Kitabı oku: «Die alten Götter», sayfa 2

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Erst viel später, Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts, hatten ein paar Haschisch-Dealer im Raum Frankfurt Rödelheim plötzlich aus einer Laune heraus die sprachlichen Eigenarten ihres besten Kunden übernommen und sie zu all ihren anderen Käufern weitergetragen. Mit jedem herumgereichten Joint hatte der alberne Slang sich dann unter sämtlichen Idioten des deutschsprachigen Raums verbreitet, mehr und mehr, bis in den hinterletzten Winkel.

Was das Problem mit dem Gästezimmer aber auch nicht löste.

Während Wotans Miene sich darüber immer weiter zu verfinstern begann, räusperte Mimir ein wenig grünen Schleim aus seinem Halsloch in den Weisheitsbrunnen. So, wie er es immer tat, nach dem Erlangen einer wichtigen Erkenntnis. Angesichts der vorangegangenen Pleiten schien Wotan dies aber alles andere als aufzumuntern.

„Seltsam, seltsam …“, murmelte der Riese davon unbeirrt. „Auch bei den Menschen schimpft und jammert er immer nur rum, wenn er ausrastet, oder?“

„Besser isses!“, grummelte Wotan angriffslustig, weil sie diesen Punkt doch nun wirklich bereits abgehakt hatten.

„Ich meine …“, fuhr Mimir trotzdem fort, „Vielleicht is’ man ja bisschen peaciger drauf als Dauerkiffer – aber, also … wenn er früher ganze Städte plattgemacht hat vor Wut, dann würde es für ne Straße oder n’ Haus doch eigentlich noch reichen. Oder … wenigstens für’n Zimmer …“

„Ja, klar! Is ja auch nich’ dein Gästezimmer!“

„Das meine ich doch gar nicht! Nur – vielleicht hat Jehova gar keine Wahl!“

„Hä?“

„Na, vielleicht kann er das in Wirklichkeit gar nicht. Also das mit dem Plattmachen.“

„Du meinst, er wär so was wie’n Hochstapler? Krass!“ Ehrliches Entsetzen legte sich über Donars Züge.

„Hm“, brummte Mimir erneut. Und diesmal verzichtete Wotan darauf, in der nun entstehenden Stille weitere Rückreisemöglichkeiten auszuloten.

„Phh … ganz ehrlich“, nuschelte der Obergott schließlich, so zaghaft, dass seine Stimme im Plätschern der Weisheitsquelle beinahe unterging, „Jehova selbst hat eigentlich nie gesagt, dasser … Städte plattmacht und so. Das haben immer nur die Menschen …“

„Du … du meinst, die sagen sowas, auch wenn’s gar nich’ stimmt?! Aber das wär doch eine Lüge!“ So fassungslos war der Hammerträger, dass es Wotan die Tränen in die Augen trieb – ob aus Verzweiflung oder doch aus bewunderndem Staunen über die kindliche Unschuld seines Kollegen.

„Vielleicht“, begann Mimir – merklich darum bemüht, des Hammerträgers Weltbild nicht gänzlich zu zerstören – „Vielleicht passt es manchen Menschen einfach … ganz gut in den Kram, wenn andere Menschen Angst haben. Weil … man denen dann leichter Vorschriften machen kann.“

„Jehova wird also“, Wotan fiel es wie eine Schuppe von seinem einen Auge, „Jehova wird also von den Menschen nur benutzt?! Und – und er lässt es die ganze Zeit mit sich machen?!“

„Is’ halt’n Erfolgsmodell, so ne Benutz mich-Nummer! Kurt Kobain, Britney Spears, Michael Jackson, Jehova – alles dieselbe Soße“, ätzte Mimir und Wotan war endgültig baff: „Was’n Weichei!“

„Und ‚Weichei’ is jetzt besser als ‚Spacko’, oder wie?!“, polterte sich Donar verärgert zurück ins Gespräch. „Außerdem is’ man noch lange kein Weichei, nur … nur weil man schwach is’ und sich nich’ wehren kann! Da is’ man höchstens –“ Aufgebracht schnappte der Hammerträger nach Luft und suchte nach einem passenden Wort, ohne es zu finden, „Da is’ man höchstens …“

„Ne arme Sau“, stellte Wotan betreten fest. Und ihm war anzumerken, dass er sich mit einem Mal ein wenig schämte.

„Phh“, schnaufte Mimir abfällig, weil ihm so viel Mitgefühl nun wirklich zu weit ging, „Drei Weltreligionen, Mann! Is halt der Preis des Ruhms. Wer das eine hat, muss das andere mögen!“

„Aber ne Woche heulen, wenn Michael Jackson stirbt!“

„Phh.“

„Nich’, dass Jehova auch so endet.“

„Oder wie Amy Winehouse …“

„Oder wie Rex Gildo!“

„Jetzt reicht’s aber, Allvater! Da is ja Weichei noch besser!“

Doch auch, wenn Wotan sich jetzt noch ein wenig mehr schämte – wegen seiner Frechheit dem armen Jehova gegenüber und noch mehr, weil er ganz offensichtlich tausendsechshundert Jahre lang der miesesten aller Lügen aufgesessen war – dass er mit einem Mal wusste, was er zu tun hatte, erfüllte ihn mit Freude und auch ein wenig mit Stolz.


„Und du glaubst wirklich, das hilft?“

„In allen Ratgebern steht, dass man unnachgiebig sein soll. Einfach durchziehen das Ganze, auch wenn’s schwerfällt.“ Mit grimmiger Miene stopfte Wotan den Bong der Marke „Power Tower“ und Jehovas Gras-Vorräte für die kommende Woche in zwei große, blaue Müllsäcke. Wovon der Wüstengott nichts mitbekam, weil er tief und fest schlief unter seinem Federbett.

Er schlummerte noch immer, als Frija mit einem Ruck beide Vorhänge beiseite zog. Explosionsartig pufften dicke, mehlige Staubwolken links und rechts neben dem dreckstarrenden Fenster aus den Gardinenfalten, mischten sich in der Luft des Gästezimmers mit den Qualmschwaden zu gräulich-weißem Nebel.

Darin eingehüllt Heimdall, göttlicher Wächter der Welten und Virtuose des mächtigen Gjallarhorns, dessen dröhnender Klang die Asen für gewöhnlich vor ungebetenen Eindringen warnte, hoch oben auf der Regenbogenbrücke zwischen Midgard und Asgard.

Heute allerdings stand Heimdall ausnahmsweise mal direkt an Jehovas Kopfende.


Der Flur im dritten Stock des Jobcenters Berlin-Tempelhof-Schöneberg war überfüllt. Wie immer kurz vor Feierabend, obwohl jedes Mal alle so taten, als hätte man das nun wirklich nicht absehen können.

Dass aber Kadir und Christoph Unterhuber, Sachbearbeiter für Arbeitssuchende mit den Anfangsbuchstaben I bis J beziehungsweise N bis O einander durch die offenen Bürotüren wissend zugrinsten, hatte einen anderen Grund.

Kadir und Christoph taten das, weil sie sich liebten. Und weil der Typ vor Kadirs Schreibtisch schon der dritte Irre in dieser Woche war, der behauptete, Gott zu sein.

„Nicht Gott! Ein Gott. Das ist schon ein ziemlicher Unterschied“, merkte nun die weibliche Hälfte des Ehepaares an, das den Irren begleitete. „Ein Wüstengott, genau genommen.“

Kadir nickte langmütig und Christoph unterdrückte ein Grinsen. Denn aus welcher Anstalt auch immer diese drei entlaufen waren, sie schienen wenigstens höflich und zurückhaltend und damit eher ein Spaß als gefährlich zu sein. Und, was „Gott“ anging, sogar ziemlich ansehnlich. Ein schmales, markant geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen, der Körper wohlproportioniert und feingliedrig, die hüftlangen Locken dunkelbraun glänzend. An der rechten Schläfe standen sie allerdings wirr wie ein Ball Zuckerwatte vom Kopf ab, weil der Gestörte sich ständig sein Ohr rieb. „Krasser Penner, ey, sag isch dir, Alter!“, murmelte er dabei in sich hinein.

„Kleines … Lärmtrauma“, erklärte sein männlicher Begleiter. „Ein Onkel von ihm spielt Trompete, wissen Sie.“

Prüfend musterte Christoph Unterhuber Kadirs neuen Klienten. Ganz schön blass war der auf den zweiten Blick, die tiefschwarzen, eigentlich sehr apart mandelförmigen Augen gerötet, seine aufgeworfenen, auffällig wohlgeformten Lippen trocken.

Hoffentlich fängste dir nichts ein von dem, tippte Christoph in seine Tastatur und schickte die Nachricht auf Kadirs Rechner. Wieder ein Grinsen.

„Irgendwelche Nachweise über Ausbildungen, Abschlüsse, weitere Qualifikationen?“

„Fick … Fickationen, ey? Schwul oder was?!“

Kadir Unterhuber war ein freundlicher und auch eigentlich sehr beherrschter Mensch – aber er hatte Grenzen!

„Unser Freund, er meint das nicht so. Wissen Sie, das hat nur was … mit seinem mangelnden Selbstbewusstsein zu tun. Deshalb sind wir ja hier.“

Trotzdem bedeckte Christoph Unterhuber nun seine Ohren mit den Handflächen, obwohl der Schreibtisch seines geliebten Mannes gut sechs Meter entfernt stand.

„JA! ICH – BIN – SCHWUL! WAS DAGEGEN?!“

Das Gemurmel im Gang war schlagartig verstummt. Auch „Gottes“ Begleitung und dem Irren selbst hatte es die Sprache verschlagen. Stille.

Bis Kadir Unterhuber sich ungerührt von seinem Stuhl erhob: „Ich denke“, tröpfelte es beißend wie Säure von seinen geschürzten Lippen, „Ich denke, Sie machen erst einmal einen Kurs für angemessene Ausdrucksweise. Und übrigens.“ Eisig grinsend beugte er sich zu „Gott“ herunter und senkte seine Stimme: „Die, die’s am heftigsten abstreiten, haben immer am meisten zu verbergen. Ich seh’ doch auf tausend Meter, dass Sie ne Schrankschwester sind!“

„Schrank … was?“, stotterten der Irre und sein Kumpel gleichermaßen verwundert.

„Schrankschwester“, wiederholte die Frau und Christoph konnte sehen, dass sie ein Grinsen unterdrückte, „Ein nicht gerade charmantes Wort für …“

„Für einen Homo, der Angst hat zuzugeben, dass er n’ Homo is’ und deshalb so tut, als wäre er die Ober-Hete!“, rief Christoph genüsslich hinüber, so laut, dass alle auf dem Gang sich umdrehten. „Weil er denkt, dass so keiner was mitkriegt.“

„Solche Typen“, ergänzte Kadir voll gespielten Mitleids, „Solche Typen enden ja meist entsetzlich tragisch. Fahren in ihrer Verzweiflung mit dem Auto gegen einen Baum, wie Jörg Haider, oder stürzen sich aus dem Fenster, wie Rex Gildo.“

„ACH DU SCHEISSE!“ Wie vom Blitz getroffen schlug „Gottes“ Begleiter sich an die Stirn „Und ich sach’s noch! Rex Gildo!“

„Rex Dildo, ey? Krass schwule Scheiße, Alter!“

„Nu reicht’s aber! Du springst mir nich’ aus’m Fenster! Hast du gehört?!“

Und während „Gott“ sich nun zur Abwechslung beide Ohren rieb vom Gebrüll seines Freundes, drehte dieser sich mit vorwurfsvoller Miene zu seiner Frau um: „Du hast das die ganze Zeit gewusst, oder?! Seit tausendsechshundert Jahren! Ich meine, du hättest doch wenigstens mal ne Andeutung …!“

Die Miene der Angesprochenen verfinsterte sich.

Immer mehr.

„Darf ich dich daran erinnern, dass ich für meine Allwissenheit ja nun wohl alles andere als etwas kann!”, explodierte sie schließlich. „Wes-halb es ab-so-lut un-fair ist, mir auch nur einen Funken an Verantwortung zuzuschieben, nur weil ich jeden verdammten Scheiß immer vor allen anderen auf mich zukommen sehe! Das allein ist ja wohl schon anstrengend genug! Was du natürlich nicht versteht, weil du ja grundsätzlich immer … ”

Und während die Frau redete und redete und die Schultern ihres nun auffallend hilflos wirkenden Mannes höher und höher in Richtung seiner Ohren wanderten, buffte der Irre seinem Kumpel in die Seite.

„Ey, lassma die Alte und lass ma ein’ Kiffen, ey.“

„Gottes” Begleiter reagierte nicht.

Aber Kadir und Christoph. Wissend grinsten sie einander zu. Weil sie sich liebten. Und weil beiden plötzlich das Wort „Wüstengott“ wieder in den Sinn gekommen war.

„Hatten Sie gerade … Kiffen gesagt?“, mit aufmunterndem Lächeln schob Christoph den Langhaarigen zurück in Kadirs Büro.


Die Indoor-Strandbar Mykonos auf dem Fabrikgelände der Schöneberger Motzstraße war überfüllt. Wie immer am Freitagabend, obwohl jedes Mal alle so taten, als wäre der Hype darum, in künstlich aufgeschütteten Sanddünen nackt Cocktails zu schlürfen, zu kiffen und zwischendurch anonymen Safer Sex zu haben, nun wirklich so was von gestern.

Dass aber Kadir und Christoph Unterhuber, Sachbearbeiter für Arbeitssuchende mit den Anfangsbuchstaben I bis J beziehungsweise N bis O einander in ihren Liegestühlen wissend zugrinsten, hatte einen anderen Grund. Sie taten das, weil sie sich liebten. Und weil sie, angesichts des splitternackten, blendend aussehenden Gläsersammlers, der wendig wie ein Wüstenfuchs vor ihnen durch Sanddünen und THC-Qualm tanzte, Lady Ga Ga’s „Born this Way“ auf den vollen Lippen und ein seliges Strahlen in den tiefschwarzen Augen, sogleich an ihre Väter denken mussten.

Nicht wegen etwaiger optischer oder charakterlicher Ähnlichkeiten.

Aber wie würden die alten Herren wohl reagieren, wenn man ihnen erzählte, dass Gott, anstatt alle Schwulen wegen Unzucht zu strafen, hier in der Strandbar Mykonos endlich der sein durfte, der er wirklich war. Frei, unbeschwert und glücklich. Er hatte sogar aufgehört zu kiffen und machte jetzt regelmäßig Abstecher in den Mykonos-Fitnessbereich.

Wobei natürlich nicht klar war, ob es sich um den muslimischen oder um den katholischen Gott handelte. Aber sowohl Christoph als auch Kadir vermuteten, dass das möglicherweise gar nicht so einen großen Unterschied machte.

„Nicht ‚Gott’“, grinste Kadir, „Ein Gott. Weißt du nicht mehr?“

„Ach ja …“, kicherte Christoph. „Hatte gestern auch schon wieder zwei von der Sorte. Wobei … eine war nur die Jungfrau Maria, hat sie gesagt. Aber scheint umzugehen gerade. Überall Götter, hehe …“

Was Wotan durchaus bestätigen konnte. Grinsend zwinkerte er von seinem Liegestuhl aus dem splitternackten Hammerträger in der Sanddüne zu. Natürlich waren die letzten anderthalb Jahrtausende kein Spaziergang gewesen – aber eigentlich auch kein allzu hoher Preis für ihren nun so fröhlichen Wüstenkollegen.

Und für die Entdeckung dieses erholsamsten aller Orte, zu dem Frauen keinen Zutritt hatten. Schon gar keine allwissenden Frauen, die beschlossen, dass es Zeit war, ein Problem zu lösen – oder ihre Erkenntnisse zum Thema göttliche Superkraft loswerden wollten.

Wofür Du mir eigentlich dankbar sein solltest, kicherte Frija, die natürlich schon seit Anbeginn gewusst hatte, dass Wotan gerade jetzt genau dies denken würde.

Und weil sie nicht nachtragend war, beschloss sie, einfach die häusliche Ruhe zu genießen und das Bett im Gästezimmer frisch zu beziehen.

Nicht für Jehova. Der wohnte jetzt in Schöneberg.

Aber es konnte ja immer sein, dass überraschend jemand vorbeikam.


Patricia Becker

Jahrgang 1986, verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Frankreich und lebt jetzt im schönen Hunsrück. Nach erfolgreich abgeschlossenem Studium der Germanistik und Philosophie ist sie nun Mitarbeiterin in einer Redaktion.

Das Schreiben begleitet sie seit vielen Jahren und ist längst ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden. Einige ihrer Kurzgeschichten wurden bereits veröffentlicht, derzeit arbeitet sie an einem Roman.


Schicksal


as ist schon gut? Und was ist böse? Vielleicht liegt beides enger beieinander, als die meisten denken würden. So wie die Grenze zwischen Aufrichtigkeit und Lüge manchesmal nur dünn ist.

Über solche Dinge habe ich nie nachgedacht. Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Bis zum heutigen Tag.

Bis zum heutigen Tag glaubte ich nicht an all das, was vorhergesagt war. Man muss sagen, dass ich mich auch nicht besonders eingehend damit beschäftigt habe. Was die Zukunft bringen mag und wer auf welcher Seite steht, welches Schicksal mir zugedacht ist: All das hat mich nur am Rande interessiert.

Zurechtzukommen, einen Platz zu finden, das war es, was mich beschäftigt hat.

Woher hätte ich auch wissen sollen, dass all das in Wirklichkeit zusammenhängt?


Jetzt schmecke ich Blut, doch es schmeckt anders als alles Blut, das bisher meine Zunge berührte. Es ist das erste Mal, dass das, aus dem es strömt, nicht meinen Körper nährt, nicht den Hunger eines Wolfes stillt.

Hier endet etwas. Etwas, das es vielleicht nie gegeben hat.

Hier beginnt etwas Neues, das doch seit ältesten Zeiten bestimmt ist.


Mein Leben fing nicht besonders vielversprechend an, in der abgelegenen Höhle, in der ich geboren wurde. Um sie herum gab es nicht viel Grün und auch die Sonne bekam ich in meinen ersten Tagen nur selten zu Gesicht. Nicht vielen Wesen begegnete ich. Nur eines war mir klar: Dass ich anders war. Anders als meine Mutter, eine Riesin, anders als meine Geschwister und vollkommen anders als mein Vater. Doch wie anders ich bin, merkte ich erst, als ich dieses Land zum ersten Mal betrat. Asgard. Heimat der Götter. Ein strahlender, alles überragender Ort. Doch auch er nicht ohne Schattenseiten. Nicht für die Ewigkeit.


Ich weiß bis heute nicht, warum mein Vater mich herbrachte. Er muss etwas damit bezweckt haben, denn Loki tut nie etwas grundlos. Ich war jung und unerfahren, ein Welpe. Wolfswelpe. Getrennt von seinen Eltern, in einem fremden Land, misstrauisch beäugt, doch nicht unfreundlich aufgenommen. Ich wusste sie nie einzuschätzen, die Herrscher dieses Landes, die Loki nicht restlos zugetan waren und mehr über mich zu wissen glaubten, als ich selbst bis heute weiß. Offen sagten sie nichts. Ich las Neugier in ihren alterslosen Gesichtern, Erstaunen und Belustigung. Nur in wenigen spiegelte sich Abneigung. Und nach einer kurzen Diskussion beschloss man, mich aufzunehmen. Vorerst. Man würde sehen, sagte Odin, den ich für sehr weise hielt, was aus mir werden würde. Bis dahin aber könne ich doch keinen Schaden anrichten. Und immerhin, fügte er hinzu, immerhin böte Asgard doch ein besseres Leben als die Ödnis, aus der ich stammte. Klein fühlte ich mich, klein und unbedeutend, diesem Mächtigen gegenüber, der stolz vor mir thronte, auf seinen Schultern zwei Raben, die tief in meine Seele zu blicken schienen – und flankiert von zwei Wölfen. Einen Moment lang glaubte ich, meinesgleichen zu sehen, glaubte angekommen zu sein. Es waren ihre Blicke, die still verneinten.

Ich war dankbar für sein Urteil, auch wenn es für mich bedeutete, ein Leben in der Fremde zu führen. Doch diese Fremde war soviel spannender, soviel lehrreicher als mein karges Heimatland. Hier gab es ausgedehnte Wälder, trutzige Burgen und verschlungene Pfade. Ich lernte Asgard kennen. Ich lernte es gut kennen.

Auch die Asen lernte ich kennen. Nur einige gingen mir aus dem Weg, warfen mir mitleidige, geradezu verächtliche Blicke zu, die ich nicht deuten konnte, nicht verstand.

Es wäre eine Lüge, zu sagen, dass ich meinen Platz gefunden hätte. Ich sagte nicht die Wahrheit, erzählte ich, dass ich tiefgehende Freundschaften geschlossen hätte.

Aber zeitweise war es ein angenehmes Leben.

Es war angenehm, wenn ich allein durch die Wälder lief, so schnell wie meine Pfoten mich trugen. Es war angenehm, Gesellschaft zu haben, zuzuhören, zu lernen.

Es war auch angenehm zu spüren, wie ich schneller wurde, von Tag zu Tag. Stärker. Erfolgreicher bei der Jagd. Furchteinflößender.

Es dauerte nicht lange, bis die Tiere nicht mehr den Welpen durch den Wald streunen sahen, sondern einen stattlichen Wolf, der jagte. Nicht immer nur um seinen Hunger zu stillen, sondern auch, weil er es konnte. Und wollte.

Nie hätte ich gedacht, dass genau das, was ich kann, zu meinem größten Problem werden würde.

Zumeist war es Tyr, der mich lehrte, wie man in Asgard lebte. Welche Regeln es zu beherzigen galt. Aber auch, wie die Welt entstanden war, aus welchen Reichen sie bestand und – knapp nur – wie sie vergehen würde. Oft stand ich auf einer Anhöhe, blickte zum Horizont und fragte mich, wie es dort draußen wohl aussah, in anderen Welten, in Midgard. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich die anderen Welten nicht sehen würde.

Man könnte meinen, dass die Ablehnung, die einige der Asen mir ohne offensichtlichen Grund entgegenbrachten, dass die Beschränkungen, mit denen ich leben musste – niemals ein vollwertiges Mitglied dieser Welt – in mir Groll schwelen ließen. Doch dem war nicht so. Nicht am Anfang.

Als ich die Arglosigkeit des Welpen verlor, als Misstrauen und Bitterkeit an meiner Seele zu nagen begannen, war für alle anderen mein Weg längst vorgezeichnet, war es, das sehe ich jetzt, zu spät. Denn mein Körper, meine Kraft und mein Hunger wuchsen schneller als ich, Fenrir, Sohn Lokis und Angrbodas, der weiter nichts Besonderes war, nicht viel verlangte und sein Schicksal nicht kannte.


Genügt es, einfach nur zu sein, um böse zu sein?

Während Fenrir, der Welpe, die Herzen vieler berührte, wandte sich von Fenrir, dem Wolf, einer nach dem anderen ab. Nur einer blieb. Tyr. Tyr, dessen Blut jetzt aus meiner Schnauze tropft, dessen rechte Hand, weich und zerbrechlich, zwischen meinen Zähnen liegt.


Odin sah ich seltener. War es Enttäuschung, war es Traurigkeit, was ich in seinem Gesicht las? Man sagte mir, er sei tatsächlich weise, habe für die Weisheit sein Auge geopfert. In jenen Momenten, da Fenrir, der Wolf, ihm ins Gesicht blickte, in dem sich trotz allem kein Hass spiegelte, wusste ich, auch wenn ich es nicht verstand, dass es wahr sein musste, was man sagte.


Auch Loki sah ich nur mehr selten, Angrboda niemals wieder und zur Höhle meiner Geburt kehrte ich nicht zurück. Nichts zog mich dorthin und im Grunde trieb mich auch nichts aus Asgard fort. Obwohl ich nicht wirklich hierher gehörte und obwohl sich irgendwann jeder von mir abgewandt hatte, spürte ich doch, dass ich nirgendwo anders mehr hingehören würde.

Jetzt weiß ich, dass ich Asgard nicht einmal hätte verlassen können, dass ich ein Gefangener war. Eine schwelende Gefahr, die beobachtet werden muss, um sie rechtzeitig aufhalten zu können. Aber wenn es stimmt, was sie sagen, dann bin ich nicht aufzuhalten. Dann ist ihr Sieg über mich kein vollkommener.

Schon jetzt ist er es nicht. Das sehe ich in ihren Gesichtern.

Betroffene Stille hat sich über den kargen Ort gesenkt, an dem sie mich gebunden haben. Sie meint nicht allein den, der für meine Gefangenschaft seine Hand gegeben hat und der den Schmerz der Verwundung schon bald vergessen haben wird. Ich sehe keinen Triumph, keine Freude. Ich sehe auch keinen Hass. Und so tief ich in mich hinein spüre – auch in mir ist kein Hass. Vielleicht teilen wir in diesem Augenblick – trotz allem – dasselbe Gefühl. Das Gefühl von Erkenntnis. Die Sicherheit, dass alles so kommen wird, wie sie es schon immer geahnt hatten.


Ahnte ich es auch – und wusste es nicht? Meine Vergangenheit erscheint mir so fern, als wäre sie die eines anderen. Als wäre Fenrir, der arglose Welpe, nichts weiter als eine Traumgestalt.

Dass sie mich betrügen würden, wusste ich, als ich die Kette sah. Zwergenarbeit. Pure Magie.

Diesmal haben sie sich Mühe gegeben.

Tyrs Hand zwischen meinen Zähnen hatte den Geschmack des Bekannten. Dieselbe Hand, die mich fütterte. Dieselbe Hand, die hin und wieder über mein dunkles Fell strich. Sie zitterte nicht. Warm und ruhig fühlte sie sich an. Wir beide wussten, was geschehen würde, als die dünne, scheinbar zerbrechliche Kette um mich gelegt und sorgfältig gebunden wurde.

Trotzdem überwältigte mich der Zorn, als all meine Kraft mich nicht befreite. Fester schloss sich das Zauberding um mich, je verzweifelter ich loszukommen versuchte, schnitt in meine Haut und hielt mich gefangen, fast bewegungslos. Hier würde ich verweilen, vielleicht für so etwas wie die Ewigkeit.

Ein Biss. Ein Versprechen. Meine Zähne versenkten sich in göttliches Fleisch. Es bedurfte keiner Anstrengung und doch war es ein großer Schritt. Der Anfang von etwas.

Das Pfand in meinem Maul, die bluttriefende Hand, besänftigte das erste Aufwallen meines Zorns schnell.

Betrogen. Nicht für einen höheren, sondern den natürlichsten aller Zwecke. Ich hatte mein Wort gehalten. Und auch wenn es mich nicht befriedigte, so war es mir zumindest ein Trost.

Noch immer verstehe ich es nicht, aber vielleicht versteht es nicht einmal Odin. Vielleicht kann niemand, nicht einmal der Weiseste, das Schicksal begreifen.

Doch trotz der Verletzung, trotz des Grolls, der jetzt ein Teil von mir ist, trotz der Einsamkeit, die in meiner Zukunft liegt, gibt es Eines, das mich beruhigt und meinen unbändigen Zorn hin und wieder in seine Grenzen verweist.

Ich weiß, was das Schicksal für mich vorgesehen hat. Und ich weiß, dass ich den Asen noch einmal begegnen werde. Dass ich Odin noch einmal begegnen werde. Und dass all meine Wut dann ihre Befriedigung finden wird.

Und vielleicht habe in der neuen Welt, die auf den Trümmern der jetzigen entstehen wird und die so viel schöner und leuchtender sein soll, auch ich einen Platz. Einen neuen, einen anderen als jenen, der mir jetzt zugedacht ist.

In dieser Welt aber werde ich meiner Bestimmung folgen. Und wenn ich Odin einst verschlinge, jenen weisesten aller Herrscher, der einen anderen Fenrir vor Ehrfurcht hatte erstarren lassen, wird es unzähmbare Wut sein, die mich treibt, tiefe Befriedigung, die mich erfüllt.

Noch einmal blicke ich mich um. Meine Augen, die des unberechenbaren Tiers, in denen die Gewissheit glüht, dass es seinen Platz gefunden hat. Nein, ich bin nicht geschlagen. Nicht demütig lasse ich mein Pfand fallen. Sie wollten es so.

Es gibt nur einen, der lächelt. Loki.

Doch die Fäden des Schicksals hält auch er nicht in der Hand.


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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
145 s. 26 illüstrasyon
ISBN:
9783944180441
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