt erhalten hatte (Stichwort „Disziplinarvollmacht“) und zweitens ein autoritativer Überlieferer der Jesuslehre war (Stichwort „Lehrvollmacht“). Und manche dieser Forscher erkannten gerade in seiner zweitgenannten Funktion seine bleibende Bedeutung für die mt Gemeinde. Doch es wurde stark bezweifelt, dass sich Petri heilsgeschichtliches Primat in einem Gemeindeamt fortgesetzt haben könnte, welches mit einer entsprechenden Autorität ausgestattet gewesen wäre. Die meisten sahen in Petrus stattdessen einen (proto-) typischen Jünger, einen primus inter pares, mit dem sich jedes Gemeindemitglied identifizieren sollte. Diese Position vertraten z.B. Kilpatrick,29 Hummel,30 Schweizer,31 Trilling,32 Bornkamm,33 Künzel,34 Kingsbury35 und bemerkenswerterweise auch Strecker36 und Walker.37 Frankemölle hingegen sah in Petrus tatsächlich die Gemeindeleiter angesprochen.38 Wenn nun im Zusammenhang der Frage nach Ämtern in der mt Gemeinde die zwölf Jünger bzw. Apostel in den Blick geraten, dann fällt die Bewertung relativ eindeutig aus: es gebe in der mt Gemeinde in Fortsetzung der zwölf Jünger kein entsprechendes Amt. Auf die Frage, ob sie im MtEv als (historisch vergangene) Autoritäten dargestellt werden, zumindest an wenigen Stellen, gibt es unterschiedliche Antworten: zu „Nein“ tendieren z.B. Hummel,39 Sand40 und Walker.41 Mit einem eingeschränkten „Ja“ hätte z.B. Trilling geantwortet: Laut Mt 10,2 seien die Zwölf „Apostel“ im dogmatischen Sinne, ähnlich wie im LkEv, nur dass der Evangelist Lk diese dogmatische Angleichung der Zwölf als „zwölf Apostel“ bewusst vornehme, während der Evangelist Mt die Angleichung voraussetze bzw. sie selbstverständlich finde, denn er übernehme den Ausdruck „zwölf Apostel“ aus einer ihm überlieferten Namenliste. Für die Selbstverständlichkeit spreche s.E. der Wechsel von 10,1 zu 10,2. Mt blicke aus einer historischen Distanz auf die Zwölf als Apostel zurück. Denn das aktuelle Interesse des Mt richte sich nicht auf das „Apostel-Sein“, sondern auf das Jünger-Sein der Zwölf.42 Ähnlich würde Schweizer darauf antworten: Einerseits zeige die Augen- und Ohrenzeugenschaft sowie die Thronverheißung 19,28 (jedoch nicht Mt 10) die hervorgehobene Rolle der Zwölf im MtEv. Andererseits seien die Zwölf hauptsächlich Vorbilder für alle Jünger.43
Die „Zwölf (Jünger)“ als „historisierte“ oder „transparent“ gemachte Personen? Im Zusammenhang der (zwölf) Jünger-Thematik verdient eine Debatte besondere Beachtung: auf der einen Seite steht Georg Strecker mit seiner These, dass Mt die Jünger „historisiert“ habe, und auf der anderen Seite steht Ulrich Luz mit seiner These, dass Mt die Jünger „transparent“ gemacht habe.44 Strecker hatte in Der Weg der Gerechtigkeit (1962)45 für drei heilsgeschichtliche Phasen im MtEv plädiert46 und im Hinblick auf die letzten beiden Phasen gefordert, dass man im MtEv zwischen der „heilsgeschichtlichen Vergangenheit und dem Verständnis der Gegenwart grundsätzlich differenzieren“ solle.47 Weil für den Redaktor die Zeit Jesu – und damit auch die Zeit seiner Jünger! – ein „einmaliger, unwiederholbarer, heiliger, idealer Abschnitt im Ablauf der Geschichte […]“ sei, seien die Jünger historisch von der eigenen Kirche distanziert einer heilsgeschichtlich einmaligen Vergangenheit zugeordnet.48 Für das „historisierende“ Vorgehen entdeckt Strecker mehrere Hinweise im MtEv, erstens im μαθητής-Begriff, zweitens in der Idealisierung der Jünger, drittens in ihrer Verkündigung und viertens in ihrer Augenzeugenschaft.49 Für die Frage nach dem Verhältnis zwischen den zwölf Jüngern im Speziellen und den Jüngern im Allgemeinen sind Streckers Überlegungen zum matthäischen μαθητής-Begriff besonders relevant:50 Mt gebrauche die Begriffe μαθηταί und δώδεκα synonym und historisiere dadurch die „Jünger“. Denn Matthäus verbinde in synoptisch einzigartiger Weise οἱ μαθηταί und οἱ δώδεκα (Mt 10,1; 11,1; 26,20). Der Wechsel beider Begriffe deute eine synonyme Gebrauchsweise an,51 und grenze somit die „Jünger“ auf die „Zwölf“ ein. Strecker überprüft seine These anhand folgender Belege, die der These entgegenstehen könnten: 1. Den Schriftgelehrten in 8,19 erkennt Strecker nicht als Jünger an. 2. Dagegen gehöre der „andere Jünger“ in 8,21 vielleicht sogar zum Zwölferkreis. 3. Der Begriff „Jünger“ in 10,24f sei tatsächlich allgemein gefasst und gehe also über die Zwölf hinaus, aber er sei vormatthäischen Ursprungs und falle im Gegensatz zu redaktionellen Veränderungen nicht ins Gewicht. 4. 10,42 sei möglicherweise redaktionell, wobei es dann möglich wäre, „um des Jüngers willen“ entweder auf die voraufgehende Gemeinde oder auf die ursprüngliche Ausrichtung der Rede an die Zwölf zu beziehen. Ein weiteres gewichtiges Argument für Streckers Annahme, dass der μαθητής-Begriff den „Zwölf“ vorbehalten sei, ist das Verb μαθητεύω (13,52; 27,57; 28,19), das Mt nach Streckers Verständnis nie auf die „Zwölf“ beziehe. Das sei bei seiner Vorlage, dem MkEv, noch anders gewesen, dort konnten mit „Jünger“ auch andere Personen als die Zwölf bezeichnet werden, z.B. wenn in Mk 3,13f die „Zwölf“ aus einem größeren Jüngerkreis berufen werden (vgl. 2,15f23; 3,9). Luz hatte in seinem einflussreichen Aufsatz „Die Jünger im Matthäusevangelium“ (1971) Streckers „Historisierungsthese“ kritisiert und ihr die „Transparenzthese“ entgegengestellt.52 Die Transparenzthese geht von nur zwei Phasen der Heilsgeschichte aus, wobei die Phase der Zeit Jesu und die seiner irdischen Jünger in eins fällt mit der Phase der Kirche. Luz meint, dass die Hinweise, die Strecker aus dem MtEv als Stützen für seine These heranzieht, anders gedeutet werden müssten. Luz leugnet, dass aus den identisch gebrauchten Begriffen μαθηταί und δώδεκα ein historisierendes Interesse des Mt abgeleitet werden dürfe.53 Gegen die Idealisierung der Jünger spreche z.B. die Kritik am Kleinglauben der Jünger, welcher aber nicht auf das Verstehen der Lehre Jesu bezogen sei, sondern allein auf das Vertrauen hinsichtlich der Person Jesu (im Gegensatz zu Markus).54 Und Luz betont transparente statt historisierende Aspekte in der Aussendungspassage (Mt 10).55 Er kommt zu dem Schluss, dass das Historisierende im MtEv nur darin liege: die Gemeinde sei auf die Lehre des historischen Jesus bezogen. Die Jünger seien zwar Begleiter des historischen Jesus, aber: „Gerade als Schüler des historischen Jesus werden die Jünger transparent, Typen für das Christsein überhaupt.“ Transparenz der Jünger bedeutet für Luz: „Gleichzeitig werden mit einer Gestalt der Vergangenheit. Die zeitliche Distanz wird übersprungen, aber offensichtlich nicht so, daß der historische Jesus einfach in den Geisterfahrungen der Gemeinde aufgeht.“56 Das gelte für jeden Jünger, auch für Petrus, der als Typus der Jünger verstanden werden müsse. Luz lässt offen, ob die Jünger eher für die Gemeindeleiter oder die Gemeindeglieder transparent sind, da beide Gruppen hinter verschiedenen Texten gesehen werden können. Er schlussfolgert daraus, dass diese Gruppen-Differenzierung im mt Verständnis irrelevant sei, und dass die Gemeindeleiter „in gleicher Weise Jünger, wie alle anderen Gemeindeglieder“57 seien. Die Transparenz-These untermauert Luz danach mit den Wundergeschichten58 sowie anhand drei kürzerer Beobachtungen: zum Substantiv ἀπόστολος, zum Verb μαθητεύω und den Begriffen ἀδελφός und μικρός (dazu s.u. mehr).59 Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit interessiert insbesondere Luz᾽ erstes Argument (gegen Strecker), nämlich das Verhältnis von „Jünger“ und „Zwölf“:60 1. Weil Matthäus das markinische δώδεκα durch μαθηταί ersetze, jedoch niemals ein μαθηταί durch ein δώδεκα μαθηταί, liege Mt nicht viel an der Zwölfzahl der Jünger, sie sei für ihn vielmehr selbstverständlich. 2. Warum sonst komme δώδεκα bei Matthäus nur acht Mal vor, bei Markus hingegen elf Mal? 3. Die Tendenz, die Jünger mit dem Zwölferkreis gleichzusetzen, habe Matthäus bereits von Markus übernommen. 4. Wäre der Zwölferkreis von besonderem Interesse, dann hätte Matthäus ihn nicht erst in Mt 10,1 ganz selbstverständlich erwähnt, sondern wie Markus in Mk 3,13f von ihrer Konstituierung berichtet. 5. Wenn Matthäus beide Größen konsequent gleichsetzen wollte, dann hätte er in Mt 10,2ff die zwölf namentlich aufgelisteten Personen „Jünger“ genannt, und nicht „Apostel“.61 Luz kommt infolgedessen zum Ergebnis, dass Streckers These, dass Matthäus die Jünger historisiere, indem er sie in bewusster redaktioneller Arbeit mit den Zwölf gleichsetze bzw. identisch mache, nicht stimme. Man beachte, dass Luz ebenso wie Strecker davon ausgeht, dass die „Zwölf“ und die „Jünger“ im vorliegenden Text des MtEv „identisch“ – im Sinne von „völlig übereinstimmend, vollkommen gleich“62 – sind.63 Das bestätigt seine, den Gesamtbefund übergreifende, Deutung des Begriffs μαθηταί: „Mt 17,6 ist die einzige Stelle, wo mit μαθηταί eindeutig nicht der Zwölferkreis gemeint ist, sondern die 17,1 genannten Drei.“64 Allerdings deutet Luz die Gleichsetzung in die entgegen gesetzte Richtung wie Strecker: erstens interessiere sich der Redaktor nicht für diese Gleichsetzung, er habe sie lediglich aus seiner Tradition übernommen.65 Zweitens zeige sich in der redaktionellen Arbeit des Evangelisten eine entgegen gesetzte Tendenz: er habe nicht die allgemeinen „Jünger“ auf die historischen „zwölf Jünger“ beschränkt (Jünger → Zwölferkreis) und somit historisiert (so aber Streckers Behauptung), sondern er habe die „Zwölf“ in ihrem „Jünger-Sein“ dargestellt (Zwölferkreis → Jünger) und somit transparent gemacht. Luz’ Deutung ist also im Wesentlichen redaktionsgeschichtlich begründet. Anders gesagt: Die Zahl der irdischen Jesusjünger, die Mt für seine Gemeinde (und jeden Christen) transparent macht, ist tatsächlich auf die Zwölf beschränkt. Und nicht die Gleichsetzung von Jüngern und Zwölf vertieft Mt gegenüber dem MkEv, sondern die Transparenz der Zwölf durch den allgemeinen Begriff „Jünger“.66 Im Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung Jünger – Zwölf stehen drei weitere Beobachtungen, durch die Luz seine Transparenz-These gestützt sieht:67 1. Matthäus vermeide im Gegensatz zu Lukas den Begriff „Apostel“, weil sich die Gemeindeglieder besser mit dem Begriff „Jünger“ identifizieren könnten, da „Apostel“ historisch konkrete Personen bezeichne, die zudem in der nachösterlichen Zeit eine hervorgehobene Funktion gehabt hätten (man vergleiche dazu z.B. Apg, 2Kor 12). 2. Matthäus verwende drei Male das Verb μαθητεύω, das den gleichen Sinn habe wie das Substantiv μαθητής und deswegen mit „Jünger machen / werden“ übersetzt werden müsste, wodurch Mt die nachösterlichen Gemeindeglieder adressiere. 3. Matthäus verwende die allgemeinen, nicht auf spezifische historische Personen bezogenen Begriffe ἀδελφός und μικρός, die parallel und synonym zu μαθητής stehen.
Die „Zwölf (Jünger)“ als Vorbilder für Gemeindeleiter. Manche Matthäusforscher der 1970er Jahre, die ebenfalls redaktionskritisch arbeiteten und einer ekklesiologischen Lesart des Jüngerstoffs folgten, sahen in den Jüngern Gemeindeleiter widergespiegelt oder angesprochen. Sie betonten Hinweise des MtEv auf Positionen oder Beauftragungen, die mit einer bestimmten Form von Autorität verbunden sind: auf die Parallelen zu atl Propheten sowie zu Jesu vollmächtigem Wirken (z.B. Mt 10,5ff), desweiteren auf Begriffe wie „Schriftgelehrte“ (13,52; 23,34), „Propheten“ (10,41; 23,34) usw.68 Diese Hinweise bezogen sie auf die Jünger, und eben nicht auf Personen, die von den Jüngern zu unterscheiden wären. Z.B. arbeitete M. Jack Suggs in Wisdom, Christology, and Law in Matthew᾽s Gospel die besondere Bedeutung der Lehre in drei für Mt zentralen Jünger-Beauftragungen 28,18-20, 16,17-19 und 5,11-16 heraus. Und schlussfolgerte z.B. zu 5,11-16, dass die Jünger als Schriftgelehrte die primären Adressaten der Bergpredigt seien.69 Zwei bekannte Vertreter dieser These sind Raymond Thysman und Paul S. Minear, die sich sich auch zur Zwölfzahl der Jünger äußerten: Während Thysman die „Jünger“ kategorisch mit den Zwölf gleichsetzte (wie Strecker), gab es für Minear neben den Zwölf auch andere Jünger. Nichtsdestoweniger gebrauchte Minear beide Größen de facto austauschbar. Ähnlich wie Thysman ist Paul S. Minear zu verorten: er vertritt zuerst in seinem Aufsatz „The Disciples and the Crowds in the Gospel of Matthew“70 und später in seinem Kommentar Matthew: The Teacher’s Gospel71 die These, dass die Volksmengen für gewöhnliche Gemeindeglieder stünden und dass die Jünger für Gemeindeleiter transparent seien. Denn die Jünger bildeten eine qualitativ herausgehobene Leitergruppe: Jesus habe sie berufen, um sie zu seinen Nachfolgern als Exorzisten, Heiler, Propheten und Lehrer auszubilden.72 Außerdem seien die Jünger quantitativ begrenzt: Matthäus meine in 12,46-50 mit „Jünger“ die Zwölf (vgl. Mt 10),73 das gelte wohl auch für Mt 13,74 ebenso würden in Mt 18 die Zwölf adressiert.75 Dass Mt mit „Jüngern“ eine kleine Gruppe gemeint habe, belegen s.E. nicht nur die limitierte Platzzahl in einem Boot (8,23),76 sondern auch die Geschichten rund um Jesu Passion, wo ausdrücklich nur zwölf Jünger anwesend seien. Mit Gewissheit könne man bei den Perikopen zwischen 9,35 und 11,1 und zwischen 19,10 und 28,20 von der Zwölfzahl der Jünger ausgehen. Allerdings gebe es vier Fälle, in denen nicht Individuen des Zwölferkreises gemeint sein könnten: 8,21; 10,42; 27,57 und 28,19. In einigen anderen Fällen sei eine größere Gruppe gemeint (z.B. 12,19). Und in vielen anderen Fällen sei die Größe der Gruppe offen gelassen. Minear schlussfolgert daraus: „We infer that Matthew had no special fondness for the term Twelve nor for the special office of the apostle, a term which he used only once.“77 Das hindert Minear nicht, in den beiden genannten Publikationen die Jünger und die Zwölf pauschal als austauschbare Größen zu behandeln. Das passt zu seiner grundsätzlichen Verhältnisbestimmung beider Begriffe, die im Zusammenhang mit Mt 10 deutlich wird: „Most often he spoke of them [the Twelve; V.L.] simply as the disciples (about sixty times). In most instances where he used this simpler designation, Matthew had in mind the group of twelve to whom Jesus gave a special role as shepherds and physicians.“78 Kurz: Mt interessiere sich nicht besonders für die Zwölfzahl oder das Apostelamt, weil die Begriffe „Zwölf“ und „Apostel“ sehr selten auftauchen. Nichtsdestoweniger seien mit „die Jünger“ meistens (bis auf vier oder mehr Ausnahmen?) die Zwölf gemeint. S.E. werden die Jünger, die für die Gemeindeleiter stehen, nicht weiter ausdifferenziert. Raymond Thysman interpretierte im ersten Kapitel seines Buches Communauté et directives éthiques : La catéchèse de Matthieu79 die Funktionen der Jünger als pastoraler, missionarischer und schriftgelehrsamer Art, weswegen sie Prototypen eines Pastors seien.80 Die Volksmengen dagegen seien im MtEv positiv dargestellt81 und auf Lehre und Leitung angewiesen, weswegen sie für die Gemeindeglieder stünden. Die Gemeindeleiter seien die Erstadressaten der Lehre Jesu im MtEv, die dann Jesu Lehre den Gemeindegliedern, den Zweitadressaten, vermitteln sollten. Für diese zwei „Ebenen“ innerhalb der mt Gemeinde und innerhalb der Personengruppen des mt Evangeliums gibt es laut Thysman ein zentrales Argument:82 nämlich die Beschränkung der „Jünger“ auf eine kleine Schar: „[…] mais chez Marc et chez Matthieu, le titre de disciple conserve très généralement un sens technique et restreint.“83 Und dann etwas präziser zum Begriff „Jünger“: „Le mot revient 71 fois chez Mt. et désigne pratiquement chaque fois les membres du groupe des ,Douze‘ […].“84 Als mögliche Ausnahmen für einen Jüngerkreis, der über die Zwölf hinausgehen könnte, nennt Thysman die Stellen 8,12-22 und 12,46-50.