Kitabı oku: «Faulfleisch», sayfa 3
Tim, der Nachbar und Hübi
Einen Abend später rief Liam Tim an. Zum einen musste er ihm erzählen, dass es mit Sandra nicht stimmig war, zum anderen brauchte er seinen Rat. Sandra und er hatten sich darauf verständigt, es irgendwann später miteinander versuchen zu wollen. Nicht nur wegen der Kinder, sondern weil sie sich liebten. Jetzt wollten sie getrennt leben. Sandra ging es damit tatsächlich besser, ihm dafür deutlich schlechter. Sandra zog in Hamburg bei Maui, ihrer Freundin, ein und er kam nicht mit dieser unerträglichen Stille in seinem Leben klar.
Der Fernseher warf stumm Bilder in das große Wohnzimmer, Jack schlief oben und Liam lag mit dem Telefon auf seinem Lieblingssofa und sah nach draußen. Draußen war es stockduster und klirrend kalt. Tim war da und bekifft. Liam vermutete, dass Tim aus seiner Küche telefonierte, im Hintergrund hörte er das Radio. Das Thema Beziehung hatten sie nach kurzer Zeit hinter sich gelassen und Liam erzählte seinem Freund von dem abenteuerlichen Spaziergang und dem nackten, gefesselten Mann mit dem Gummiball im Mund.
»Oder? Was meinst du? Vielleicht wollte der das gar nicht und wurde da misshandelt oder Schlimmeres«, nagten die Zweifel in Liam. Tim ließ sich Zeit.
»Nee. Kann ich mir nicht vorstellen. Mit so ’nem Ball im Mund, Ketten und Leder … nee, glaube ich nicht. Der wollte das bestimmt auch so, aber dann is’ klar. Kann man ja nie wissen, wie weit man da gehen kann. Da haben sich ja auch schon welche gegenseitig zu Tode gefoltert. Ich kann mir vorstellen, dass Lust gepaart mit Schmerz grenzüberschreitend ist, weil es an sich konträre, extreme Gefühle sind. Die in einem situativen Einklang, das ist bestimmt hemmungslos. Und was meinte er? Urlaub? Klar, die nehmen sich dann viel Zeit für ihre Spielchen. Aber weißt du denn wer das ist? War ja wohl bestimmt kein Bauer, oder?«, wollte Tim wissen.
»Keine Ahnung, wer das ist.«
»Wie? Du hast dich noch nicht umgehört, wer das ist oder will niemand im Dorf etwas sagen?«, hakte Tim nach.
»Nein, ich habe niemanden gefragt. Warum auch? Ich will erst mal wissen, ob es so was gibt, weißt du. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher bei der Sache. Wenn die da so ihre Spielchen treiben, dann muss ich mich da auch nicht einmischen. Das geht mich nix an«, verteidigte sich Liam.
»Ich weiß, was du meinst, Li, aber nur mal so. Jack geht dort in den Kindergarten, Lina wohl auch bald. Dann gehen sie zur Schule und spielen in diesem Dorf auch rum. Alleine deswegen würde ich wissen wollen, wie durchgeknallt der Typ da ist. Ich glaube nicht, dass der da jemanden vergewaltigt hat, aber ich würde allein zu meiner eigenen Sicherheit wissen wollen, ob es auch stimmt, was ich glaube. Weißt du, was ich meine, Li?«
»Ja.« Liam musste nachdenken.
»Li? Bist du noch dran?«
»Ja, Tim. Danke, ich muss jetzt auflegen, ja? Ich komm’ bald mal rum, Jack vermisst euch schon und Lina ist riesig geworden. Bis dann.« Liam legte auf und starrte nach draußen. Er würde sich umhören müssen. Vielleicht sollte er den Hof von der Straße aus aufsuchen. Er erinnerte sich an den gefesselten Mann und erschrak. Der Nachbarskater war auf den Fenstersims gesprungen und starrte ihn mit großen Augen an. Im Maul hatte er Fell und Fleisch. Er legte seine Beute auf den Fenstersims und verzehrte sie. Liam beobachtete ihn.
Am nächsten Tag fing er seinen Nachbarn ab. Markus war der älteste Sohn des Bürgermeisters und wohnte mit seiner Freundin Melanie neben ihm. Er war Zimmermann und viel unterwegs. Liam griff sich den Müllsack und ging raus, als er Markus’ Bus die Auffahrt hinauffahren sah.
»Hallo Markus«, grüßte er. Markus nickte nur kurz. Mit dem Müllsack in der Hand ging Liam auf ihn zu.
»Sag mal, ich hab’ vorgestern ein wenig die Gegend erkundet und bin an der alten Holzbrücke, dort wo der Weg dann auch endet, diese Wiese da weitergegangen.« Liam fuchtelte unbeholfen mit der freien Hand herum. Markus nickte.
»Dahinter kommt dann irgendwann ein Haus. Nach der Wiese meine ich. Kann man da eigentlich lang gehen?«, fragte Liam.
»Das ist der alte Hof vom König. Aber der ist schon tot. Ein paar Jahre wohl schon. Da wohnen sonst noch die alten Schröters im Moor, aber das war es dann auch schon.«
Liam nickte.
»Danke. Dann kann man da ja hin, wenn da niemand mehr lebt.« Liam log und fühlte sich unwohl. Warum hatte er nicht direkt gefragt? Er wollte umdrehen.
»Nein, warte, da ist doch einer eingezogen. Der hat das sogar gekauft. Ein Anwalt, glaube ich, oder ein Arzt. Dirk meinte letztens, dass er da zwei Schäferhunde gesehen hatte, also würde ich da eher aufpassen, wenn du mit deinen Lütten da unterwegs bist. Ein Weg führte dort früher mal hin, als der König noch Vieh hatte. Als er alt wurde und seine Kinder in die Stadt zogen, da kümmerte sich niemand mehr um den Weg.« Markus nickte zur Bestätigung, dass er nichts mehr zu sagen hatte. Liam nickte auch, brachte den Müll weg und legte sich wieder auf sein Sofa.
Am nächsten Vormittag kaufte er sich eine warme Skijacke. Später fuhr er mit dem Rad den Wanderweg bis zur Wanderkarte und zeichnete sie ab. Mittags telefonierte er mit Sandra. Jack hatte sich erkältet, Lina ging es soweit gut, Sandra würde übermorgen raus kommen. Liam registrierte, dass er abgelenkt war. Er vergaß dadurch die bedrückende Stille. Allerdings kam er dadurch nicht zum Arbeiten und einen Auftrag schob er Deadline um Deadline auf. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Auftrag platzte. Letztlich gingen ihm der nackte, gefesselte Mann und das Verhalten des anderen nicht aus dem Kopf. Er hatte das Gefühl, der andere Mann hatte etwas zu verbergen gehabt. Da aber sein Gefühl nur auf Sand gebaut war, konnte er nichts Konkretes unternehmen. Die Polizei einschalten? Lächerlich. Über das Internet herausfinden, wer der Käufer des alten Könighofes war, um dann zu recherchieren? Das hatte er halbherzig unternommen. Allerdings ohne Ergebnis aus Bequemlichkeit wieder eingestellt.
Heute Nachmittag wollte er sich dem Gehöft von der Straßenseite aus nähern. Bis dahin wartete er in der Stille.
Er stieg ins Auto und fuhr den gesperrten Naturwanderweg durch das Moor über die Steinbrücke und bog dann nicht auf den Feldweg zur B432 ab, sondern nach rechts Richtung Wilstedt. Das konnte er der Karte entnehmen, aber er konnte es nicht mit seinem Orientierungssinn in Einklang bringen. Dort sollte Wilstedt liegen? Nach einigen hundert Metern erreichte er eine kleine Einbuchtung und parkte seinen Wagen. Es war kalt und feucht. Der Geruch von Schnee lag in der Luft, aber auf den Bäumen war das Eis weggetaut und diese Art von Kälte kroch ihm schnell in die Glieder. Er sah auf dem Handy nach der Uhrzeit und stellte fest, dass es in einer Stunde dunkel werden würde. Er überlegte, ob er eine Taschenlampe mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen.
Er ging die asphaltierte Straße Richtung Wilstedt. Links und rechts der Straße standen gestutzte Weiden, deren Triebe an den Einschnitten gerade nach oben sprossen. Blattlos sahen einige von ihnen aus wie belebte, grimmige Wächter, die die Felder hinter sich verteidigen mussten. Acker, Knick, Acker, Knick, reihte es sich in jede Richtung des Horizonts auf. An der westlichen Seite des Moores war er an drei Häusern vorbei gekommen und er fragte sich, wie die Menschen mitten im Nichts leben würden. Hatten sie Kinder? Erzählten sie ihnen Gute-Nacht-Geschichten von Moorgeistern und Irrlichtern?
Würde er ins Auto steigen und zurückfahren, würde er auf eine große Straße kommen, die direkt nach Hamburg führte. Und keine dreißig Kilometer Luftlinie von Hamburg entfernt, fühlte er sich mehrere Jahrzehnte zurückversetzt.
Die Straße beschrieb einen rechten Winkel und dahinter sah er den alten Königshof auf der rechten Seite der Straße und ein ebenfalls rotgeklinkertes Einfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Seite. Das musste das Haus der Schröters sein. Den Königshof konnte er nicht gut erkennen, da vor dem Wohnhaus auf einer Wiese verwilderte Apfel- und Birnenbäume standen, die ihm die Sicht nahmen. Die Schröters hatten eine Vorliebe für weiße Gardinen vor den Fenstern. Der Garten war spärlich bewachsen und akkurat gepflegt. Kein Laub lag auf dem Rasenstück und kein Unkraut verunzierte die beiden braunen Mutterbodenstreifen, die den Steinweg bis zur Tür flankierten. Ein paar Schritte später konnte er auf die Hofeinfahrt des Königshofes sehen.
Er blieb stehen, reckte und dehnte sich so, wie er sich typische Spaziergänger sich reckend und dehnend vorstellte. Der dunkelblaue Volvo stand auf dem Hof. Kein Pan und kein Apollon. Und auch kein Stöhnen. Der Garten und die Wirtschaftsgebäude neben dem Kuhstall waren verwildert. Der Hof war vor dem Wohngebäude bepflastert, aber durch einige Steine hatte sich das Unkraut durchgekämpft und die Steine herausgehoben.
Liam war unschlüssig. Was genau wollte er hier? Oder was erwartete er, hier anzutreffen? Er dehnte sich ein letztes Mal, drehte sich um und ihm stockte der Atem. An einem Fenster des Wohngebäudes hatte er eine Hand gesehen. Sie hatte sich an die Scheibe gepresst und war hinter der Gardine verschwunden. An der Hand hatte Blut geklebt! Glaubte er zumindest. Genau hatte er es nicht erkennen können. Sofort stellte er das vermeintlich Gesehene in Frage, bis es ihm lächerlich schien. Sein Herz pochte. Er spähte zu dem Fenster und versuchte, Blutspuren zu erkennen, aber die untergehende Sonne reflektierte das Licht zu stark und tauchte die Scheibe in gleißendes Orange. Er ging in die Hocke, um besser sehen zu können. Die Scheibe war beschlagen, vielleicht sogar beschmiert. Am einfachsten wäre es, wenn er dorthin gehen würde, aber er traute sich nicht. Er neigte den Kopf zur Seite und fühlte sich in seiner Wahrnehmung bestätigt. Schmierig. Aber ob es Blut war, konnte er nicht sicher sagen. Vielleicht hatte auch das Licht seiner Wahrnehmung einen Streich gespielt. Aber es war eine Hand gewesen.
Er beugte sich noch tiefer, sodass er fast schon auf der Straße lag. Etwas trat ihn in die Sohle. Erschrocken schoss er in die Höhe und holte zum Schlag aus.
»So sieht Sport aber nich’ aus, Kumpel, doh. Was machste denn da?«. Vor ihm stand Clemens Vater. Zum ersten Mal humorlos. Und hinter ihm stand Clemens und beobachtete ihn neugierig an den Beinen seines Vaters vorbei. Liam wurde durch das schnelle Hochkommen schwindelig. Er rieb sich mit der linken Hand die Schläfe und taumelte leicht. »Ich gehe hier häufiger Spazieren und dann habe ich eine Hand gesehen. Dort und …«, er riss sich zusammen, das Schwindelgefühl ließ nach. Er suchte Blickkontakt zu Hübi. »Ja, und dann war ich mir nicht mehr sicher. Ich wusste gar nicht, dass da jemand wohnt«, deutete er auf das Haus.
»Mmh, ja. War lange der Hof vom König. Bis dann so ’n Snob aus der Stadt das Ganze hier gekauft hat.« Hübi sprach lauter als sonst.
»Der Herr Gerichtsmediziner hat sich hier niedergelassen. Und weil der Herr Gerichtsmediziner Schiss hat, hier alleine, hat er sich zwei Schäferhunde geholt.« Hübi hatte den Kopf zum Königshof gewendet. Dem Hausbesitzer galt das Gesagte. Liam nickte.
»Du stehst nicht so auf Zugezogene, was?«, wollte Liam wissen. Hübi packte ihn an der Jacke und zog ihn zu sich ran.
»Das stimmt überhaupt nich, aber weissu was? Solche Gesellen wie den da, ne, immer in der Klinik, dann wieder hier und so ’n Gejammer hören, komische Freunde und sowas, ne. Das is’ verdächtig, weissu. Das is ’n Stubenhocker!« Hübi spuckte aus und schob Liam sanft wieder von sich.
»Aber du«, er klopfte ihm auf die Schulter und reckte anerkennend den Kopf nach oben »bist ja gar keiner, sondern bist ja auch hier draußen unterwegs, ne.« Er näherte sich Liam drohend.
»Oder wolltest du etwa deinen Freund, die Ärzteschwuchtel besuchen?« Hübi schaute Liam an und Liam streckte sich.
»Sag mal, spinnst du! Du kannst mich doch nicht einfach so …« Liam fehlten die Worte, er drehte sich weg und ging.
»Na also, bist also kein Stubenhocker wie unser Herr Gerichtsmediziner hier!«, rief ihm Hübi hinterher. »Kein so ’n Schwanzlutscher!«
Liam konnte sich nun das schüchterne Wesen von Clemens erklären, den verträumten Blick, das Weggucken, wenn er gefragt wurde. Wahrscheinlich waren das alles Tischregeln bei Clemens und Hübi im Haus, die Mutter hatte er noch nicht kennen lernen dürfen.
Am Auto warf er seine Skijacke in den Kofferraum, setzte sich mit einem Seufzer auf den Fahrersitz und atmete durch. Hübis Erscheinen hatte ihn vom Wesentlichen abgelenkt, der blutigen Hand am Fenster. Zweifel regten sich in ihm. Wenn er sich bei der Polizei meldete und denen den Sachverhalt erklären wollte und sich nichts bewahrheitete, erwarb er sich den Ruf eines kranken Spinners im Dorf. Irgendwer kannte bestimmt Wachmeister Meier aus der Großgemeinde in Henstedt-Ulzburg. Und haben Sie schon gehört? Der da beim Bürgermeister wohnt, sieht überall blutige Hände an den Fenstern und nackte Männer mit einem roten Gummiball durch das Moor laufen. Kein Wunder, dass sein Sohn nur schwarze Bilder malt, wie ich gehört habe.
Ja, das wäre ein guter Start.
Er ließ den Motor an und sah Hübi und Clemens mit dem Fahrrad angeradelt kommen. An Hübis Seite lief ein großer, zotteliger, brauner Hund, der zu Hübi passte. Hübi beachtete Liam nicht und auch Liam ignorierte Hübi mit aller ihm zueigen stehenden Arroganz.
Zuhause stand er mit einer Tasse heißem Pflaumen-Vanille-Tee in der Hand an der Terrassentür und beobachtete die untergehende Sonne hinter dem kleinen Wald in seinem Garten. Es mehrten sich die Zweifel am Gesehenen und er glaubte, sich etwas eingebildet zu haben, aber ein Rest Unsicherheit blieb. Eine Hand, die sich abstützte und dabei die Gardine kurz zur Seite riss. Ein Ruck, sie schmierte blutend an der Scheibe entlang und verschwand wieder hinter dem Fenster. In der Dunkelheit sah Liam häufiger in aufgehängten Mänteln und Jacken lauernde Gestalten in seiner Wohnung, jedoch folgte die Einsicht immer unmittelbar und ließ ihn erleichtert zurück. Er nippte an der Tasse und der Tee schmeckte ihm nicht mild genug. In der Küche goss er etwas Milch nach und rührte Honig hinein. Das Umrühren durchschnitt die Stille, denn es machte ihn auf sie aufmerksam. Nachdenklich nahm er wieder seinen Platz mit Sicht auf den Garten ein und die Sonne war in der kurzen Zeit so tief gesunken, dass das Wäldchen zu einem dunklen Ort mit lichten Flecken geworden war und er erinnerte sich an ein psychedelisches Stück von Pink Floyd auf der Ummagumma.
Jack glaubte, dass Kobolde in dem Wald wohnen würden und für Jack musste der Wald riesengroß erscheinen, mit einer Unzahl an kleinen Verstecken und der großen Gefahr, sich darin zu verlaufen. Letztlich waren es nur zweiundzwanzig Fichten, die dort standen, aber auch Liam konnte sich gut Kobolde in dem Wald vorstellen.
Geschmeidig schälte sich eine Katze aus dem Schatten des Waldes und pirschte über den Rasen. Offenbar hatte Nachbars Kater einen geregelten Tagesablauf, denn wieder trug er seine Beute im Maul zur Veranda, legte sie dort ab, setzte sich und blickte gelangweilt umher. Liam konnte nicht erkennen, was für ein Tier das erbeutete Knäuel war, er schätzte, ein Vogel. Der Kater nahm sein Abendessen ins Maul, und nach einigen Schritten sprang er auf den Fenstersims vor Liams Wohnzimmerfenster. In aller Ruhe fraß er unter Liams Blicken.
›Was, wenn es ein Tier war?‹, fragte sich Liam. ›Und keine blutige Hand.‹ Vielleicht hatte der Herr Gerichtsmediziner ebenfalls eine Katze oder einen Kater. Und vielleicht schleppten die ihre Beute ins Haus und verputzten sie dort auf dem Fenstersims. Liam merkte, wie sich die galoppierende Unruhe in seinem Kopf beruhigte und zum ersten Mal empfand er etwas, wie eine stille Verbundenheit zu dem Kater auf seinem Fenstersims.
Er wachte im Schlafzimmer auf und hatte ein unbehagliches Gefühl. Es musste immer noch Nacht sein, verriet ihm die Dunkelheit und durch die geöffneten Fenster hörte er, dass es stürmisch geworden war. Die Bäume im Wald rauschten. Er war beunruhigt und richtete seine Aufmerksamkeit nach innen, ob er etwas Unangenehmes geträumt hatte. Er konnte sich an nichts erinnern.
Draußen quietschte ein Scharnier und etwas Schweres polterte. Sein Herz raste, er konnte das Geräusch nicht einordnen und ehe er sich beruhigen konnte, wiederholte es sich. Aus Angst aber auch aus Bequemlichkeit fiel er in eine Schockstarre und sein erster Impuls war, einfach liegen zu bleiben. Doch er raffte sich auf, um ins Wohnzimmer zu laufen.
Seine Vormieter waren Gartenfanatiker gewesen und dementsprechend hatten sie eine komplette Beleuchtungsanlage um die Veranda und den Schuppen installiert. Mit einem Knopfdruck war alles hell, zumindest bis zur halben Rasenfläche. Er konnte nicht erkennen, was das Geräusch verursachte. Schemenhaft sah er, wie sich die Fichten und Baumkronen der Laubbäume im Sturm bogen.
Erneut polterte es und es schien direkt von der Außenwand zur Einfahrt zu kommen. Es was das Holztor zur Auffahrt. Er hatte es nicht richtig eingehakt. Anstatt nur in Unterhose bei der Kälte rauszulaufen, besann er sich und zog sich seinen Jogginganzug über und blieb stehen.
Etwas war über den Rasen gehuscht. Sehr schnell und unförmig. Ihn verließ der Ehrgeiz, das Poltern abzustellen, stattdessen wünschte er sich, er wäre im Bett liegen geblieben. Er wollte nicht mehr wissen, was da lang huschte. Er kam sich bei der hellen Wohnzimmerbeleuchtung beobachtet vor. Mit angehaltenem Atem tastete er, den Rasen beobachtend, nach dem Lichtschalter. Es wurde dunkel. Ein Schatten sprang an die Wohnzimmerscheibe und Liam schrie auf. Es war der Mistkater der Nachbarn. In seinem Maul hielt er den abgetrennten Stumpf einer blutigen Hand, die an der Fensterscheibe Blut verschmierte.
Liam schrie auf …
Und nahm ein gelegentliches Poltern wahr. Draußen stürmte es, hörte er durch das geöffnete Fenster. Auch seinen Herzschlag konnte er in seinem Kopf hören. Bevor er das verdammte Holztor schließen wollte, ging er ins Bad und spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht, um sicher zu stellen, dass er nicht wieder träumte. Die restliche Nacht verbrachte er unruhig.
Hund auf zwei Beinen und Frau Schäfer, die Vogelfrau
Seit zwei Stunden saß er vor seinem Bildschirm, der dritte Kaffee des Tages stand dampfend vor ihm und er war so wenig produktiv, wie schon lange nicht mehr. Seit zwei Stunden sprang ihn das in Arial auf Schriftgröße 14 und fett geschriebene Wort »Ideen« auf einem leeren Word-Dokument an. Was war bloß los mit ihm? Sicher, er hatte schlecht geträumt und kaum geschlafen, aber das war kein Grund für eine Arbeitsverweigerung. Um in Fahrt zu kommen, steuerte er eine CD von System of a Down an, drehte lauter und starrte aus dem Fenster.
Heute Abend würde Sandra kommen und ihm Jack für drei Tage da lassen. Sandra musste beruflich nach Köln und Lina würde bei ihren Eltern bleiben. Warum eigentlich? Er hätte sich gegen ihren Vorschlag wehren können. Wenn sie so weiter lebten, würde er wenig von Lina mitbekommen. Er schaute sich ihr Familienfoto auf seinem Schreibtisch an. So hatte Lina vor drei Monaten ausgesehen. Mittlerweile hatte sie sich bestimmt weiter entwickelt, und er nahm nicht daran teil. Auf Jack freute er sich. Traute er sich Lina zu? Sie allein über eine Distanz schon, aber beide über drei Tage? Nein, dennoch fühlte er sich übergangen. Sandra entschied und er fügte sich.
Durch den dritten Kaffee am späten Vormittag und seine aufkeimende Wut, konnte er nicht arbeiten. Er verbat sich weiteren Kaffee und ging spazieren. Die Landschaft hier mochte er sehr und vielleicht bekam er den Kopf frei. Mit seinen neuen Trekkingschuhen fühlte er sich wohl. Ohnehin glaubte er, durch die beiden bisherigen Spaziergänge an ein verbessertes Körpergefühl. Kaum, dass er darüber nachdachte, musste er lachen. So ein Schwachsinn. Vor dem letzten Haus auf der rechten Seite nahm er bewusst wahr, dass der Tag weder regnerisch, neblig oder bitterkalt war. Die Luft war frisch, der blaue Himmel wies einige weiße Wolken auf, und die Sonne sorgte für ein optimistisches Licht. Auf der Straße kam ihm ein älteres Ehepaar entgegen und grüßte freundlich. Liam behielt die Pelzmütze mit Ohrenwärmern des Mannes in Erinnerung und meinte, sie häufiger in Filmen aus den 80ern gesehen zu haben. Auf dem letzten bebauten Grundstück auf der rechten Seite arbeitete ein Mann in seinem Garten und grüßte Liam. Liam konnte den Esel sehen, der einen zufriedenen Eindruck auf ihn machte, ebenso einen Bernhardiner, der hinter dem verschlossenen Gartentor hechelte. Hatte er anfangs von der Lage des Grundstücks geschwärmt, etwas außerhalb aber noch mit Anschluss an das Dorf, wäre es ihm bei all den bisherigen Ereignissen zu unheimlich gewesen.
Sofort hatte er die blutige Hand vor Augen, die sich mehr und mehr in seinen Gedanken zu einer Katze formte. Es tauchten die Fragen auf, die er sich seither stellte. Was hatte Hübi dort zu suchen? Woher wusste er, dass der Mann als Gerichtsmediziner arbeitete? Wie bekam er Antworten, ohne mit Hübi reden zu müssen? An der Gabelung entschied er sich für den Weg zur Steinbrücke. Bisher war er nur mit dem Auto dorthin gefahren, dann wieder umgedreht, da der Weg ab da nur für den landwirtschaftlichen Verkehr freigegeben war und ins Moor führte.
Der Weg führte ihn an mehreren winterlichen Feldern vorbei, aus der Ferne hörte er das gelegentliche Aufheulen einer Motorsäge. Durch die Nähe des Moores erklärte er sich die vielen Tümpel, die vermehrt an den Knickkreuzungen lagen. Dunkel schimmerte das Wasser durch die blattlosen Äste und Sträucher. Auf einer längeren Geraden standen zahlreiche dicke Weidenstümpfe, aus denen Triebe meterhoch in die Höhe sprossen. In den Astlöchern und den morschen Baumstammhöhlen konnte er Dinge für Jack verstecken, wenn sie den Weg gemeinsam erkunden würden.
Eine Joggerin kam ihm entgegen. Ihr Laufstil und ihre zu erahnende Figur machten ihn neugierig. Freundlich aufgeschlossen suchte er ihren Blick, um sie zu grüßen. Er schätzte sie auf Mitte Vierzig. Nicht sein Alter, aber sie war attraktiv. Er stellte sich Sex mit ihr im Freien vor und litt deswegen unter seinem Gewissen. Den nächsten Kilometer bis zu einem Fichtenwald auf der linken Seite verbrachte er damit, gegen eine Erektion und eine Wiederholung der Vorstellung vor seinem geistigen Auge zu kämpfen. Liam wurde wütend, denn er hatte den Weg nach draußen gesucht, um den Kopf frei zu bekommen, stattdessen erwischte ihn ein neues Thema mit aller Heftigkeit. Oder aber ein altes Thema, das erst alles verursacht hatte. Seit mindestens einem Monat waren sie nicht mehr zärtlich zueinander gewesen und vorher, so hatten Sandra und er einmal festgestellt, hatten sie durchschnittlich dreimal Sex in der Woche. Er verdrängte den Gedanken.
Er bewunderte die Urtümlichkeit. Große Fichten mit dicken Stämmen bildeten den Wald. Etliche mittelgroße Bäume verrotteten am Boden oder waren umgeknickt und wurden durch ihre Nachbarn gestützt. Direkt am Weg stand ein Wildfutterhäuschen, in dem angenagte Maiskolben und Möhrenstumpen lagen. Auf der anderen Seite des Weges genoss er einen phantastischen Ausblick auf die Wiesen im Alstertal und dahinterliegend begrüßte ihn ein entlaubter, stark verästelter Wald. Dort begann das Moor. Eine Sitzbank lud zum Verweilen ein und zahlreiche Zigarettenstummel zeugten von Besuch. Zielsicher sah Liam eine aufgerissene Kondomverpackung vor dem Mülleimer. Er lächelte. Am Boden festgefroren und im Sommer oder im warmen Herbst zum Einsatz gekommen und kaum, dass er daran dachte, wallte das Verlangen in ihm auf. Er seufzte entnervt und setzte seinen Weg zur Steinbrücke, die man von hier aus schon sehen konnte, fort.
Ein älteres Paar fuhr auf Fahrrädern an ihm vorbei, man grüßte sich. An der Steinbrücke lehnte Liam sich auf das Geländer und erfreute sich an dem uneingeschränkten Blick über die Alsterebene, das Moor und die kleinen Waldflecken hier und da. Weit am Horizont, flussaufwärts, musste eine Straße oder ein Weg entlangführen, denn ein Auto kreuzte dort seinen Blick. Er grinste. Die Rehherde, bestehend aus fünf Tieren, stand quasi vor seiner Nase auf einer Wiese. Er war ein Stadtmensch, sein Blick noch nicht geschult. Er beobachtete die Rehe, ein allein am Himmel in der Luft stehender Vogel zerteilte die nicht unangenehme Stille mit einem Schrei. Liam atmete tief durch.
Auch, wenn sein erster Spaziergang intensiver, im Geiste eines Pioniers spannender war, entspannte er sich, als einer von anderen vormittäglichen Spaziergängern. Er hatte einen Job, in dem er sich leisten konnte, hier zu sein (ein unangenehmes Druckgefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und er verdrängte den Gedanken schnell) und alle anderen, denen er begegnete, befanden sich in einer ähnlichen Situation. Wahrscheinlich trank das Spaziergängerpaar zu Hause einen Tee und die Joggerin duschte. Er seufzte und unterwarf sich dem Verlangen, indem er sich einfach hinzu vorstellte und sie von hinten nahm. Den Wind und seine Vorstellungen genießend, irritierte ihn etwas, was er in der Ferne sah. Ein Geländer ragte dort kaum sichtbar aus dem welken hochstehenden Gras hervor. Flussaufwärts befand sich eine weitere Brücke. Die Brücke, von der er in den Fluss gepinkelt hatte. Es könnte sein. Wenn dem so war, musste auch das Haus, wo er den Mann mit dem Gummiball im Mund getroffen hatte, zu sehen sein. Er suchte den Horizont ab.
»Wo bist du?«, flüsterte er. Jemand sprang ihn von hinten an, etwas legte sich auf seine Schultern. Zwei Hände, aber es passte nicht. Bevor er reagieren konnte, hörte er ein Hecheln. Er drehte den Kopf und wähnte sich im heißen Atem eines großen Hundes, der sich an ihn lehnte. Die Zunge hing heraus, seine dunklen Augen blickten Liam erwartungsvoll an und der Atem roch nach verdautem Pansen. Das Tier kam ihm bekannt vor. Liam wurde angesichts der Größe des Tieres schlecht und die Nähe zu seinem Hals bereitete ihm Unbehagen.
»Verdammt, wer bist du denn?«, fragte Liam beruhigend und suchte aus den Augenwinkeln nach einem Verantwortlichen für das Viech. Der Hund hechelte warme Pansenluft in Liams Gesicht, hüpfte auf seinen Hinterpfoten näher, um besseren Halt zu gewinnen. Schlammigmodrige Pfoten tasteten auf seiner hellblauen Skijacke umher. Liam verbat sich, aus Wut ungestüm zu reagieren. Den Hundehalter würde er am liebsten wie den falsch parkenden Geländewagenfahrer beißen. Hinter dem Hund sah er am Flussbett eine Bewegung, ein Pfiff erschallte und Hübi trat hinter ihm unter der Brücke hervor auf die Straße. »Komm her, Teufel!«, schrie er dem Hund zu und Teufel ließ ängstlich von Liam ab und schlich zu Hübi. Hübi erwartete Teufel mit einer Leine in der Hand. Er packte den Hund am Halsband, hielt ihn mit der linken Hand fest und drosch mit dem Lederriemen auf Teufel ein. Teufel winselte und wollte sich auf den Rücken drehen.
»Was willst du hier? Verfolgst du mich, oder wie?« Mit Teufel an der Leine kam Hübi drohend auf Liam zu. Liam war sprachlos. ›Ich sollte ihn beißen‹, schoss es Liam durch den Kopf. Aber er stand mit halboffenem Mund da und fühlte sich wie ein Passagier in sich.
»Nein, ich, also ich … hatte nur den Kopf voll und …«
Hübi stand vor ihm und wollte Liam den Schmutz von der Jacke klopfen. Stattdessen rieb er sie durch seine groben Bemühungen stärker ins Textil ein.
»Scheiß Köter, tut mir irgendwie Leid«, gab er umständlich von sich. »Musst du kalt waschen.« Er deutete mit einem Zeigefinger auf Liams Schultern.
Liam war pessimistisch. Die Jacke konnte er wegwerfen. Hübi klopfte ihm ein weiteres Mal auf die Schulter.
»Ist gut jetzt!«, ließ Liam seinem Frust freien Lauf und wich Hübis klopfender Hand zur Seite aus.
»Hey, ganz locker«, brummte Hübi. Liam begriff, dass Hübi auf Konfrontation immer einen Gegenangriff startete. Wahrscheinlich hatte er angesichts seiner Körpergröße und seiner Ausstrahlung damit auch Erfolg. Hübi pumpte sich auf und stand latent drohend vor Liam.
»Schon O.K., wusste gar nicht, dass das euer Hund ist«, beschwichtigte Liam und deutete auf Teufel, der eingeschüchtert hinter Hübi kauerte. Hübi nickte und entspannte sich.
»Na wie auch, gab Ärger im Kindergarten, weil Teufel die Lütten immer umgerannt ist und die Schiss hatten. Macht aber nix, der will nur spielen.«
Liam konnte sich die Ängste der Kinder vorstellen, wenn ein riesiger Hund, sich Urviech gleich mit heraushängender Zunge auf sie stürzte. Teufel traute sich hervor und hechelte.
»Sag mal, was hast du denn da hinten eigentlich letztens gemacht?«, wollte Liam wissen und beobachte Hübi genau, um seine Reaktion abschätzen zu können.
»Ich kauf’ da immer für die Schröters ein, weissu. Die wohnen da ganz allein, und der Alte traut sich nicht mehr, mit dem Auto zu fahren. Manchmal kommen die beiden mit, aber häufig nur sie. Manchmal mach’ ich da auch was im Haus, aber eigentlich wollen die immer alles alleine machen, weissu. Im Sommer hab ich mal ’nen Anruf von ihr bekommen, ob ich mal vorbeikommen kann, sie hat Kuchen gebacken. Und dann bin ich da hin und frag’, wo er denn ist und sie meinte so, im Garten, sie ham Probleme mit dem Brunnen. Und dann hab’ ich mir das mal angeguckt und da ist der Alte sechs Meter mit seinem kaputten Knie in den Brunnenschacht gekrochen und wollte die alte Brunnenpumpe auswechseln. Alter, der ist über Achtzig! Und da kam er nicht hoch. Aber zu stolz für, um Hilfe zu holen, echt!«, berichtete Hübi und nickte dabei dem Alten bewundernd zu.
»Na ja, ich hab’ die dann ausgewechselt und sie hat noch schnell ’nen Kuchen hingekriegt, weissu, die hatte gar keinen, hatte aber Schiss um den Alten, verstehste?«, Hübi erklärte ihm die Sachlage gestikulierend.
»Ja, schon heftig«, bestätigte Liam. »Bist du denn irgendwie verwandt mit denen?«, wollte er wissen.
»Ja, umso paar Ecken, aber ich bin der einzige, der sich um die beiden kümmert, Mann. Und das mach’ ich nur so, verstehst du? Scheiß auf das Haus und das Grundstück, das will eh keiner mehr haben.«