Kitabı oku: «Von der Freiheit des Migranten», sayfa 2

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Ich will zuerst den Begriff «Brasilien» von den ihn verdekkenden eurozentristischen Vorurteilen (etwa Dritte Welt, Unterentwicklung oder Ausbeutung) befreien. (Vorurteile, diese vorbewußt gefällten Urteile, sind übrigens in allen Heimaten heimisch.) Die Bevölkerung Brasiliens bestand bis tief ins 19. Jahrhundert aus drei einander überlagernden Schichten. Aus Portugiesen, die zum Teil aus der Heimat geflüchtet waren, zum Teil das Land für Portugal administrierten. Aus Afrikanern, die als Sklaven hingebracht wurden. Und aus Ureinwohnern, die immer weiter ins Hinterland abgeschoben wurden (wobei diese Ureinwohner wieder in eine einst herrschende Oberschicht, die Tupis, und eine beherrschte Unterschicht, die abfällig sogenannten Tupinambas, eingeteilt werden konnten). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft wurde und die Afrikaner begannen, sich arbeitslos in Städten zu häufen, wurden europäische Einwanderer, vor allem zuerst Norditaliener, in die Landwirtschaft (Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr) berufen. Der ersten Einwanderungswelle folgten andere, zum Beispiel die der Polen, der Syrio-Libanesen, der Japaner und immer neuer Portugiesen. Bei meiner Ankunft dort war die letzte dieser Wellen die der Juden, aber inzwischen sind weitere dazugekommen, bis der Einwandererstrom in den sechziger Jahren versiegte. Wichtig ist festzuhalten, daß dieser Strom vor allem den Süden des Landes betraf und den Norden beinahe unberührt ließ, so daß sich das Land in zwei Regionen teilte. Gegenwärtig gibt es eine massenhafte Strömung aus dem Nordosten in den Süden, und die uns aus dem europäischen Fernsehen bekannten Bilder betreffen zum Großteil diese massenhafte Strömung.

Vor der Sklavenbefreiung war zwar ständig von einer brasilianischen Heimat in Poesie und Prosa romantisch die Rede, aber die Wirklichkeit (die berüchtigte realidade brasileira) strafte diese Rede Lüge. Es gab die dünne portugiesische Oberschicht, die sich um die Häfen häufte, um die letzten Nachrichten aus den verlorenen Heimaten Lissabon und Paris entgegenzunehmen. Man fühlte sich vertrieben. Die große Masse der Bevölkerung war afrikanisch, hatte aber zu Afrika keine bewußte Beziehung. Die nackt aus den Sklavenschiffen an die brasilianischen Strände geworfenen Menschen trugen nur in ihrer von schwerer Arbeit betäubten Innerlichkeit die verlorenen Kultureme, die dann allerdings in Form von Musik, Tanz und religiösen Riten ausbrachen, um den Boden einer jeden künftigen brasilianischen Heimat zu bilden. Die Ureinwohner, die immer weiter abgeschoben wurden, waren kein echter Teil Brasiliens, sondern nur eine teils mythisch-verherrlichte, teils brutal vergewaltigte Hintergrunderscheinung. Es unterscheidet übrigens Brasilien (und Argentinien und Uruguay) vom übrigen Lateinamerika, daß die Ureinwohner dort nur einen ideologisch verbrämten Hintergrund bilden.

Die europäischen, nah- und fernöstlichen Einwanderer begannen seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Frage nach Brasilien als einer Heimat zu stellen. Ist es möglich, aus derart heterogenen Elementen ein Netz von geheimen Bindungen zu weben, wie wir es aus den alten Heimaten kennen? Es gab einen Ansatz zu diesem Weben: die portugiesische Sprache. Sie war, im Vergleich zu der in Portugal gesprochenen, zwar einerseits archaisch (es haben sich darin Renaissance-Elemente erhalten), zum anderen Teil verwildert (afrikanische Elemente waren eingedrungen). Aber gerade dies erlaubte dem Portugiesischen zu einer Lingua franca zum Beispiel zwischen arabischen und japanischen Sprechern zu werden. Ist es möglich, eine brasilianische Sprache herzustellen, die fähig ist, eine brasilianische Kultur zu tragen und zu übertragen und somit aus dem Land Brasilien eine Heimat für eine künftige Gesellschaft zu machen? Diese für alle Beteiligten begeisternde Frage bildet, meiner Meinung nach, den Nährboden für alles, was in diesem Jahrhundert dort hergestellt wurde, angefangen mit Brasilia bis zum Bossa nova.

Als ich in Brasilien ankam, wurde ich, sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien, von diesem Taumel mitgerissen. Ich tauchte in die Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter. Und erst der golpe, der Staatsstreich der Armee, hat mich ernüchtert. Und zwar nicht, weil ich, wie die europäischen Beobachter, darin eine reaktionäre Intervention, sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat erkannte. Ich will etwas näher auf diese meine Enttäuschung mit der brasilianischen Heimat (und mit allen Heimaten überhaupt) eingehen:

Brasilien war existentiell ein no man’s land, als die Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert begannen. Es war niemandes Heimat. Daher der Schlachtruf der eine Heimat erzwingen wollenden Patrioten: Este pais tem dono (Dieses Land hat einen Besitzer). Nicht eine afrikanische, asiatische oder andinische Kolonie war es, wo Kolonisatoren Einheimische beherrschten, sondern, etwa wie die Staaten, ein leeres Land, aus dem die Einheimischen vertrieben wurden. Daher wurden die Einwandernden nicht als häßliche Fremde, sondern vorurteilslos als heimatlose Schicksalsgenossen empfangen. (Aus Zeitmangel kann ich hier nicht auf den Unterschied zwischen Brasilien und den Staaten eingehen.) Diese vorurteilslose Stimmung unterschied sich so stark von der europäischen Stimmung der Heimaten, aus denen die Einwandernden vertrieben worden waren, daß es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren. Außerdem war man in diesem Niemandsland Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte. In meinem Fall: Eine brasilianische Philosophie war, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen, überhaupt erst zu schaffen. So begann man, dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht, wie in der verlorenen Heimat, durch die Geburt aufgelegt waren, sondern frei hergestellt wurden. Und so erkannte ich, was den Patriotismus (sei er lokal oder national) so verheerend macht: daß er aufgelegte menschliche Bindungen heiligt und daher die frei auf sich genommenen hintanstellt; daß er die Familienverwandtschaft über die Wahlverwandtschaft stellt, die echt oder ideologisch biologische über Freundschaft und Liebe. Ein Freiheitstaumel erfaßte mich: Ich war frei, mir meine Nächsten zu wählen.

Dieses Weben eines künftigen geheimen Codes, einer künftigen brasilianischen Heimat, dieses Verwandeln von Abenteuer in Gewohnheit und dieses Heiligen der Gewohnheit blieben begeisternd, solange immer neue Einwandererwellen aufgenommen wurden. Das im Weben begriffene Netz blieb offen. Zum Beispiel: Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren. Trotzdem jedoch begann es sich zu institutionalisieren. Die Aufnahme darin wurde immer schwerer. Es begannen sich Vorurteile zu kristallisieren. Das heißt, man begann, mit dem Errichten einer neuen Heimat Erfolg zu haben.

Hinzu kamen in den fünfziger Jahren zwei Erfahrungen, die es in den Griff zu bekommen galt. Die erste ist unter dem Begriff defasagem (etwa Dephasierung), die zweite unter dem Begriff populismo zu fassen. In dem Maß nämlich, in dem sich ein autonomer brasilianischer Kern herauszubilden begann, ging der lebendige Kontakt mit den großen Zentren (vor allem in Amerika) verloren, und ich erkannte, was ich aufgegeben hatte, als ich mich in Brasilien engagierte – nämlich die Freiheit von geographischer Bindung. Es begannen in mir Zweifel zu entstehen, ob in der gegenwärtigen informatischen Revolution nicht jede geographische Verbundenheit reaktionär ist; ob man den Vorteil, keine Heimat zu haben, aufgeben sollte.

Die zweite Erfahrung, die mit dem populismo, ist radikaler. Die wirtschaftlich-soziale Schichtung war in den fünfziger Jahren etwa diese: Die große Masse der Bevölkerung lebte halbnomadisch, folgte den Ernten der Monokulturen in Elend, Hunger und Krankheit, und sie war die Herausforderung, aus dieser kulturlosen Menge eine Heimat zu machen. Darüber saß das größtenteils aus Einwanderern bestehende Proletariat der Städte und darüber das Bürgertum, das teils aus Einwanderern, teils aus den Nachkommen der portugiesischen Eroberer aufgebaut war. Das Weben der Heimat war Sache der Bürger. Und die Frage war: An wen haben wir uns zu wenden? An die Arbeiter der Städte, um sie bewußt zu machen? Oder an die passive Masse, um sie dem Gewebe der Gesellschaft einzuverleiben? Beides zugleich war unmöglich. Denn um die Städter zu mobilisieren, mußte man politisieren, und um die Masse anzugehen, mußte man wirtschaftlich handeln und entpolitisieren. Also entweder sich für die Freiheit oder für das Bekämpfen von Hunger und Krankheit engagieren. Es ist sehr schwierig, sich einer so unmöglichen Wahl klar zu stellen. Ich versuchte es, und ich bin daran gescheitert.

Die «populistische» Tendenz, die mit Vargas zur Herrschaft kam und deren letzter Ausläufer der vor seinem Amtsantritt verstorbene Präsident war, glaubte, der unmöglichen Wahl so zu entgehen: Man mußte zuerst die Arbeiter politisch mobilisieren, um nachher die Masse aufsaugen zu können. Dies führte zu faschistoider Demagogie und zu einer Vulgarisation aller kulturellen Unternehmungen. Die zweite Tendenz, die «technokratische», packte das Dilemma an seinen Hörnern. Es gilt zuerst einmal, die Not zu beheben, und um dieses tun zu können, muß man zentral planen. Eine solche Planung setzt Diktatur voraus und das «provisorische» Unterbinden aller sozialen, politischen und kulturellen Störung der Planung. Diese «technokratische» Tendenz ist in der Armee verkörpert – einer aus Bürgern bestehenden Gruppe. Nach 1964 wurde mir klar, daß der Sieg der Technokratie über den populismo der einzige Weg ist, um endlich aus Brasilien eine Heimat werden zu lassen. Und es wurde mir auch klar, wie diese Heimat aussehen würde: ein gigantischer, fortgeschrittener Apparat, der in Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen keiner europäischen Heimat nachstehen würde. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1972, bis ich mich unter Schmerzen entschloß, mein Engagement an Brasilien aufzugeben und in der Provence, diesem Antibrasilien, zu wohnen.

Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. In meiner brasilianischen Erfahrung: Die Bindungen, die ich dort eingegangen bin, habe ich aufrechtzuerhalten, denn ich bin verantwortlich für meine brasilianischen Mitmenschen, so wie sie verantwortlich für mich sind. Aber ich habe außerhalb von Brasilien andere Bindungen aufzunehmen und in diese neuen Bindungen meine brasilianische Erfahrung einzubauen. Nicht Brasilien ist meine Heimat, sondern «Heimat» sind für mich die Menschen, für die ich Verantwortung trage.

Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den «Nächsten». Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen.

Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.

Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohnten Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher: die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum. Aber auch das vergangene Jahr, die verlorenen Heimaten, die abenteuerlichen Abgründe der Geschichte und Vorgeschichte, die heranrückende abenteuerliche Zukunft und die unvoraussehbare weite Zukunft. Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinholen und um Ungewöhnliches machen zu können. Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Informationen empfangen und um Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.

Diese Dialektik zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Redundanz und Geräusch ist, laut der Hegelschen Analyse, die Dynamik des unglücklichen Bewußtseins, welches ja das Bewußtsein schlechthin ist. Bewußtsein ist eben jenes Pendeln zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Privatem und Öffentlichem, von dem Hegel sagt, daß ich mich selbst verliere, wenn ich die Welt finde, und daß ich die Welt verliere, wenn ich mich selbst finde. Ohne Wohnung wäre ich unbewußt, und das heißt, daß ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre. Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde; es ist das Primäre.

Aber es gibt nicht nur eine äußere Dialektik zwischen Wohnung und Welt, zwischen Gewohntem und Ungewohntem. Es gibt auch eine der Wohnung, der Gewohnheit selbst innewohnende Dialektik. Indem die Gewohnheit für das Ungewohnte offen steht, indem sie erlaubt, Ungewohntes als Information wahrzunehmen, wird sie selbst nicht wahrgenommen. Ich nehme, wenn ich mich an meinem Schreibtisch setze, die dort herumliegenden Papiere und Bücher nicht wahr, weil ich an sie gewöhnt bin. Was ich dort wahrnehme, sind nur die neu eingetroffenen Bücher und Papiere. Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene. Es gibt diesbezüglich die bekannte Heideggersche Untersuchung der unter dem Bett liegenden Pantoffel. Ich nehme zwar meine Wohnung nicht wahr, aber ich empfinde sie dumpf, und diese dumpfe Empfindung heißt in der Ästhetik Hübschheit. Jede Wohnung ist für ihren Bewohner hübsch, weil er an sie gewöhnt ist. Das zeigt der bekannte ästhetische Zyklus: «häßlich – schön – hübsch – häßlich». Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.

Dieser Exkurs in die Asthetik war nötig, um das Phänomen der Heimatliebe (und der Vaterlandsliebe) in den Griff zu bekommen. Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche, das etwa in Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen stehen. Patriotismus ist vor allem ein Symptom einer ästhetischen Krankheit.

Die irrtümlich als Schönheit empfundene Hübschheit einer jeden Heimat, diese Verwechslung zwischen Ungewöhnlichem und Gewohntem, zwischen Außerordentlichem und Ordinärem, ist in manchen Heimaten jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Katastrophe. Wenn ich die Provence oder das Allgäu für schön halte, und dies nicht, weil ich diese Gebiete entdeckt habe, sondern weil ich an sie gewöhnt bin, dann bin ich Opfer eines ästhetischen, nicht aber notwendigerweise eines ethischen Irrtums. Halte ich jedoch São Paulo für schön, dann begehe ich eine Sünde. Denn die alle Phänomene verdeckende und abrundende Wattedecke der Gewohnheit läßt mich dann das dort herrschende Elend und Unrecht nicht mehr wahrnehmen, sondern nur noch dumpf empfinden. Es wird dann ein Teil der heimatlichen Hübschheit, die ich als Schönheit empfinde. Das ist das Katastrophale an der Gewohnheit.

Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewußtseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen. Aber sie ist auch eine Betäubung, weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird. Verwechselt man Wohnung mit Heimat, Primäres mit Sekundärem, dann zeigt sich dieser innere Widerspruch noch klarer. Denn da der Beheimatete in seine Heimat verstrickt ist, so kann sie nur unter bewußter Anstrengung das Wahrnehmen der Welt dort draußen erlauben.

Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt zwar Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert. Er ist ein in diesem Sinn geheimnisloses Wesen. Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimnis, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.

Die Evidenz, in welcher der Heimatlose lebt, stellt sich für ihn als Problem, nicht als etwas unheimlich Anmutendes dar. Der Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat hat ihn für ein anders geartetes Geheimnis geöffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen. Sein Problem lautet: Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in den von mir mitgeschleppten Geheimnisbrocken schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner im Geheimnis verankerten Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.

* Der Text geht auf einen Vortrag beim 2. sog. «Kornhaus-Seminar» zum Thema «Heimat und Heimatlosigkeit» in Weiler (Allgäu) zurück.

Für eine Philosophie der Emigration

Der Mensch ist bedingt. Man kann die Dinge, die ihn bedingen, klassifizieren. Etwa in die Klasse der natürlichen und die Klasse der gemachten Dinge. Man kann dann sagen, der Mensch sei von der Natur und der Kultur bedingt, in der er sich befindet. Bedingt sein heißt, von Dingen umgeben sein, die die Bewegung des Bedingten in spezifische Bahnen lenken. Der Mensch ist bedingt, weil seine Bewegung von den natürlichen und kulturellen Dingen in seiner Umgebung in spezifische Bahnen gelenkt wird. Die Bedingung ist eine Erklärung des Bedingten, weil man aus der Bedingung die Bahnen ersieht, in die die Bedingung gelenkt werden wird, und also diese Bewegung voraussieht. Der Mensch ist aus seiner natürlichen und seiner kulturellen Bedingung erklärlich.

Der Mensch ist nicht ganz bedingt. Es gibt in seiner Umgebung eine Stelle ohne Dinge. Von dieser Stelle aus kann er seine Umgebung überblicken. Gäbe es diese Stelle nicht, dann hätten die vorstehenden Zeilen nicht geschrieben werden können. Die von Dingen freie Stelle kann man die ironische nennen. Wenn sich der Mensch in die Ironie stellt, kann er seine Bedingung überblicken. Die Bewegung des Menschen in die Ironie hinein und aus der Ironie heraus kann nicht aus seiner Bedingung vorausgesehen werden. Der Mensch ist aus seiner Bedingung nicht ganz erklärlich.

Die Bewegung in die Ironie hinein ist eine Empörung. Mit dieser Bewegung steigt der Mensch aus seiner Bedingung empor. Die Bewegung aus der Ironie heraus ist ein Engagement. Mit dieser Bewegung kehrt der Mensch in seine Bedingung zurück, um sie zu ändern. Die beiden Bewegungen heißen Freiheit. Der Mensch ist frei, weil er sich mit einer unvorhersehbaren und unerklärlichen Bewegung gegen seine Bedingung empören kann und sie verändern kann. Durch diese Möglichkeit ist er virtuell frei, und, wenn er sie vollzieht, ist er faktisch frei.

Die Möglichkeit der Bewegung in die Ironie hinein und aus ihr heraus unterscheidet den Menschen von den Dingen in seiner Umgebung. Sie ist seine Würde. Jede Erklärung des Menschen, sei es aus seiner natürlichen, sei es aus seiner kulturellen Bedingung, ist eine Entwürdigung des Menschen. Eine Erklärung des Menschen aus der Natur aber entwürdigt ihn mehr als eine Erklärung aus der Kultur, weil sie auf das Absurde der Empörung deutet. Es ist absurder, wenn ich mich gegen meine Bedingung als Säugetier empöre, als wenn ich es gegen meine Bedingung als Bürger tue. Zwar bin ich beides, Säugetier und Bürger, ohne daß man mich befragt hätte, ob ich es sein will. Beides entwürdigt mich also. Aber es ist aussichtsreicher, mich gegen mein Bürgertum als gegen mein Säugetiertum zu empören, denn ich kann es eher ändern. Darum sind faschistoide Erklärungen des Menschen entwürdigender als sozialistoide. Beide sind allerdings falsche Erklärungen, weil sie das Unerklärliche im Menschen (seine Würde) unterdrücken.

Ich kann die Bewegung der Empörung in die Ironie auch Emigration nennen; und ich kann die umgekehrte Bewegung aus der Ironie (das Engagement) auch Immigration nennen. Mit dieser neuen Nomenklatur verschiebe ich das Problem ein wenig. Und zwar auf doppelte Weise: In meiner Empörung wandere ich aus einer Bedingung aus, um in eine andere einzuwandern; und mein Auswandern ist nicht nur Empörung, sondern auch Flucht. Die Verschiebung des Problems sei betrachtet.

Ich kann meine Bedingung ändern, indem ich sie vertausche. Auch das Vertauschen ist eine Veränderung, denn die verlassene Bedingung ist anders durch mein Verlassen, und die betretene Bedingung ist anders durch mein Betreten. Aber dieser Typ von Veränderung ist in eine andere Stimmung getaucht als die Wiederkehr in die ursprüngliche Bedingung – nämlich in die Stimmung der Flucht. Ich gebe die erste Bedingung fluchtartig auf und rette mich in die zweite. Ist das noch eine Empörung und ein Engagement im wahren Sinne des Wortes? Ist es hier noch erlaubt, von Freiheit zu sprechen? Ist der Mensch frei, weil er flüchten kann? Ich glaube, diese Frage kann strukturell beantwortet werden. Wenn ich die erste Bedingung verlasse, um auf derselben Ebene die zweite zu betreten, bin ich ein Flüchtling. Ich habe mich nicht empört und nicht engagiert, sondern ich habe mich treiben lassen. An dieser meiner voraussehbaren Bewegung ist keine Würde. Wenn ich aber die erste Bedingung in die Ironie hinein verlasse und mich aus dieser Ironie in die zweite Bedingung hineinbegebe, dann habe ich mich empört und engagiert, und mein Entschluß war würdig.

Die theoretische Unterscheidung zwischen Flucht und echter Emigration, und zwischen Rettung und echter Immigration ist relativ einfach. Die praktische ist schwerer. In der Praxis haftet jeder Emigration etwas fluchtartiges an und jeder Immigration ein Element von Rettung. Umgekehrt hat jede Flucht etwas von Emigration, wenn auch vielleicht nicht jede Rettung etwas von Engagement an sich hat. Aber es gibt doch Symptome, die uns helfen, in der Praxis die Unterscheidung zu treffen.

Was unterscheidet den Emigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling ist, positiv und negativ, der verlassenen Bedingung verhaftet. Er schleppt sie auf seiner Wanderung mit sich, und zwar in einer Mischung von Ressentiment und Liebe. Der Emigrant hat sich über die verlassene Bedingung erhoben. In dieser seiner Empörung kann er aus ihr herausheben, was er will, und anderes kann er verwerfen. Was unterscheidet den Immigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling, eingekapselt in die verlassene Bedingung wie er ist, ist der neuen verschlossen. Er hat ihr weder etwas zu geben, noch von ihr etwas zu nehmen. Der Immigrant steht der neuen Bedingung teilweise offen, nämlich an den Stellen, an denen die verlassene Bedingung ironisch verworfen wurde. An diesen Stellen kann er die neue Bedingung sich assimilieren und sich der neuen Bedingung assimilieren. Und er kann an den Stellen, an denen er seine alte Bedingung bewußt beibehält, auf die neue Bedingung verändernd einwirken.

Es gibt auch sogenannte innere Emigrationen. Der Schreiber hat sie selbst nicht erfahren und kann sie nicht bewerten. Er ist ein (wie er hofft) Emigrant aus Europa und Immigrant nach Brasilien. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Struktur der verlassenen und der betretenen Bedingung die Emigration und die Immigration beeinflußt. Der Mensch ist eben doch ein teilweise bedingtes Wesen. Die Struktur der europäischen Bedingung ist derart, daß sie dem entschlossenen Emigranten die Empörung erleichtert. Die Struktur der brasilianischen Bedingung ist derart, daß sie dem entschlossenen Immigranten das Engagement leichtmacht. Trotzdem ist der Entschluß immer schwer, denn die Fäden der Bedingung kleben am Menschen. Es ist immer leichter, Flüchtling zu sein und die Flucht dann mit dem Begriff der Treue zu verschleiern. Echte Treue ist das Engagement an einem frei Erwählten. Also ist der Begriff der Treue von dem der Freiheit nicht zu trennen. Die Treue des Flüchtlings ist eine falsche Treue. Treu der europäischen Bedingung in Brasilien ist nicht der, der sie sklavisch bewahrt, sondern der, der versucht, Brasilien Teile dieser Bedingung einzuverleiben, wenn auch dieser Versuch aus einem Engagement an Brasilien quillt und nicht aus einem an Europa.

Zugegeben, eine Philosophie der Emigration ist erst zu schreiben. Ihre Kategorien sind noch nebelhaft und verschwommen. Aber sie sollte geschrieben werden. Denn sie wäre ja nicht nur für faktische, sondern auch für virtuelle Emigranten von Bedeutung. Eine ihrer Aufgaben wäre es, Emigration so deutlich wie möglich von Flucht zu unterscheiden. Und das inmitten einer Situation, die viele fluchtartige Elemente aufweist.

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