Kitabı oku: «Die Ungerächten», sayfa 8
Esther drehte sich im Kreis. »Lasst ihr euch das gefallen? Immer noch?«
Niemand rührte sich. Pawel stieß Ari zur Seite und nahm ihm die Pistole ab. Er presste Bolkow die Mündung auf die Stirn und drückte ab. Der Kapo kippte ohne einen Laut zur Seite. Er war tot bevor sein Gesicht auf dem Boden aufschlug.
Pawel sah Esther an. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie atmete stoßweise, als wäre sie um ihr Leben gerannt.
Ich habe es getan, schoss es Pawel durch den Kopf. Ich habe es wieder getan. Es macht mir nichts mehr aus, ich empfinde nur Befriedigung. Ojciec, ich löse mein Versprechen ein, sprach er stumm zu seinem Vater.
»Holt das Seil!«, befahl er.
Keiner reagierte, alle starrten paralysiert auf den Toten.
»Na los!«, schrie Esther. »Oder wollt ihr, dass die Polizei ihn findet?«
Endlich kam Bewegung in die Männer. Sie schleiften die Leiche zum See hinunter. Pawel hatte bereits überprüft, ob er an dieser Stelle tief genug war. Ari und Jaron schleppten einen Mauerbrocken herbei, den sie aus einem zerbombten Haus gestohlen hatten, banden ihn mit einem Strick an Bolkows Füße und warfen den Toten ins Wasser. Das Gewicht zog ihn augenblicklich nach unten. Ein paar Luftblasen waren alles, was von dem früheren Kapo übrig blieb.
Sie verwischten schweigend die Spuren und stiegen in den Laster. Während der Fahrt in die Stadt zurück sprach niemand ein Wort.
Drei Stunden später kroch Pawel zu Esther ins Bett und tastete unter der Decke nach ihrem warmen Körper, aber sie rückte von ihm ab.
»Lass das.«
»Stimmt etwas nicht?«
Er sah in der Dunkelheit ihre Augen leuchten.
»Was hast du gefühlt, als du ihn erschossen hast?«, fragte sie.
»Nichts. Es musste eben erledigt werden, so wie man den Müll runterträgt.«
Er wusste, dass es nicht so war, denn sein Körper bebte und fühlte sich an, als müsse er zerreißen von der ungeheuren Anstrengung. Esther dagegen sollte glauben, dass er stark war und dass es ihm nichts ausmachte, einen Menschen zu töten, der es tausendmal verdient hatte. Er barg sein Gesicht an ihrer Schulter und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Esther fauchte wütend und brachte ihm zwei tiefe Kratzer auf dem Handrücken bei. Dann rollte sie sich herum und drehte ihm den Rücken zu.
Pawel lauschte auf ihren Atem und lächelte. Es ging ihr genauso, wie es ihm nach dem Mord an Mitschke gegangen war. Für diese Erkenntnis liebte er sie umso mehr. Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, das war alles.
Seine Gedanken kehrten zu Bolkow zurück. Er sann darüber nach, was er wirklich gefühlt hatte, als er abdrückte, und forschte nach einer Spur von Bedauern oder gar Schuld. Unter all den Stimmen der Toten, die ihm zuzujubeln schienen, erhob sich eine, die ihn tadelte. Es war seine Schwester Milena.
»Was ist aus dir geworden, Pawel? Ich erkenne dich nicht wieder.«
Verärgert wälzte er sich herum und versuchte krampfhaft, die störende Stimme zum Schweigen zu bringen. Ganz gelang es ihm nicht, obwohl er sich unentwegt einredete, die Welt von einem Scheusal befreit zu haben. Mit einem Gefühl trügerischer Zufriedenheit schlief er ein. Er träumte von Blut, Gewalt und sinnlosem Tod in dieser Nacht.
10
10. Juni 1947
Hannah lag auf der Wiese hinter dem Hangar, genoss die warme Sonne und blinzelte in den tiefblauen Junihimmel. Ein kräftiger Südwind spielte mit den blütenweißen Wolken, zerzupfte sie wie Wattebausche und formte ihre Konturen stetig aufs Neue. Sie wünschte sich, Malisha könnte jetzt neben ihr liegen. Gemeinsam würden sie am Himmel nach Bildern suchen und sich Geschichten dazu ausdenken. Als sie ein Kind gewesen war, hatten sie dieses Spiel oft gespielt. Dann waren die Nazis gekommen, hatten ihre Mutter verhaftet und Hannah in eine der Tötungsanstalten für Kranke und Menschen mit Behinderung gesteckt. Und alles nur, weil sie eine Karikatur von Joseph Goebbels gemalt und zum falschen Zeitpunkt einen epileptischen Anfall erlitten hatte.
So viel hatte sich seitdem verändert. Goebbels war längst tot, die Nazis besiegt und Hannah kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau. Seit dem Augenblick, in dem sie das Büro von Harald Lenz betreten hatte, schien sich das Glück auf ihre Seite geschlagen zu haben. Das Leben war schön. Jeder Tag brachte neue Herausforderungen und aufregende Abenteuer.
Im Hangar klirrte ein schwerer Schraubenschlüssel. Max Pohl fluchte lästerlich. Hannah grinste. Sie kannte niemanden, der so fantasievolle Verwünschungen ausstoßen konnte wie der alte Flieger.
Lenz hatte Wort gehalten. Noch am selben Abend, als er sie in eines der wenigen Restaurants in Frankfurt ausgeführt hatte, die wieder geöffnet hatten, übergab er ihr das Clearance Certificate. Max galt damit offiziell als entnazifiziert. Dabei hatte sie die Verabredung beinahe platzen lassen, weil ihr Kleiderschrank für einen solchen Anlass nicht gerüstet gewesen war. Hannah scherte sich nicht um modische Hüte oder Schuhe mit Pfennigabsätzen, in denen höchstens ein Flamingo umherstolzieren konnte. Sie fühlte sich wohl in einem ölverschmierten Overall. Max hatte ihr schließlich Geld für ein schickes Kleid vorgestreckt, das sie im Laden dreimal an- und wieder ausgezogen hatte, weil sie sich darin vorkam, als würde sie sich kostümieren. Auf Harry Lenz hatte das Kleid enormen Eindruck gemacht. Der Staatsanwalt hatte für einen Moment die Fassung verloren, als Hannah in ihrem verbeulten Militärjeep vorfuhr und in einem luftigen Traum aus hellblauem Stoff ausstieg.
Es war nicht bei dieser ersten Verabredung geblieben. Seit jenem Abend waren sie so oft zusammen, wie Harrys vollgestopfter Terminkalender es erlaubte. Hannah arbeitete ebenfalls die meiste Zeit von früh bis spät in die Nacht, um die kleine Charterfluggesellschaft anzukurbeln, die sie mit Max Pohl gegründet hatte. Inzwischen flog sie regelmäßig die Strecke Frankfurt–London. Max begleitete sie als Co-Pilot und kümmerte sich um neue Aufträge, während sie die Tante in Schuss hielt.
Zuerst war sie von den amerikanischen Piloten, die die Flughafenlounge besuchten, belächelt und verspottet worden. Die deutschen Flieger, die nach wie vor nicht starten durften, hatten wiederholt versucht, die Firma Bloch & Pohl zu torpedieren. Die Intrigen schlugen fehl, weil Lenz nun seine schützende Hand über Hannah hielt.
Sie streckte sich und entdeckte am Himmel eine Wolke, die aussah wie ein sich umarmendes Liebespaar. Hannah dachte darüber nach, wann sie sich in Harry verliebt hatte. Dass sie bis über beide Ohren verknallt war, sah ein Blinder. Anfangs war sie überzeugt gewesen, dass ihr Herzklopfen auf seiner Ähnlichkeit mit Hans beruhte. Aber je öfter sie mit ihm zusammen war, desto mehr wurde ihr bewusst, dass sie das Leben an seiner Seite zu lieben begann. Harry führte sie in Kreise ein, zu denen sie ohne ihn niemals Zutritt gefunden hätte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie in der Oper gewesen. Er nahm sie mit auf Empfänge und rauschende Feste, die die oberen Zehntausend der Stadt feierten, als könnten sie damit die düsteren Kriegstage ungeschehen machen. Harry besaß Humor, gute Manieren und Geld und außerdem war er ein geschickter Liebhaber.
Hannah drehte sich auf den Bauch und lauschte auf das Hämmern aus dem Hangar. Die Tante verlangte ständig ihre Aufmerksamkeit. Genau wie Harry, dachte sie stirnrunzelnd.
Die einzige dunkle Wolke in ihrer Beziehung war ihr gelegentliches Gefühl, für ihn nur ein kostbares Schmuckstück zu sein. Er zeigte es gerne herum, um Eindruck zu schinden, achtete jedoch sorgsam darauf, es sicher zu verwahren, damit es niemand stahl. Harry neigte zu extremer Eifersucht.
Natürlich genoss sie die bewundernden Blicke, aber es gab Momente, in denen sie ihre Freiheit vermisste. Harry würde sie auf der Stelle heiraten, wenn sie ja sagte. Gefragt hatte er sie bisher noch nicht, immerhin kannten sie sich erst seit ein paar Wochen. Sie wusste ohnehin nicht, was sie geantwortet hätte. Zwar wollte sie ihn nicht vergraulen, so wie sie Scott abgewiesen hatte, aber ein Leben als seine Ehefrau konnte sie sich nicht vorstellen. Sie fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Jede andere Frau hätte den jungen, aufstrebenden Staatsanwalt mit Kusshand genommen. Warum sah sie Wolken am Horizont, wo keine waren?
»Hannah!« Max’ Bassstimme dröhnte aus dem Hangar. »Besuch für dich!«
Sie stand auf und ging zur Halle hinüber. Vielleicht warteten neue Kunden auf sie, in letzter Zeit lief das Geschäft ziemlich gut. Sie flogen nicht nur Fracht, sondern auch Passagiere nach England und Belgien – britische Geschäftsleute, Angehörige der US-Army und Franzosen.
Nach dem gleißenden Sonnenlicht mussten sich ihre Augen einen Moment an das Halbdunkel des Hangars gewöhnen. Max stand vor dem Bug der Tante und sprach mit einem schlanken Mann in einem hellen Sommeranzug. Er machte sein übliches missmutiges Gesicht und paffte einen Zigarillo. Als Hannah näher kam, erkannte sie in dem Besucher zu ihrem Erstaunen Harald Lenz. Es war das erste Mal, dass er sich im Hangar sehen ließ.
»Ich konnte heute früher Schluss machen und dachte, ich nutze die Zeit für einen kleinen Überraschungsbesuch«, begrüßte er sie.
Überrumpelt wischte Hannah ihre ölverschmierten Hände am Overall ab. Sie hatte ihr dunkles Haar, das sie neuerdings lang wachsen ließ, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden und wurde sich ihrer schmutzstarrenden Kleidung bewusst. Neben Harry sah sie aus wie Aschenputtel. Sie spürte, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss.
»Hallo«, würgte sie hervor. »Das ist wirklich … eine Überraschung.«
Harry blickte sich um. »Ich wollte mir die aufstrebende Firma Bloch & Pohl, von der man so viel hört, mal anschauen.«
»Was … hört man denn?«, fragte sie.
»Dies und das. Mit eurem Privileg, für die Amerikaner fliegen zu dürfen, habt ihr euch nicht nur Freunde gemacht.«
»Konkurrenz belebt das Geschäft.« Hannah spürte einen leichten Anflug von Ärger. Sie warf Max einen raschen Blick zu, dessen Miene sich verfinsterte.
Harry ging umher und betrachtete die alte Ju 52.
»Und du fliegst tatsächlich in diesem … Ding … über den Ärmelkanal? Ich konnte es nicht so recht glauben.«
»Das Flugzeug ist tadellos in Schuss«, knurrte Max. »Die alten Junkersmaschinen sind absolut zuverlässig, echte deutsche Wertarbeit.«
Harry schielte auf Max’ Handprothese. »Das habe ich auch gehört – falls sie gut gewartet werden.«
»Max ist ein hervorragender Mechaniker«, beeilte sich Hannah zu erklären, »und ich verstehe mindestens genauso viel von Motoren wie er.«
Ihre Laune sank weiter, weil ihre Worte wie eine Entschuldigung klangen. Auf einmal sah sie die Hangarhalle mit Harrys Augen. Die Scheiben des würfelförmigen Büros waren staubig und blind wie Milchglas. Ersatzteile und Transportkisten stapelten sich in einem wilden Durcheinander, auf dem runden Tisch in der Essecke, wo sie ihre Pausen verbrachten, stand ein Dutzend leere Bierflaschen. Über dem Geländer der Empore hing schmutzige Wäsche. Dort oben unter dem Hallendach lagen mehrere Zimmer, in einem davon schlief Hannah. Sie hatte die Mansardenwohnung aufgegeben, in der sie als Untermieterin einer Kriegerwitwe gewohnt hatte, weil sie nicht jeden Morgen zum Flughafen fahren wollte. Das winzige Badezimmer teilten sie sich. Weder sie noch Max störten sich daran. Ihn kümmerte die Unordnung nicht. Er behauptete, in einer aufgeräumten Werkstatt könne er nicht arbeiten.
Da ihre Tage mit harter Arbeit angefüllt waren, hatte Hannah keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie sie lebte. Entweder half sie Max bei der Wartung der Tante oder sie war unterwegs. Jetzt schämte sie sich für den Dreck und das Durcheinander.
»Gefällt dir unser kleines Unternehmen?«, fragte sie.
Was für eine blödsinnige Frage! Sie kannte Harry inzwischen gut genug, um zu ahnen, was in ihm vorging.
»Ich hatte es mir … ehrlich gesagt, etwas anders vorgestellt.«
»Wir stehen natürlich ganz am Anfang«, erklärte sie schnell. »Manchmal geht es drunter und drüber.«
»Wirft denn das Geschäft so viel ab, dass es zwei Teilhaber ernähren kann?«, wollte Harry wissen.
»Wir können nicht klagen«, antwortete Hannah. Das war eine glatte Lüge, sie kamen gerade so über die Runden, aber das brauchte Harry nicht zu wissen.
»Ach, tatsächlich?« Harry lächelte entwaffnend. »Eine gute Idee, denn dann hättest du ja mehr Zeit für mich, nicht wahr?«
Hannah nickte, etwas in ihrem Bauch begann, Alarm zu schlagen. Harry tat nichts ohne Grund. Was wollte er hier?
»Wie wär’s mit einer kleinen Spritztour?«, fragte er. »Es ist ein herrlicher Tag. Anschließend gehen wir essen. Die Cafés entlang des Mains haben geöffnet, wir könnten bei dem warmen Wetter sogar draußen sitzen.«
Max sah Hannah an, sagte aber kein Wort.
Sie versuchte zu lächeln, was ihr gründlich misslang.
»Wir haben eine Menge Wartungsarbeiten zu erledigen. Außerdem muss ich den Flugplan für morgen früh ausarbeiten.«
»Aber fliegst du nicht stets die gleiche Strecke?«, wollte Harry wissen.
»Fliegen besteht zur Hälfte aus Planung und Vorbereitung. Man muss den Wetterbericht einkalkulieren und tausend weitere Dinge. Tut mir leid, aber ich kann heute nicht.«
»Wie schade.«
Harry ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken, doch Hannah spürte deutlich die plötzliche Spannung zwischen ihnen. War er gekommen, um ihr vor Augen zu führen, was für ein Vagabundenleben sie führte? Max schien die dicke Luft zu spüren, murmelte etwas von Kaffee und verdrückte sich ins Büro.
Hannah hauchte Harry einen Kuss auf die Wange. »Es tut mir wirklich leid. Es ist hart, ein Unternehmen aufzubauen.«
»Gewiss keine leichte Aufgabe. Schon gar nicht für ein so zartes Geschöpf, wie du es bist.«
Sie zog missgelaunt die Brauen zusammen. »Was willst du damit sagen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was du unter deinem Traum verstehst. Ehrlich gesagt, ich kann nicht begreifen, dass du so leben kannst.«
Sie lehnte sich mit vor dem Leib verschränkten Armen an das Fahrwerk der Junkers.
»Ich kann nun mal nicht pünktlich um fünf Uhr das Werkzeug fallen lassen. Meine Kunden wollen bedient werden. Wenn ich ihrer überdrüssig bin, kann ich sie nicht einfach zurück in ihre Zelle schicken, wie du es mit deinen tust.«
Sie biss sich auf die Lippe und bereute die giftige Bemerkung sofort, aber Harry ging nicht auf ihren Spott ein.
»Tja, da kann man nichts machen. Die Arbeit geht natürlich vor.«
Er wandte sich zum Gehen.
»Ich rufe dich an«, rief sie ihm nach.
Er winkte zum Abschied. Eine Sekunde fiel helles Sonnenlicht in die Halle, dann schlug die Blechtür hinter ihm zu.
Max kam aus dem Büro. Er hebelte eine Bierflasche auf und trank glucksend.
»Du musst mir mit dem Backbordmotor helfen.« Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Verfluchte Plastikhand.«
Wütend drehte Hannah sich um. »Wann räumst du eigentlich mal deinen Saustall auf? Hier sieht’s aus, als wären die Russen durchmarschiert.«
Sie sah sich nach geeignetem Werkzeug um und fing an, lärmend in einer Kiste zu wühlen. Max hatte recht, sie mussten sich beeilen, sonst würden sie heute nicht mehr fertig werden.
»Ich hab eben keine Zeit, um im Gras zu liegen und in der Sonne zu dösen«, knurrte der Alte zurück.
»Um Ausreden bist du nie verlegen, was?«
Mit dem passenden Schlüssel in der Hand kletterte Hannah die Stehleiter empor. Max kam neugierig näher.
»Hast Angst, dass er sich ’ne andere anlacht, was?«
Sie kämpfte mit einer festsitzenden Schraube, rutschte ab und schürfte sich den Handrücken auf. »Verdammt! Das geht dich nichts an.«
»Da haste sicher recht. Aber wenn du den Rat eines alten Mannes hören willst, der viel erlebt hat, dann lass den Kerl besser sausen.«
Sie hielt inne und blickte auf ihn hinab. »Da bin ich aber neugierig. Fragen Sie Max Pohl, den Frauenversteher!«
Er ertrug geduldig ihre bissige Bemerkung. »Du hast recht, meine Frauen sind mir alle davongelaufen, aber am Ende war ich froh drüber. Sieh dich mal um.«
»Stell dir vor, ich hab den Dreck auch bemerkt.«
Er nickte. »Aber es ist dein Dreck, er gehört dir genauso wie mir. Du musst ihn nur mit dem alten Pohl teilen. Und der lässt dich machen, was du für richtig hältst.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast davon geträumt, frei zu sein und zu fliegen. Und das bist du, Hannah, frei wie ein Vogel. Ich mach dir keine Vorschriften – mecker nicht an dir herum, wenn du mit Trauerrändern unter den Fingernägeln dein Frühstück in dich reinstopfst oder im Gras liegst und träumst. Glaub mir, wenn du das Bürschchen heiratest, isses mit der Fliegerei vorbei.«
Hannah knirschte mit den Zähnen. Sie wusste, dass Max die Wahrheit sagte. Aber sie wollte beides, Harry und die Tante.
»Ich hab gesehen, wie er dich anschaut«, fuhr er fort. »Der will dich mit Haut und Haaren. Und wenn er dich hat, steckt er dich in einen goldenen Käfig. Oh, du wirst es gut bei ihm haben, keine Frage. Aber das hier«, er beschrieb mit der Bierflasche in der Hand einen Kreis, »das kannste dann vergessen.«
»Bist du jetzt fertig?«
Er schüttelte den Kopf. »Nee, noch nicht. Nachdem du bei ihm warst, hat er dir am selben Abend das Entlastungszeugnis für mich in die Hand gedrückt, damit wir unsere Firma aufziehen konnten. Wie hat er es in der kurzen Zeit geschafft, meine Geschichte zu überprüfen? Warum, glaubst du, ging das so schnell?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich werd’s dir sagen. Er hat dich damit geangelt wie ein Fischer die kleine Meerjungfrau und du hast angebissen.«
»Verschon mich mit deinen Lebensweisheiten. Und sauf nicht so viel!«
Hannah kletterte die Leiter hinab, stapfte wütend aus dem Hangar und knallte die Tür hinter sich zu. Erregt lief sie auf und ab und zündete sich eine Zigarette an. Sie ärgerte sich, weil Max ihre eigenen Gedanken laut ausgesprochen hatte; Überlegungen, die sie am liebsten verdrängte.
Sie hatte sich an den mürrischen Einzelgänger gewöhnt. Wenn er nicht gerade betrunken war, konnte er ein guter Zuhörer sein. Für Hannah, die ohne Vater aufgewachsen war, war er eine Art väterlicher Freund geworden. Ihre Begegnung mit Harry hatte ihr allerdings deutlich vor Augen geführt, dass sie Gefahr lief, Max’ liederliche Lebensweise selbst anzunehmen.
»Ist das hier richtig bei Bloch & Pohl?«
Hannah sah auf. Vor ihr standen zwei Männer. Sie war so vertieft in ihre Gedanken gewesen, dass sie ihr Kommen nicht bemerkt hatte. Der eine trug einen dunklen, gestreiften Anzug mit Weste, dazu eine Sonnenbrille mit Nickelgestell und einen Homburg. Bis auf einen dünnen Oberlippenbart war er glatt rasiert. Sein Haar war hellblond, seine Haut so weiß wie die eines Albinos. Der andere war Mitte vierzig und damit ein paar Jahre älter als sein Begleiter. Er war hager, trug schwarze Kleidung und einen Kollar. Die Haut spannte sich wie Pergament über seine pockennarbigen Wangen, vielleicht hatte er kürzlich eine schwere Krankheit überstanden. Die krumme Nase und das fliehende Kinn verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem Frettchen. Die beiden wirkten wie zwei ausgehungerte Straßenköter, die darauf warteten, sich um einen Knochen zu balgen.
Wenn du ein Priester bist, war ich im Bund Deutscher Mädel, dachte Hannah.
Der Blonde trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und wiederholte seine Frage. »Bloch & Pohl, ist das hier?«
»Ist es.«
Sie hatten noch keine Zeit gefunden, ein Firmenschild zu bestellen und anzubringen. Die allermeisten Aufträge erhielten sie sowieso von den Amerikanern. Kunden, die eine Charter buchen wollten, verirrten sich nur selten in diesen Teil des Flughafens.
Sie trat die Kippe mit der Schuhspitze aus und reichte dem Mann die Hand. »Hannah Bloch. Was kann ich für Sie tun?«
»Ihre Gesellschaft wurde uns für spezielle Aufträge empfohlen«, sagte er. »Wir hörten, Sie seien eine erstklassige Fliegerin.«
Es gab Interessenten, die einen Rückzieher machten, wenn ihnen klar wurde, dass sie es mit einer Frau als Pilotin zu tun hatten. Offenbar störten sich die Männer nicht daran.
»Wie können wir Ihnen helfen?«, fragte sie. »Fracht oder Passagiere?«
»Nur wir beide. Dazu ein dritter Passagier.«
»Wohin soll die Reise gehen?«
»Nach London«, sagte der Pockennarbige. »Wann können Sie starten?«
»Nicht vor übermorgen.«
»Wir wurden darüber informiert, dass Sie morgen früh für die Briten Fracht nach England fliegen. Wir würden gerne mitfliegen.«
»Der Platz ist begrenzt.«
Der Mann mit dem Homburg zog seine Brieftasche aus dem Jackett und begann, eine größere Summe abzuzählen.
»Was immer Ihre Auftraggeber Ihnen bezahlen, wir bieten das Doppelte.«
Hannah kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Ich will keinen Ärger.«
»Den bekommen Sie nicht.« Er wedelte mit einem beachtlichen Bündel Dollarscheine. »Damit dürften Ihre Kosten gedeckt sein. Wir stellen lediglich eine einzige Bedingung. Sie reden mit niemandem. Diesen Auftrag haben Sie niemals übernommen. Wenn jemand fragt, sagen Sie, dass Sie ihren regulären Stückgutflug absolviert haben. Der dritte Passagier bleibt inkognito und Sie fliegen alleine. Haben Sie das verstanden?«
»Das sind nicht eine, sondern vier Bedingungen.«
»Nehmen Sie an?«, fragte der vermeintliche Priester.
»Ohne Co-Pilot oder Navigator den Kanal zu überqueren, ist riskant.«
Zwar kannte sie die Strecke inzwischen so gut wie den Hangar, aber ihr fehlte die Erfahrung, die Max im Überfluss besaß. Wenn unerwartet Probleme auftauchten, könnte sie niemanden um Rat fragen.
»Pater Jonas wird Sie unterstützen«, sagte der Albino.
»Sie? Was wollen Sie denn machen, wenn wir in schlechtes Wetter geraten? Beten etwa?«
»Ich bin vor dem Krieg geflogen«, antwortete der Mann im Kollar.
»Ist nicht wahr!« Hannah grinste. »Können Sie mit einem Funkgerät umgehen?«
»Er könnte das Flugzeug im Notfall sogar selbst fliegen«, mischte sich der Blonde ein.
»Ich muss mit meinem Partner reden.«
»Tun Sie das. Wir warten so lange.«
Hannah ging Max suchen. Er saß am Frühstückstisch und trank Bier. Rasch erklärte sie ihm, um was die beiden Männer sie gebeten hatten.
»Die sind nicht koscher«, brummte Max. »Warum buchen sie keinen Flug bei AOA oder Pan American?«
»Du weißt doch, welches Risiko du eingehst, wenn du als Deutscher ein Flugticket kaufst. Die Amerikaner und Briten werden vorrangig abgefertigt. Wenn du Pech hast, schnappt dir ein Ausländer das Ticket vor der Nase weg.«
»Mmh. Vielleicht.« Er schlurfte zu einem staubverkrusteten Fenster, von dem aus er unauffällig den Platz vor der Halle überblicken konnte, und spähte hinaus.
»Die Vögel gefallen mir nicht.«
»Glaubst du, die versuchen, einen Kriegsverbrecher außer Landes zu bringen?«
»Du etwa nicht? Warum sonst die Geheimniskrämerei?«
»Und wie wollen sie die Einreiseformalitäten auf englischem Boden meistern?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du bist die Expertin, was die Rattenlinie angeht.«
»Okay, ich lehne ab.«
Hannah ging auf das Hangartor zu.
»Andererseits könnten wir das Geld gut gebrauchen«, sagte Max.
»Du kennst meine Vergangenheit«, antwortete Hannah. »Ich würde diesen Typen niemals helfen unterzutauchen. Ich jage sie höchstens.«
»Das hab ich in den letzten Wochen gar nicht bemerkt«, ätzte er.
Hannah biss sich auf die Unterlippe. Max sprach einen wunden Punkt an, der sie schlaflose Nächte kostete. Mit jedem Tag, den sie untätig blieb, vergrößerte sich Heyrichs Vorsprung. Wahrscheinlich war er längst auf dem Weg nach Südamerika. Beim CIC hatte sie auf ein weit verzweigtes Netzwerk zurückgreifen können. Scott war in der Lage gewesen, auch fest verschlossene Türen zu öffnen. Harry verfolgte zwar ebenfalls jede Spur, die auf seinen Schreibtisch gelangte, aber er band Hannah nicht in seine Arbeit ein, wie Scott es getan hatte. Er war der Meinung, eine Frau gehöre an den Herd, was sein Auftritt vorhin unterstrichen hatte. Als Privatperson waren ihr weitestgehend die Hände gebunden. Ihr fehlte jede Möglichkeit, Heyrich aufzuspüren. Ein paarmal hatte sie Harry gedrängt, endlich etwas zu unternehmen, aber er war ein ums andere Mal ausgewichen und hatte sie mit Ausreden vertröstet.
»Immerhin bekommen wir den Flug nach London doppelt bezahlt«, überlegte Max.
Hannah warf einen Blick durch das Fenster. Die Typen rochen zehn Meter gegen den Wind nach SS. Warum hatte sie das nicht sofort bemerkt? Ihr fiel der Streit mit Harry und Max ein. Sie war viel zu aufgeregt gewesen.
Als sie sich abwenden und nach draußen gehen wollte, fiel ihr Blick auf einen schwarzen Mercedes 260, der in einiger Entfernung auf dem Rollfeld stand. Ein bulliger Mann lehnte an der Motorhaube und rauchte. Der leere linke Ärmel seines Hemds steckte im Hosenbund. Sein rotes Stoppelhaar leuchtete grell in der Junisonne.
»Verdammt, das ist Borsig.«
»Was sagst du?« Max kam näher. »Kennst du den etwa?«
Hannah nickte. In ihrer Kehle steckte ein klebriger Pfropfen. Sie spürte wieder, wie Heinz Borsig sie grob aus der Gestapozentrale in der Lindenstraße 27 zerrte und in eine schwarze Limousine stieß. Borsig, der damals Brunners Adjutant gewesen war, brachte sie auf dessen Befehl zum Bahnhof. Dort hatte Hannah den Zug zur Hölle der Tötungsanstalten besteigen müssen. Malisha hatte sie nie wieder gesehen, ihre Mutter hatte die Folterungen der Gestapo nicht überlebt.
Wo Borsig war, da konnte sein Chef nicht weit sein. Die Erinnerung überflutete sie wie eine eiskalte, dunkle Woge. Wieder stürmte sie in Elisabeths Schlafzimmer, vorbei an Brunner, der darauf wartete, dass sein Handlanger den Mordauftrag ausführte. Sie sah Lubeck am Bett stehen, die tödliche Spritze noch in der Hand. Nach der Schießerei vor dem Versteck im Weinbergstollen, bei der Joschi ums Leben gekommen war, hatte sie Brunner aus den Augen verloren. Sie wusste, dass er lebte, hatte seine Spur jedoch nie aufnehmen können. Offenbar hatte er sich eine Zeit lang versteckt wie so viele Naziverbrecher und hoffte nun, unentdeckt das Land verlassen zu können. Er musste sich doch an sie erinnern und würde niemals das Risiko eingehen, in ein Flugzeug zu steigen, das sie steuerte. Die einzige Erklärung war, dass er seine Leute vorgeschickt hatte und nicht wusste, wer sein Pilot sein würde.
»Gut, ich mach’s.«
»Woher der plötzliche Sinneswandel?«, wollte Max wissen.
»Du hast recht, es ist leicht verdientes Geld.«
Sie lief aus dem Hangar und trat in das helle Sonnenlicht.
»Mein Partner ist einverstanden, fünfhundert Dollar und Sie haben Ihre Tickets. Wir treffen uns hier morgen früh um 6 Uhr. Bringen Sie das Geld mit. Gezahlt wird vor Abflug.«
»6 Uhr.« Der Mann mit den Pockennarben deutete eine Verbeugung an. »Wir werden da sein.«
Hannah blickte ihnen nach und verfolgte, wie sie in den Wagen stiegen. Borsig fuhr los. Wie würde der frühere Leiter des Anstaltswesens von Hessen-Nassau reagieren, wenn er das Mädchen erkannte, das er ins Gas geschickt hatte? Erinnerte er sich überhaupt an sie? Sie musste davon ausgehen, denn sie hatte Brunner damals eine Menge Ärger eingebrockt. Waren ihm die Amerikaner so dicht auf den Fersen, dass er das Risiko einging? Wahrscheinlich wusste keiner der drei Männer, mit wem sie sich einließen, und das verschaffte ihr einen Vorteil, den sie nutzen musste.
Sie streifte ihre Arbeitshandschuhe ab und lief in den Hangar zurück.
»Ich muss noch mal weg!«, rief sie Max zu.
»Was, jetzt?«, grollte er. »Wie zum Teufel sollen wir die Tante rechtzeitig startklar machen?«
»Ich brauche nicht lange. In einer Stunde bin ich wieder da. Ich nehme den Jeep.«
Nun bekam Harry seine Chance zu beweisen, wie viel sie ihm wert war.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.