Kitabı oku: «Meine weisse Stadt und ich», sayfa 3

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Ein Kapitel, das dem Leser die Unvoreinge­nom­men­heit des Autors vermitteln soll

Das Gelächter und das anmaßende Grinsen meiner Freunde hatten dieses Kapitel notwendig gemacht. Ein oder zwei von ihnen kannten Paris sehr gut und hatten eine ganz andere Meinung von der Stadt und ihren Bewohnern. Ich musste gestehen, dass ich kaum Zeit gehabt hatte, mir ein wirklich objektives Bild von der Stadt zu machen, und meine Erfahrungen hauptsächlich die eines typischen Touristen gewesen waren.

«Hättest du dich in New York oder London nicht genauso einsam gefühlt?», fragte ein junger Mann, der bislang geschwiegen hatte.

«Ja, ganz bestimmt!», sagte ich. «Ich weiß es, denn ich habe diese Städte mehrmals besucht. Mir ist auch bewusst, dass Verallgemeinerungen gefährlich sind. Niemand reagiert auf diese Gefahr empfindlicher als ich. Es ist das Klischee unserer Zeit, dass wir in einem ‹verallgemeinernden Zeitalter› leben und vor der ‹gewaltigen Aufgabe› stehen, ‹überwältigende Mengen› von Informationen aus vielen verschiedenen ‹Bereichen› menschlicher Erfahrung auszuwerten: Aber es ist trotzdem wahr, insbesondere in meinem eigenen Land», räumte ich ein. «Ein Land, das fast ausschließlich aus dünnhäutigen Minderheiten besteht, die stereotypen Meinungen so ablehnend gegenüberstehen, dass die harmloseste Verallgemeinerung qualifiziert werden muss, wenn man sie nicht kränken will.

Wenn wir über Ideen diskutieren, ist eine der häufigsten Qualifizierungen, die Studenten dazu vorbringen – die ernsthaften ebenso wie die Stümper –, dass diese oder jene ‹Fakten› sich relativ zu diesen oder jenen Zusammenhängen verhalten. Dabei vergessen oder übersehen sie oft das eigentliche Problem, das einem eine solche Qualifizierung aufzwingt: Selbst wenn diese ‹Fakten› einen bestimmten Zusammenhang tatsächlich ‹relativieren› können – und es mit Sicherheit auch tun –, wird damit eine Referenz impliziert, zu der sich nichts ‹relativ› verhält. Hier liegt das eigentliche Problem. Wir vergessen, dass die Spezifizierung der Erfahrung lediglich ein bequemer Kunstgriff ist, der uns vom Intellekt auferlegt wird. Er hat nämlich seine potenzielle Entfaltung noch lange nicht erreicht, und wenn es ‹relative› Teile gibt, muss es mit Sicherheit auch ein ‹Ganzes› geben, selbst wenn wir es empirisch nicht beweisen können. Du hast völlig recht, wenn du mich darauf hinweist. Aber ich kann mich rechtfertigen, indem ich euch ein wirklich schönes, aber auch trau­riges Erlebnis erzähle, das ich eines Abends mit einem jungen Pariser Soldaten in einem Bistro in der rue Monsieur le Prince hatte.

Ich hatte gerade für meinen Pernod bezahlt, und da ich das Gefühl hatte, dass die Rechnung wieder einmal zu hoch gewe­sen war, bat ich die Kellnerin um die Preisliste. Sie tat so, als hätte sie mich nicht verstanden, daher gab ich auf und ging. Ein junger Franzose in Uniform folgte mir auf die Straße und sagte: ‹Monsieur, vous avez trop payé pour votre verre!› Ich stimmte ihm entschieden zu und erklärte in meinem ärmlichen Französisch:

‹Das tue ich schon, seit ich in Ihre verfluchte Stadt gekom­men bin, Sir. Franzosen sind Diebe und Halsabschneider, und man sollte sie alle dafür hängen!›

‹Mais non!›, rief er. ‹Es sind nicht alle Franzosen so. Sie kennen die Franzosen nicht, Monsieur. Nicht die in den Bars und den teuren Restaurants, sondern die wahren Franzosen.›

‹Da stimme ich Ihnen zu›, gab ich zurück. ‹Ich tue mein Bes­tes, um Touristenfallen zu meiden, aber ich weiß nicht wie, weil ich die Sprache nicht besonders gut beherrsche und nicht weiß, wo ich diese wahren Franzosen finden soll. Ich habe sogar Mühe, mich den schrecklichen Wesen verständlich zu machen, denen ich ausgeliefert bin!›

‹Kommen Sie mit!›

‹Wohin?›, fragte ich und musterte ihn etwas aufmerksamer. Nicht umsonst hatte Paris einen gewissen Ruf! Er wirkte harmlos, aber trotzdem … ‹Wo bringen Sie mich hin?›, frag­te ich. Ich hatte Angst, er würde mir etwas andrehen wollen oder sei ein Zuhälter.

‹Zu meiner Frau. Sie trinkt gleich um die Ecke eine Limonade.›

Ich blieb stehen und sah mir den Kerl genau an. Er war viel größer als ich, aber sehr dünn. Er trug eine abgewetzte, doch relativ saubere französische Militäruniform. Der rechte Arm steckte in einer schwarzen Armbinde, die um seinen Hals hing, die rechte Hand hatte er in die Jacke gesteckt, als wäre der Arm gebrochen. Als er meinen misstrauischen Blick bemerkte, sagte er hastig: ‹Oh, Sie müssen keine Angst haben, Monsieur! Ich bin Korporal Henri Pitit.› Mit der linken Hand kramte er nach seinem Ausweis, um es mir zu beweisen. ‹Ich bin vor Kurzem vom Feldzug in Tunesien zurückgekehrt. Dort wurde ich verwundet.› Er zeigte mit der linken Hand auf den rechten Arm. ‹Ich wurde erst vor zwei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen, deshalb bin ich so schwach und blass. Ich bringe Sie zu meiner Frau, die ich von ihrem Seminar an der Universität abhole. Sie studiert Medizin.› Er lächelte stolz. ‹Ich möchte Sie zu mir nach Hause einladen, damit Sie sehen, dass wahre Franzosen nicht wie diese Leute da sind. Dann werden Sie sehen, Monsieur, nicht alle Franzosen sind materialistische Parasiten.›

Ich versuchte einzuwenden, dass ich keinen Hunger hatte, weil ich gerade erst gegessen hätte, aber er wollte nichts davon wissen. Ehrlich gesagt, der Anstand des Mannes beeindruckte mich.

Wen interessiert es schon, was ich von den Franzosen hal­te, dachte ich bei mir. Doch ihm schien es offensichtlich sehr wichtig zu sein. Deshalb beschloss ich, mit ihm zu gehen.

Seine Frau war ein blasses, halb verhungertes, schmales Ding mit strähnigem dunkelbraunem Haar und klaren und mutigen Augen. ‹Guten Abend›, sagte sie, nachdem ihr Mann uns miteinander bekannt gemacht hatte. Und als er ihr sagte, dass er mich zum Abendessen eingeladen hatte, war sie auf ihre freundliche Art sofort einverstanden. In diesem Augenblick sah sie erst mich und dann ihren Mann mitfühlend an. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Sie zahlte ihre Limonade, und wir verließen das Bistro. Mit der Metro fuhren wir zu einem Viertel, in dem ich noch nie gewesen war. An einer trostlosen Straße stiegen wir aus und liefen durch eine Gasse nach der anderen. Ich dachte an die Slums, in denen ich zur Welt gekommen war, und auch an die von London und Glasgow. Schließlich traten wir durch einen dunklen Toreingang in einen Korridor, der in einen Hof führte, und von da durch eine Tür in einen weiteren Korridor. Eine trübe gelbe Glühbirne an der Decke erhellte das schäbige Treppenhaus; es stank nach Urin und verschimmeltem Essen. Am Ende des Gangs befand sich ein Müllhaufen. Ratten nagten an leeren Konservendosen, und Kakerlaken krochen durch den feuchten Inhalt der überquellenden Mülltonne.

An einer Tür blieben wir stehen und betraten ein Zimmer. Dort saß ein junger Mann an einem kleinen, mit einem Wachstuch bedeckten Holztisch und stand auf, um uns zu begrüßen. Er war vielleicht zweiundzwanzig, mager und ging gebeugt. Er hatte ein feines schmales Gesicht und große mu­tige Augen, wie die von Henri Pitits Frau. Er ist ihr Bruder, dachte ich und registrierte das dünne braune Haar, das ihm ins Gesicht fiel. Er trug einen dunklen, ausgebeulten Pullover und einen grünen Wollschal um den Hals. Bevor wir kamen, hatte er ge­­schrieben. Ein halb beschriebenes Blatt Papier lag auf dem Tisch neben einem Vogelkäfig mit einem kleinen grünen Vogel darin. Als wir auf den jungen Mann zugingen, lächelte er leicht, offensichtlich war ihm der Besuch eines Fremden peinlich. Henri stellte mich vor.

‹Das Abendessen ist gleich fertig.› Madame Pitit warf mir einen Blick zu. Dann zündete sie den Gaskocher an, der auf einer kleinen Holzkiste stand. Die weiche blaue Flamme loderte unter einer Blechdose auf, so groß wie ein Vierzigliter-Eimer für Schmalz. Sie enthielt eine schmutzig-graue Suppe, auf der Fettkügelchen schwammen. Das registrierte ich, als ich auf Drängen meines Gastgebers den einzigen Stuhl im Raum annahm. Ebenso, dass in der Flüssigkeit eine Karotte, ein oder zwei Kartoffeln und ein kleines Stück fettes Fleisch schwammen, kaum größer als der kleine grüne Vogel in seinem Holzkäfig auf dem Tisch.

Der Soldat setzte sich auf das Bett. Es schien, als hätten sie sämtliche Lumpen, die sie besaßen, daraufgelegt, um es warm zu haben. Da kein weiteres Bett zu sehen war, folgerte ich, dass die drei zusammen in dem einen schliefen. Der Dichter stand neben dem Herd und beobachtete, wie seine Schwester das Essen zubereitete, das heißt, Salz und Pfeffer in die Suppe streute. Brot, das wir dazu hätten essen können, gab es nicht.

Während ich am Tisch saß, hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig umzusehen. Das Zimmer war etwa dreißig Quadrat­meter groß. Ein kleines Fenster neben der Tür ging auf den schwach erleuchteten Hof hinaus. Die einzige Heizung war der Gaskocher, auf dem die Suppe brodelte. Neben dem Kopfende des Bettes auf der anderen Seite des Zimmers standen ein paar Holzkisten, die als Tische dienten und mit Büchern und Toilettenartikeln gefüllt waren. Der schmutzige Kachelboden war unbedeckt.

Dann war das Abendessen fertig. Meine Gastgeberin deckte den Tisch. Sie hatten nur zwei Teller und zwei Löffel. Einer von uns würde warten müssen, bis die anderen beiden geges­sen hatten. Natürlich musste die Frau als Erste essen, darauf bestand ich, und der Ehemann bestand darauf, dass ich mit ihr aß, weil ich ihr Gast war. Er würde seine Suppe direkt aus einer kleinen Dose schlürfen, und der Dichter erklärte sich bereit, zu warten.

Ich bekam kaum einen Bissen runter. Die Suppe schmeckte gar nicht mal so schlecht, aber sie sah ekelhaft aus, und ihr Aroma wurde durch den Gestank aus der Toilette draußen nicht gerade besser. Obendrein machte es mich nervös, dass ein junger Mann, der die Suppe offensichtlich viel nötiger hatte als ich, wartete, dass ich fertig wurde, damit er essen konnte. Zudem konnte er den Blick kaum von dem Tisch abwenden, der die Mitte des Zimmers in Beschlag nahm. Trotz diverser Versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, breitete sich immer wieder ein lähmendes Schweigen aus. Es erübrigt sich zu sagen, dass es mir schwerfiel, meine Gefühle zu verbergen, aber ich versuchte es, indem ich viel zu laut und zu hastig sprach und zu oft lachte oder lächelte. Ich glaube, dass ich sie sogar davon überzeugte, dass ich mich gut un­­terhielt – alle bis auf die Frau, die es besser wusste. Es gelang mir nicht, meine Verlegenheit und die eklatante Ironie der Tatsache, dass ich deutlich wohlhabender war als sie, vor ihrem gelassenen, vielsagenden Blick zu verbergen. Sie las das schlechte Gewissen in meinem Gesicht. Wenn sie ihre sanften Augen niederschlug, spürte ich die Last der grässlichen Reiseschecks in meiner Tasche (mehr als dreitausend Dollar), ich, der ihre schmutzige Suppe schlürfte und auf dem einzi­gen Stuhl saß.

Ich hätte ihnen einige davon abgeben können, aber ich traute mich nicht. Der Soldat hatte recht gehabt, sie waren wahre Franzosen. Mein Angebot hätte sie nur gekränkt, und ich hätte mich noch schlechter gefühlt als ohnehin schon. Also quälte ich mich durch den Abend, und es gelang mir tat­sächlich, ihnen vor dem Einsteigen in die Metro das Verspre­chen abzuluchsen, in der kommenden Woche (zuerst hatte ich den folgenden Tag vorgeschlagen, aber sie sagten, da hätten sie bereits etwas vor) mit mir zu Abend essen, und ent­schul­digte mich gleichzeitig, dass wir in ein Restaurant gehen müssten, weil ich kein eigenes Zuhause hatte.

‹Machen Sie sich deswegen keine Sorgen›, sagte der Soldat. ‹Wir freuen uns, Sie kennengelernt zu haben und hoffen, dass wir uns wiedersehen.› – ‹Au revoir›, sagte die junge Frau mit den mutigen Augen sehr herzlich. Es war kaum mehr als ein Flüstern. Ich stieg in die Metro und verschwand, um mich dort nie wieder blicken zu lassen, aber diese herzergreifende und trotzdem lächerliche Szene, in der ich eine so mittelmäßige Rolle gespielt hatte, habe ich nie vergessen.»

Ein langes Schweigen folgte. Es dauerte etwa drei Minuten. Das willkürliche Stimmengewirr im Mövenpick sickerte in die nachdenkliche Stille der kleinen Runde um mich her­um. Schließlich sah mich der Freund an, der mich dem neu­gierigen jungen Mann vorgestellt hatte, um dessentwillen ich dem ehrgeizigen Kellner so lange getrotzt hatte, und sagte in einem herausfordernden Ton:

«Ich wusste gar nicht, dass du in Amsterdam gewesen bist …»

«Das! … ist eine lange Geschichte», antwortete ich, um sie zu entmutigen.

«Erzähl», sagte er und fügte hinzu: «Und trink noch ein Glas Wein.» Ich nahm an. Kurz darauf brachte der Kellner den Wein. Wir stießen auf unsere Gesundheit an. Dann verstummte die kleine Gruppe. Ich begann …

Warum ich Amsterdam verlassen habe

«Tja, wäre ich damals ein bisschen mutiger gewesen», gestand ich, «hätte mir Amsterdam vielleicht besser gefallen. Da ich aber neu in Europa war, kam es mir so furchterregend vor wie Paris unfreundlich. Denn Amsterdam konfrontierte mich mit einem alten Problem und mehreren neuen, auf die ich nicht vorbereitet war.

Das alte Problem war natürlich die Sprache. Wenn man eine Sprache nicht beherrscht, ist man unsicher und argwöhnisch. Zum ersten Mal hatte ich das ungute Gefühl, ständig angestarrt zu werden. Aber in punkto Freundschaften erging es mir viel besser als in Paris. Der junge Schriftsteller, den ich auf dem Boulevard Saint-Michel getroffen hatte, hatte mir ein Empfehlungsschreiben für seine Freunde mitgegeben. Nachdem ich die erste Nacht in einem sehr angenehmen, aber teuren Hotel verbracht hatte, machte ich mich auf den Weg zu ihnen. Mein neuer Freund hatte gesagt, sie könnten mir helfen, eine preiswerte Unterkunft zu finden.

Ganz oben auf meiner Liste stand ein freundliches junges Paar. Beide lasen meinen Brief und nahmen mich mit offenen Armen auf. Ihr Mann sei ein ziemlich bekannter Dichter in Holland, erzählte mir die Frau. Sie zeigte mir mehrere schmale Gedichtbände mit seinem Namen auf dem Umschlag. Und soweit ich verstand, stammte sie aus einem alten, aber verarmten Adelsgeschlecht. Er war groß, drahtig und elegant und trug das Haar wie ein Jahrzehnt zuvor die Pariser Existenzialisten. Er hatte ein sympathisches, feines Gesicht. Sie wiederum entsprach genau dem Bild, das man nach ihrer Erklärung erwarten konnte. Sie war groß, sehr schlank und ausnehmend feminin, mit kastanienbraunem Haar und haselnussbraunen Augen, selbstsicher und schlicht, aber perfekt gekleidet. Ich war von beiden hingerissen, vor allem aber von ihr, weil sie nicht nur schön war, sondern auch perfekt Englisch sprach, mit britischem Akzent.

Ihre Wohnung war klein. Sie platzte aus allen Nähten vor Büchern und persönlichen Gegenständen. An den Wänden hingen viele Gedichte, signierte Zeichnungen und Gemälde. Der kleine Raum, in dem wir saßen, war Schlafzimmer, Esszimmer und Wohnzimmer zugleich, und nebenan gab es noch eine kleine Küche. Sie entschuldigten sich, dass sie mich nicht bei sich aufnehmen konnten, versprachen aber, mir bei der Suche nach einem Zimmer zu helfen. Die Gastgeberin bot mir Kaffee an, und während wir ihn tranken, erzählte ich ihr, wie ich ihren Freund in Paris kennengelernt hatte. Sie übersetzte, was ich sagte, für ihren Mann ins Holländische, und umgekehrt, wenn ihr Mann mir etwas sagen wollte.

‹Der Nächste auf der Liste ist ein Maler›, erklärte sie. ‹Sein Bruder war ein sehr erfolgreicher Dichter, der im Krieg umgekommen ist. Er wohnt nicht weit von uns. Vielleicht kannst du ein paar Tage bei ihm unterkommen.› Sie lächelte, ein we­­nig neugierig, fand ich, und setzte hinzu: ‹Er ist sehr nett, und seine Freundin wird dir auch gefallen! Bei den anderen wirst du nicht viel Glück haben, aber ganz bestimmt werden sie alles tun, um dir zu helfen.› Nachdem wir unseren Kaffee getrunken hatten, schlug sie vor, zum Leidseplein zu gehen, dort gäbe es ein Café, das sie oft aufsuchten. ‹Sie müssten jetzt alle dort sein›, erklärte sie.

Und so gingen wir zu dem Café. Es erinnerte mich ein biss­chen an Paris. Alles war dunkelbraun und etwas schmud­delig, die Atmosphäre verraucht, laut und sehr familiär. Es gab eine Menge langhaariger Männer mit Bärten und dicken Wollpullovern. Man unterhielt sich locker; viele der jungen Leute, die dort saßen, hatten nichts zu trinken bestellt. Nach und nach lernte ich einen nach dem anderen kennen. Sie standen alle auf meiner Liste. Allerdings fand ich es sehr unangenehm, dass wir uns nicht unterhalten konnten. Der junge Maler, bei dem ich unterkommen sollte, war mir sofort sympathisch. Zum Glück sprach er ein bisschen Französisch, so­dass wir uns einigermaßen verständigen konnten. Er erklärte sich bereit, mich für ein paar Tage bei sich aufzunehmen, bis ich etwas gefunden hätte. Ich war sehr froh über mein Glück. Nach dem Café ging ich sofort ins Hotel zurück, holte mein Gepäck und begab mich auf die Suche nach der Adresse in der Prinsengracht, die er mir gegeben hatte.

Die Wohnung bestand aus zwei mittelgroßen Zimmern und einer winzigen Küche, voll mit schmutzigem Geschirr, Kannen, Kaffeesatz, Teeblättern und Eierschalen. Das vordere Zimmer ging auf die Gracht hinaus und war sehr gemütlich. Es hatte zwei große Fenster, einen runden Tisch und ein sehr niedriges Bett in der Ecke. Rechts und links davon standen Regale voller Bücher. An den Wänden hingen Bilder, es gab einen uralten Kamin, und überall verstreut seltsam anmu­tende Vasen mit Blumen. Das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Tisch, und auf dem Boden lag ein verschlissener ro­­ter Teppich. Ein Strumpf hier und ein Unterrock dort, Haarspangen auf dem Boden und ein Lippenstift auf dem Kaminsims verliehen dem Raum eine verwunschene Atmosphäre und weckten meine Neugier auf die Freundin meines Gastge­bers. Als der Maler sah, wie mein Blick an dem losen Strumpf hängen blieb, der achtlos über die Rückenlehne des Stuhls geworfen war, machte er eine lässige Geste und sagte: ‹C’est Tania. Elle viendra ce soir …›

Obwohl ich froh war, einen Platz gefunden zu haben, wo ich die Nacht verbringen konnte, war ich am nächsten Morgen doch ziemlich unglücklich darüber, ausgerechnet diesen Platz gefunden zu haben. Denn da war mir bereits klar, dass ich in dieser Wohnung nicht lange bleiben konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Der Grund war dieses ‹Tania kommt heute Abend›, das der Maler angekündigt hatte. Genau das tat sie. Sie war um die zwanzig, mit Haar so rot wie die Sonne und einer wunderschönen Figur. Sie war Ballerina und tanzte im Staatstheater. Voller Begeisterung über etwas, was ich nicht verstand, platzte sie ins Zimmer und warf sich ihrem Liebhaber in die Arme. Sie fielen auf das Bett, wälzten sich übereinander und küssten sich ein ums andere Mal, während ich entsetzt dastand und darauf wartete, dass wir einander vorgestellt wurden. Als sich ihre Freude erschöpft hatte, standen sie auf, und er machte uns miteinander bekannt. Auf Hol­ländisch erklärte er ihr, dass ich eine Zeitlang bei ihnen wohnen würde. Sie lächelte bezaubernd, gab mir die Hand und fing an, sich auszuziehen. Am liebsten wäre ich aus dem Fenster gesprungen! Ich war drauf und dran, aber das wäre albern gewesen, fand ich. Also hielt ich die Stellung.

‹Wir gehen aus!›, verkündete der Maler. Das nahm ich zum Anlass, mir jede Menge kaltes Wasser ins Gesicht zu werfen.

Wir kehrten in das Café zurück, in dem ich am frühen Nachmittag schon einmal gewesen war. Dort traf ich den Dichter und seine Frau mit dem kastanienbraunen Haar wieder und auch all ihre anderen Freunde. Wir schüttelten uns die Hand, lächelten und tranken eine Menge holländischen Ge­­never. Dann sagte mein Maler plötzlich: ‹Viens avec moi!› Er packte Tania, die sich gerade leidenschaftlich mit einem unrasierten jungen Mann unterhielt, und wir stürzten hinaus auf die Straße und winkten einem Taxi. Nach ein paar Minu­ten erreichten wir ein lautes Viertel, in dem es vor Menschen wimmelte. Auf beiden Straßenseiten gab es unzählige hell er­­leuchtete Cafés und Nachtclubs. Musik erfüllte die Luft, Samba, Tango, Jazz. Überall sah ich Schwarze, Indonesier und andere Ethnien. Vor jedem Hauseingang drängten sich verführerische Frauen.

Wir stiegen aus dem Taxi und mischten uns unter die Leute. Dann bogen wir in eine Straße an einer Gracht ein. Die Lichter der Häuser auf beiden Straßenseiten spiegelten sich im Wasser. Es war grün und schleimig. Auf unserer Seite der Gracht sah die ganze Straße aus wie ein Einkaufsviertel. Fast jedes Haus hatte eine Ladenfassade im Erdgeschoss. Sie wirkten wie kleine Glaskäfige, etwa zweieinhalb Kubikmeter groß. In jedem Schaufenster saß eine Frau. Manche waren jung, man­che alt. Die meisten hatten blondes Haar und trugen enge, halb durchsichtige, tief ausgeschnittene Blusen ohne BHs und sehr enge kurze Röcke. Sie spannten sich über den Schenkeln der Frauen, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf Stühlen oder Hockern saßen. Manche trugen Schuhe, andere waren barfuß. Die meisten starrten mit ausdruckslo­sen, leeren Gesichtern auf den Boden, ihre Hände oder das schleimige Wasser des Kanals. Eine, sie mochte Mitte dreißig sein, strickte an einem rosa Teil; eine andere, die sehr jung wirkte, nicht mal achtzehn, tat so, als würde sie eine Illustrier­te lesen.

Vor den Schaufenstern drängelten sich Scharen von betrunkenen Männern. Amerikanische Soldaten und Matrosen, weiße und schwarze. Manche schienen Afrikaner zu sein, andere waren ganz offensichtlich Engländer und Franzosen in Uniform. Viele von ihnen sprachen Deutsch oder Holländisch. Sie standen vor den Schaufenstern und begafften die Frauen. Sie lachten und machten Witze, während sie die zur Schau gestellten Körper begutachteten. Gelegentlich klopfte ein Mann ans Fenster oder machte der Frau ein Zeichen, nach draußen zu kommen. Dann verließ sie das Schaufenster, und eine Seitentür öffnete sich. Der Mann trat ein. Ein paar Minu­ten später kam die Frau zurück und nahm ihre vorherige Stel­lung in dem Schaukasten wieder ein.

Während wir durch die Straße liefen, wurde mir allmählich übel. Zugleich faszinierte mich, was ich sah. Ich war verwirrt, weil ich nicht sagen konnte, ob mir das Verlangen, ein Schuldbewusstsein oder die Obszönität der Szene auf den Magen schlug. Ich drückte den Arm des Malers. ‹Lass uns gehen!›, sagte ich auf Englisch, aber offenbar verstand er meinen Gesichtsausdruck.

Wir bogen in eine andere Straße ein. Dort gab es noch mehr Cafés voller Menschen. ‹Hier drüben›, sagte er. Wir betraten einen Nachtclub. Eine schwarze Band stand auf der Bühne. Der Bandleader spielte Trompete und versuchte, Louis Armstrong nachzuahmen. Auf der Tanzfläche tummelten sich die Paare. An den Tischen und der Bar saßen alle möglichen Leute. Die Atmosphäre war in rotes, verrauchtes Licht getaucht. Es war sehr heiß, und wir hatten Mühe, einen freien Tisch zu finden. Doch dann stand neben uns ein Pärchen auf und ging, und wir übernahmen ihre Plätze. Während wir auf die Drinks warteten, die wir bestellt hatten, wiegte sich Tania aufreizend zum Rhythmus der Musik. Ich versuchte, sie nicht anzusehen. Der Maler tanzte nicht.

‹Tanz mit Tania›, drängte er.

‹Es ist zu voll›, erklärte ich und sah Tania entschuldigend an. Sie hatte ‹Tanz mit Tania›, nicht aber meine Ausrede verstanden. Deshalb interpretierte sie meinen Blick als Aufforderung und stand auf. Widerstrebend tanzte ich mit Tania.

Sie war rund und weich und trug ein elegantes rotes Kleid mit nichts darunter. Die Tanzfläche war so überfüllt, dass wir dicht aneinandergepresst wurden. Ich versuchte, ihren Körper auf Abstand zu halten, doch es war aussichtslos. Ihr Arm legte sich um meinen Hals, und meiner umschlang unwillkürlich ihre Taille. Ich versuchte, mich von dem Maler wegzu­bewegen, doch der Raum war so voll, dass es unmöglich war. Und so wanden wir uns auf engstem Raum wie nackte Würmer in einem heißen Eimer.

Ich erinnerte mich an die wilde, leidenschaftliche Tania, die ich am Abend in ihrer Wohnung kennengelernt hatte. Ich sah die Frauen mit den übereinandergeschlagenen Beinen in den Schaufenstern an der Gracht. Ich schwitzte. Benebelt schwankte ich von einer Seite auf die andere, als die Band ein langsames Stück spielte. Gelegentlich warf ich dem Maler einen Blick zu und lächelte. Er erwiderte mein Lächeln mit einem seltsamen, belustigten Ausdruck. Tania verlor sich in der Wärme, in der Hitze der Musik und in meinen Armen …

Wir kehrten sehr spät nach Hause zurück. Kaum hatten wir die Wohnung betreten, riss Tania sich die Kleider vom Leib. Ich murmelte heiser Gute Nacht und verzog mich hastig in das Zimmer nebenan. Ich versuchte, die Schiebetür zu schließen, aber sie klemmte. Dann zog ich mich in der dunkelsten Ecke aus, legte mich auf die Couch und betete darum, schnell einzuschlafen.

Kurz darauf erlosch das Licht im anderen Zimmer, und der Albtraum begann. Die Geräusche des Liebespaars hallten durch die Dunkelheit. Sie verhielten sich so, als wären sie ganz allein auf der Welt. Mir kam es vor, als kristallisierte sich mit jedem Stöhnen, das aus dem Nebenzimmer kam, die ganze Leidenschaft der Welt und tanzte im Dunkeln nackt vor meinen Augen. Das lebendige Ungeheuer lachte und machte sich lustig über mich. Es teilte sich in unzählige Variationen auf, sodass mir der Schweiß unter den Achseln ausbrach und auch mein Gesicht von Schweiß überströmt war. Bis zum Morgengrauen machte es mit seinen glühenden Zangen jeden Versuch zu schlafen zunichte.

Als sich das erste rosige Licht durchs Fenster stahl, zog ich mich hastig an und verließ auf Zehenspitzen die Wohnung. Ich wanderte an den Grachten entlang, bis ich nicht mehr konnte. Dann setzte ich mich auf die Stufen einer Metzgerei und sah erschöpft und neidisch zu, wie die Stadt langsam aus dem Schlaf erwachte. Als ich wieder in die Wohnung zurückkam, war Tania zur Arbeit gegangen, und der Maler schlief noch. Ohne mich auszuziehen, fiel ich voll bekleidet auf die Couch und schlief tief bis in den späten Nachmittag.

Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, tagsüber in der Wohnung zu schlafen und nachts durch die Straßen zu ir­­ren. Es erübrigt sich zu sagen, dass ich mir alle Mühe gab, ein Zimmer zu finden. Meine Suche führte mich auch zu anderen Mitgliedern der kleinen Künstlergruppe, für die mein Bekannter in Paris mir das Empfehlungsschreiben mitgegeben hatte.

Eines Tages landete ich bei einer schönen jungen Frau, deren Mann nicht da war. Sie war Dichterin, und er – wie alle behaupteten – ein großartiger Schriftsteller. Er war nach England gegangen, um Englisch zu lernen, damit er auf Englisch schreiben, ein größeres Publikum erreichen und so der Zensur der Kirche entgehen konnte, die seiner Ansicht nach die künstlerische Kreativität in Holland behinderte. Seine Frau war erst drei- oder vierundzwanzig, wirkte aber vollkommen erwachsen, selbstsicher und kontrolliert. Sie war sehr feminin, klein, mit einer Fülle von weichem braunem Haar. Ihre Augen waren groß, ruhig und blau. Sie zu betrachten war wie vom Gipfel eines Hügels zu einem klaren Himmel emporzuschauen oder Musik zu hören. Nachdem ich ihr meine Geschichte erzählt und mein Empfehlungsschreiben gezeigt hatte, sagte sie, es tue ihr leid, dass sie kein Zimmer für mich hätte, aber sie wolle mir bei der Suche helfen. Kurz darauf klingelte es unten an der Tür, und ich hatte einen Augenblick Zeit, mich umzusehen.

Ich saß in einem großen sonnendurchfluteten Zimmer mit einer relativ niedrigen Decke, die von schweren Eichenbalken getragen wurde. Sie waren sorgfältig lackiert und gehörten zum Dekor. An der Wand stand ein bequemes Sofa, auf dem eine fein gewebte Decke lag. Sie schien sehr alt zu sein. An den Wänden hingen gerahmte Gedichte und Bilder. An der Wand gegenüber der Tür stand eine altmodische Vitrine mit Glastüren. Sie war überfüllt mit allen möglichen Bü­chern, vergilbten Zeitungen und Papieren, die wie Ma­nuskripte aussahen. Durch ein Fenster gegenüber dem Sofa strich eine leichte Brise ins Zimmer. Die Fensterläden standen offen.

Mit einem Mal sprang ein riesiger, wild aussehender hellbrauner Kater auf die Fensterbank und von da auf den großen runden Tisch in der Mitte des Raums. Er hob träge den Kopf, sah mich gleichgültig an und machte dann einen lässigen Satz auf den Sessel seiner Herrin, wo er sich zusammenkauerte. In dieser Stellung starrte er auf einen glühenden Sonnenbalken, der den blankpolierten Boden versengte.

Dann kehrte meine Gastgeberin mit mehreren jungen Männern zurück. Ich hatte sie schon einmal gesehen, im Café am Leidseplein. Wir begrüßten uns, und ich war froh, dass alle ein bisschen Englisch sprachen. Als sie erzählte, dass ihr Mann in England war und weshalb, äußerte ich Mitgefühl, weil er die Mühe auf sich nehmen musste, in einer fremden Sprache schreiben zu lernen.

‹Wir – sind daran gewöhnt›, entgegnete sie.

Verdutzt sah ich sie an. ‹Das verstehe ich nicht.›

‹Wir sind nun einmal anders, und deswegen hassen sie uns.›

Jetzt war ich noch verdutzter. Wen meint sie mit wir, fragte ich mich. Wäre sie schwarz gewesen, hätte ich schneller verstanden. Während des Schweigens, das folgte, dachte ich kurz über dieses Rätsel nach. Ich versuchte, mich an alles zu er­innern, was ich erlebt hatte, seit ich nach Holland gekommen war, um herauszufinden, worauf sie anspielte. Ihre Freun­de waren ausnahmslos sehr nett zu mir gewesen. Und jetzt kam es mir vor, als stünden sie sich alle sehr nahe.

‹Schade, dass das junge Paar, das ich in Paris kennengelernt habe, nicht hier ist. Ich hätte mich gern mit ihnen ange­freundet›, sagte ich.

‹Familienprobleme›, sagte einer der jungen Männer lächelnd. Er war schäbig gekleidet und sonst eher mürrisch. Auf seine Bemerkung hin wechselten die anderen vielsagende Blicke.

‹Wie gefällt dir Holland?›, fragte der ältere, anprechendere junge Mann. Er trug eine Brille und sah aus wie ein ernster Philosophiestudent. Später erfuhr ich, dass er Professor für alte Sprachen an der Universität war und sein mürrischer Be­­gleiter Bildhauer. Der dritte im Bund wirkte weder jung noch alt. Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen still und aufrecht auf seinem Stuhl und sagte kein Wort.