Kitabı oku: «Blondinenrettung», sayfa 3
Die Parkanlage am Bahnhof, die nun wieder wie gehabt „Zur Bürgererholung“ hieß, kam indessen immer mehr herunter. Mit den üppigen Volkskunst-Estraden war es vorbei, die Bühne verfiel und wurde schließlich abgerissen. In jüngster Zeit haben die Schützenvereine, die es wieder in der Stadt gibt, den vor sich hin dämmernden Ort entdeckt. Sie stellen ab und an dort ein großes Zelt auf und lassen ihre Trefferkönige hochleben. Wer hat sich das vorstellen können, dachte Anna, dass sie einmal in die Verlegenheit kommen würde, jenen bunt kostümierten, mit seltsam verbissenen Gesichtern aufmarschierenden Frauen und Männern wohl zu wollen. Aber ohne ihre Feste wäre die „Bürgererholung“ vermutlich vollends in Vergessenheit geraten.
In den Sommermonaten, wenn die Parlamente nicht tagen, die Verwaltungen bis auf spärliche Notbesetzungen an fernen Gestaden für die nächste Session Kraft schöpfen und auch die meisten Grincanaer Kulturstätten und Sportvereine eine verdiente Ruhepause einlegen, passiert es immer mal wieder, dass sich ein von der Nachrichtenarmut geplagter Redakteur den Fotoapparat umhängt, in der Hoffnung, die Dichterbüsten im Bürgergarten bieten wie gehabt einen wenig komfortablen Anblick.
Wo ist denn die Sonne hin? Der Teppich mit dem üppigen Flammenmuster, eben noch ein greller Blickfang, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Tag ist, wie’s aussieht, wieder mal unter Träumen und Erinnern dahin gegangen.
Nun soll also die Chemie alles retten. Die achtzigjährige Anna Hahn, die noch die gleiche kräftige, um nicht zu sagen leicht füllige Gestalt hat wie ehedem, auch noch nicht so schrecklich gealtert zu sein scheint wie mancher andere ihres Jahrgangs, das einst schwarze Haar ist mittlerweile freilich tüchtig grau geworden, glättet den Zeitungsausschnitt noch einmal vorsichtig und legt ihn auf den Packen in einem besonderen Fach ihres Schreibtischs.
BACHKONZERT
Die Geschichte des Organisten Alfred Leucht, von der sich schwer sagen lässt, ob ihr am Ende wirklich etwas Allgemeines, Richtungsweisendes zu entnehmen wäre, spielt zum überwiegenden Teil im leicht abschüssigen, mit drei schon in die Jahre gekommenen Pflaumenbäumen und zwei schmalen Blumenbeeten bestückten Garten der alten Pfarrei in Bansina.
Die Geschichte beginnt im August. Das ist ein besonderer Monat in Bansina. Da scheint die kleine Stadt im Osten wie verwandelt. Das – eigenartig – zugleich wärmer und härter werdende Licht verleiht den Türmen und Firsten eine besondere Schärfe und Tiefe. Dazu kommt ein schwer zu beschreibender Duft, der durch Straßen und Gassen zieht. Es ist noch nicht die würzige Luft des vollen Herbstes, es ist mehr ein leichtes, wohliges Ahnen, das in der Nase Platz greift, sanft und ohne erklärte Absicht, und das dennoch geeignet ist, die seltsamsten Hoffnungen und Visionen zu wecken.
An einem solchen Tag saß der Stadtorganist Alfred Leucht draußen vor dem zweistöckigen, schon etwas altersschwachen Pfarrhaus, das einmal für den Diakon der Gemäßigten Reformierten Bruderschaft gebaut worden war und das er, Leucht, nunmehr seit fast dreißig Jahren mit seiner Frau Helga in Beschlag genommen hat. Die Diakone konnten sich verbessern, kamen lange schon, wenn sie nicht gleich über etwas Eignes verfügten, in einem separaten Trakt des Geistlichen Begegnungszentrums im Quartier „Sonnenhof“ unter.
Leucht war an dem Tag nicht allein. Sein Vetter Otto Hain, ein vor kurzem pensionierter Technologe, war zu Besuch. Die beiden Männer hatten Tisch und Stühle aus der Küche hinaus auf das kleine Rasenstück vor den Beeten getragen. Der Platz wurde glücklich von einer großen Linde beschirmt, die hart am Rand des benachbarten, einem stadtbekannten Möbelhändler gehörenden Grundstücks stand.
Leucht war wie oft in letzter Zeit in Gedanken, so dass er fast ein wenig erschrak, als Hain in die Stille hinein sagte: „Alfred, was ich von dir gern mal wissen wollte, da wir gerade hier so schön zusammensitzen: Sag mal, war dein Bach nun ein Heiliger oder nicht? Ich frag dich sozusagen als Fachmann.“ Leucht musterte seinen Gegenüber kurz, schien dann schon wieder sonstwo zu sein, ehe er sich zu der wenig verheißungsvoll klingenden Replik durchrang: „Du fragst Sachen.“
Wieder fiel eine Weile kein Wort.
„Ich meine, um genau zu sein“, rührte sich Hain schließlich wieder, „die Sache mit dem fünften Evangelisten. Da gibt es doch immer noch so ein bisschen Hin und Her. Oder seh ich das falsch?“
Leucht lächelte und schüttelte ganz leicht den Kopf. „Also du fragst wirklich Sachen. Hm, was heißt Hin und Her, was heißt fünfter Evangelist. Er war im Grunde … soll ich dir sagen eigentlich noch mehr, ein ganzes Stück mehr. Alles, was wir jemals glauben und wissen können, verstehst du, das ist schon in seiner Musik.“ Als Leucht sah, dass der Vetter die Stirn runzelte, setzte er hinzu: „Glaub mir nur. Ich weiß, was ich sage. Ich bin Organist. Mehr als dreißig Jahre. Ich sag dir: Über den Musiker Bach wird man noch reden, wenn wir, unsere Autos, Flugzeuge, Riesendampfer und alles, worauf wir uns sonst noch groß was einbilden, schon lange Geschichte ist, restlos Geschichte. So wahr ich hier sitze.“
Hain, offenbar froh, dass der Verwandte endlich ins Reden gekommen war, sagte aufgeräumt: „Nichts dagegen, nichts dagegen. Da will ich gar nichts gegen sagen. Wusste ja gar nicht, dass du so enthusiastisch sein kannst. Aber, was mich noch interessiert, als altgedienter Ökonom sozusagen … wie ist das mit den Zahlen? Hat er wirklich seine Stücke nach Zahlen aufgeschrieben? Hab da neulich bei uns im Seniorenklub einen Vortrag gehört. Das war ja interessant, aber auch fast kaum zu glauben, diese ewigen Zahlengeschichten, kompliziert, kompliziert, das will einem einfach nicht in den Kopf … obwohl ich sagen muss, die Rechnungen als solche scheint gestimmt zu haben, soviel ich mitgekriegt habe … “
Leucht lächelte wieder, wobei eine Prise Angriffslust mitschwang, ließ sich aber andererseits alle Zeit der Welt, ehe er seinerseits fragte: „Kennst Du die Kunst der Fuge?“
Hain nickte. „Klar. Hat er wohl so ziemlich als Letztes geschrieben. Soll deshalb auch besonders bedeutend sein.“
Leucht winkte unwirsch ab, als ob der Vetter eben etwas Falsches oder zumindest Unpassendes gesagt hatte. „Wer das schreiben kann, mein Lieber, die Kunst der Fuge, für den ist es doch ein Klacks, Mensch, hier und da aus Lust und Laune oder um uns alle an der Nase rumzuführen noch so ein bisschen Zahlenabrakadabra mit einzubauen. Besorg dir mal ne Aufnahme. Die Kunst der Fuge. Dann reden wir weiter.“
Hain nickte eifrig, hatte aber gleich noch eine Frage. „Was mich ehrlich gesagt auch noch interessiert, Alfred, vielleicht kannst du mir da was dazu sagen. Also warum hat es der Kerl eigentlich nirgendwo lang ausgehalten? Er ist, wenn ich das richtig verstanden hab, immer irgendwo eingerückt, hat Mordsforderungen gestellt und dann hat’s nicht lang gedauert und er ist wieder abgedampft. In Lapinta, wo er wohl noch die meiste Zeit war, soll man über ihn gesagt haben, er wäre … inkompetent gewesen oder so und er … hätt auch nicht gerade die Arbeit erfunden gehabt. Das ist doch Unsinn oder?“
Leucht wiegte den Kopf. „Hm, wie man’s nimmt. Ist vielleicht manches nicht mal so ganz falsch. Aber letztlich völlig bedeutungslos. Übrigens heißt es incorrigibel. Das ist was anderes. Bedeutet so viel wie schwer lenkbar, schwer erziehbar meinetwegen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er leise, fast im Flüsterton, hinzu: „Er wollte, verstehst du, in erster Linie seiner Kunst nachgehen. Er hatte Tonnen von Musik in sich. Die mussten raus. So gut wie irgend möglich seiner Kunst nachgehen wollte er. Das ist gar nicht so einfach. Merk ich jetzt selber. Da muss man hart sein, notfalls incorrigibel. Rotzfrech, Ellbogen raus, verstehst du. Pfeif drauf. Sonst ist das Leben vorbei und du sagst: Ja, wenn ich nur gekonnt hätte, wie ich gewollt habe.“
Hain erkundigte sich noch nach einer Reihe weiterer, ihm befremdlich erscheinender Lebensumstände des Großen der Musik, nach seinen vielen Kindern und später der Sache mit den doch ganz gut situierten Söhnen, die wohl angeblich die Mutter im Alter hatten ungerührt Not leiden lassen und anderem mehr. Leucht räumte das Meiste unbenommen als möglicherweise so gewesen ein. Er kam dabei langsam aus seiner bequemen Sitzposition, die er die ganze Zeit über eingenommen hatte, heraus, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust: „Ich will dir an der Stelle aber nun mal was sagen, um die ganze Sache fürs Erste sozusagen abzuschließen, wir sitzen sonst morgen früh noch hier: Was auch immer im Einzelnen gewesen sein mag, ich sage dir: Ich freu mich jeden Tag, dass es ihn gab und … dass ich nach ihm geboren wurde. Weißt du, was ein Dichter gesagt hat? Hör zu: Es gab auch eine Welt vor der Matthäus-Passion, aber was war das für eine Welt.“
Hain schluckte: „Hm … das ist ein Satz. Kann man sich merken.“
In dem Moment erschien Helga Leucht mit einem Tablett und einer weißen Tischdecke und begann schweigend den Kaffeetisch zu decken. Auch die Männer schwiegen. Als Hain schließlich die Stille brach, sagte, dass es ein Genuss sei, sich mit ihrem Mann zu unterhalten, er wäre sozusagen ein wahrer Enthusiast und stets mit dem Herzen dabei, sagte die Frau: „Wenn nur mal die Stadt auch so enthusiastisch wäre. Sie wollen sich keinen Organisten mehr leisten, hat er dir das auch gesagt?“ Als der Gefragte erschrocken die Schultern hochzog und keinen Ton herausbrachte, winkte sie ab: „Natürlich, hab ich mir gedacht.“
Daraufhin sah sich Leucht veranlasst, den Vetter auf den neuesten Stand zu bringen. Die Stadt müsse sparen und wolle deshalb mit der Kirche verhandeln, ob sie vielleicht die Hälfte von seiner Stelle übernehmen würde. Dann könne alles bleiben, wie’s ist. Aber daraus werde vermutlich nichts. Er habe heute vom Bürgermeister erfahren, dass sich die Kirche in der Sache schwertue. Man müsse dort wohl auch sparen. „Und was soll nun werden?“ wollte Helga Leucht wissen.
„Ja, was soll werden. Wenn ich das wüsste. Der Bürgermeister hat gesagt, man müsse nach neuen Formen und Möglichkeiten suchen.“
„Und was heißt das?“
Leucht seufzte: „Ach, er hat allerhand erzählt. Viel zu viel auf einmal. Bin manchmal gar nicht richtig mitgekommen. Also, eine Sache wäre, wenn ich das richtig verstanden habe, das Ganze in eine Bürger-Beschäftigungs-Maßnahme umzuwandeln. Man müsste mir dann allerdings vorher in aller Form kündigen und es ist dann wohl auch so, dass ich nicht mehr als Stadtorganist angestellt bin, sondern, aber nur pro forma natürlich, zu einer Art Brigade für die Stadtverschönerung käme. Ja, das war die eine Variante. Eine zweite Möglichkeit, hm, wäre, dass ich mich sozusagen selbständig mache. Ich bekäme dann, hat der Bürgermeister gesagt, die Konzerte, die Orgelführungen, die Arbeitsgemeinschaften und alles, was ich sonst noch für die Stadt gemacht hab, extra bezahlt. Hm, das wär’s eigentlich soweit … Halt, zum Schluss hat er noch gesagt, dass demnächst sowieso alles anders wird. Die Ressorts Kultur und Fremdenverkehr sollen in eine Art eigenständige Gesellschaft kommen. Da müsste man dann sehen, inwieweit ich da vielleicht mit unterkomme. Nächste Woche soll ich noch mal ins Rathaus kommen. Zum Personalchef. Da sollen dann, wie der Herr Bürgermeister sich ausdrückte, eventuell Nägel mit Köpfen gemacht werden. Eventuell, wie gesagt.“
Während Hain tief Luft holte und vielsagend die Mundwinkel hängen ließ, tat sich Helga Leucht keinen Zwang an. „Nägel mit Köpfen. Wer’s glaubt. Die blanke Katastrophe ist das. Wie ich’s mir gedacht hab. Brigade für Stadtverschönerung, weißt du, was das ist? Du bist dann ein Straßenkehrer, der, wenn Konzert ist, eine Zeitlang vom Kehren befreit wird. Und in deinem Alter selbständig machen!? Das kann nur einer sagen, der von nichts keine Ahnung hat. Da haben wir schon die Sorgen mit Irene. Sie schafft es einfach nicht mit dem Kind und der Arbeit im Architektenbüro. Gestern hat sie abends um neun angerufen. Da war sie noch dort. Stellt euch das mal vor, als junge Mutter! Nein, das kann nicht so weitergehen, das … Ich will ja nicht jammern, aber wenn das jetzt mit ihm noch dazu kommt, ich weiß nicht, was ich machen soll, also …“ Als sie sah, dass ihr Mann geistesabwesend vor sich hinstarrte, fasste sie ihn an der Schulter und fragte: „Und was willst Du nun machen? Sag mir, was du machen willst. Da kommt doch was auf uns zu … siehst du das nicht oder was ist? Hörst du mir überhaupt zu?!“
Leucht zuckte zusammen und sagte, keinen der beiden anschauend: „Erst mal trinken wir jetzt Kaffee. Und danach geh ich rüber in die Kirche üben. In vierzehn Tagen ist das große Bachkonzert.“
Eine Woche später saß Otto Hain schon wieder im Bansinaer Pfarrgarten und genoss, Vetter Leucht war angekündigt, aber noch nicht eingetroffen, die Ruhe und Geborgenheit des Ortes. Was für ein schöner Flecken Erde! Und das mitten in der Stadt. Man kann es nicht oft genug sagen.
Da klingelte drinnen das Telefon und er hörte, die Tür war offen, Helga Leucht.
„Guten Tag, Frau Anders … ja, das kann passieren, aber es ist noch nichts entschieden … ja so ist es … also, das ist wirklich nett, dass Sie an uns gedacht haben, aber es ist noch nicht soweit, glauben Sie mir, nein, sie haben darüber noch nichts beschlossen … wenn es dann soweit ist … ja … danke … selbstverständlich … wiederhören …“
Es kehrte wieder Ruhe ein, war nichts zu hören als das sachte Rauschen der Linde. Bei den tiefer stehenden Pflaumenbäumen rührte sich nichts. Ja, die Luft strömt auch auf ihre Weise und das schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden, dachte Hain und war gerade dabei, sanft einzunicken, als Helga herauskam.
„Hast du das eben gehört? Am liebsten würd ich das Telefon abstellen, das war der fünfte oder sechste Anruf heute, also die Leute, wie die Aasgeier. Nicht so viel Anstand haben die Knallköpfe. Wo sind wir nur hingeraten.“
Hain wollte etwas sagen. Aber das sollte nicht sein.
„Die spinnen doch alle“, setzte die Frau einen harschen Schlusspunkt und starrte so wütend Richtung Stadtkirche, dass Hain keinen Mucks mehr zu sagen wagte. In dem Moment klappte die schmale Pforte, durch die man ohne Umschweife von der Straße in den Garten gelangte, und Alfred Leucht war da.
„Hallo ihr zwei. Was war denn?“ fragte er, das hochrote Gesicht seiner Frau sehend.
„Was war? Ach, nichts weiter. Es hat sich nur“, antwortete sie, „inzwischen herumgesprochen, dass sie einen gewissen Alfred Leucht loshaben wollen. Ja, und jetzt melden sich alle möglichen Schwachköpfe, die einen Dummen suchen. Ist nicht zu fassen, nicht zu fassen.“
„Was? Wieso? Was ist schon wieder mit mir?“
„Du kannst Karriere machen, mein Lieber, kannst dich freuen. Hast wirklich glänzende Aussichten.“
Leucht sah fragend zu seinem Vetter hin. Der zuckte verlegen die Schultern.
Da pflanzte sich die Frau vor ihm auf.
„Damit du’s weißt. Ich hatte heute Dauertelefondienst. Ein Anruf hat den anderen gejagt. Weil: Sie suchen überall einen Vorsitzenden, also einen, der irgendwo seinen dummen Kopf hinhält. Beim Förderverein für die Musikschule, bei den ehrenamtlichen Stadtführern, bei ‚Kultur gegen Rechts‘, beim Schlossbauverein und so weiter und sofort, jetzt, wo Ihr Mann doch bald viel Zeit hat, da könnte er sich doch bei uns einbringen, das wäre doch vielleicht was für ihn, also, ich frag mich, diese Vereinstunten, diese ganze Vereinswirtschaft, in die Luft sprengen müsste man alles …“
Hain, der Mitglied bei den örtlichen Numismatikern, Hobbygeologen und Kleingärtnern der Sparte „Sonnenhöhe“ war, wollte ein gutes Wort fürs Vereinswesen an sich einlegen, kam aber über ein „Na, na. Ich finde, die Vereine …“ nicht hinaus. Die Organistenfrau unterbrach ihn: „Ich hab nichts gegen Vereine, gar nichts, damit wir uns recht verstehen, aber ich hab was gegen … viel Wind und nichts dahinter.“
Hain sah sie verwundert an. „Was soll denn dahinter sein?“
Helga Leucht schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder ihrem Mann zu:
„Und was is’ rausgekommen heute?“
Leucht setzte sich, sah seine Frau an, starrte auf den Tisch, sah wieder zu seiner Frau hin und sagte: „Alles Mist.“
Da setzte sich Helga Leucht auch. Leucht rieb sich nervös die Knie.
„Mist ist eigentlich sogar noch untertrieben.“ Und dann erzählte er, dass der Personalchef, der Schreiner, ihm im Rathaus gesagt habe, dass das mit der Bürger-Maßnahme schwierig wäre. Er müsste erst ziemlich lange arbeitslos sein, also mindestens ein Jahr. Und auch dann wäre nicht gesagt, ob es klappt. Mit seinen sechsundfünfzig Jahren wäre er für eine solche Geschichte nämlich eigentlich schon zu alt oder nach einer anderen Rechnung – weiß der Teufel wie das zusammenhängt – noch nicht alt genug. Irgendwas in der Richtung. Schwer zu verstehen das alles. Der Schreiner habe dann gemeint, das Beste wäre, er käme in der Kultur-Gesellschaft unter, und hat ihn auch gleich zum Aufbauleiter geschickt. „Der sitzt schon in der Stadt, oben unterm Dach, wo jetzt auch Büros sind. Das war erst ein Schuss in den Ofen. Wenn überhaupt, hat der gesagt, würden nur Leute übernommen, die im Stellenplan sind. Da wäre er aber, wenn man ihm jetzt wie beabsichtigt ist kündigt, nicht mehr drin, also wenn es losginge mit der Gesellschaft. Aber das ist ohnehin alles witzlos gewesen, verdammt. Wisst ihr, womit der Herr Aufbauleiter nach einigem Hin und Her dann noch rausgerückt ist? Ich könnte eh nicht in die Gesellschaft kommen, von Grund auf nicht. Das Ding wird nämlich nach einem bestimmten Muster aufgebaut. Und das sieht keinen Organisten vor. Was soll man dazu sagen. Also, ich glaub fast“, schloss Leucht seinen Bericht, „die verkohlen mich alle.“
„Da hast du recht. Das ist es. Wir werden alle verkohlt. Nur, mach was“, meinte Hain.
Helga Leucht war schon wieder rot angelaufen.
„Was wird eigentlich mit den anderen aus deiner Abteilung? Was ist denn mit denen?“
„Hm, soviel ich weiß, sollen auch noch zwei Mädels, junge Dinger, die seit kurzem als Sachbearbeiterinnen da sind, gehen. Die anderen bleiben wohl so viel ich weiß alle.“
„Findest du das nicht ein bisschen komisch?“
„Freilich. Frag mich auch schon, ob ich mir was zuschulden kommen lasse hab. Aber du weißt ja selbst. Ich war mit meinem Posten verheiratet so gut wie mit dir.“
„Ha, das ist noch untertrieben. Ich war die Nummer zwei, immer. Wundere mich selbst, wie ich das die ganzen Jahre ausgehalten habe.“
„Das wundert sich mancher, das kannst du mir glauben“, pflichtete ihr Hain bei, der – offenbar ging ihm in dem Moment auf, dass man, was er gesagt hatte, auch gewaltig missverstehen konnte – rasch hinzufügte: „Ich meine im Allgemeinen natürlich.“
„Ja, mit mir, das ist schon nicht so einfach gewesen, das hätte wirklich nicht jede mitgemacht, keine Frage“, räumte Leucht ein, starrte eine Weile verbissen vor sich hin und sagte dann: „Muss gerade jetzt, macht mit mir, was ihr wollt, immer wieder an Walter denken …“
„Jetzt geht das wieder los, bitte fang jetzt nicht damit an“, protestierte Helga Leucht. Vergebens. Leucht sagte, mehr zu sich als zu den anderen, sicher sei Walter Krauß ein Mann des alten Systems gewesen, habe alles mitgemacht und es gab Dinge, über die mit ihm nicht zu reden war. Bei Gott. Das sei nicht zu bestreiten. Aber die Musik, das sei bei ihm trotzdem immer Herzenssache gewesen, das lasse er, Leucht, sich von niemandem ausreden. Krauß sei es gewesen, der dafür sorgte, dass er als Stadtorganist und vor allem auch der Kantor der Kirchgemeinde im Komitee für die Musikfesttage saßen, und zwar mit vollem Stimmrecht. Das habe Krauß auf seine Kappe genommen. Wir brauchen Leute vom Fach. Sonst wird das nichts Halbes und Ganzes. Das war seine Devise gewesen.
„Ja, wenn Du nur irgendwo mit rumsitzen kannst. Da zählt alles andere nicht mehr, da ist die Welt für dich in Ordnung“, warf die Frau ein, wodurch sich Leucht jedoch nicht im mindesten stören ließ.
„Und wenn der Kantor krank war, und das war der alte Schödel zuletzt oft“, fuhr er fort, „durfte ich sogar mit den Kirchenchören proben. Als staatlicher Angestellter! Sind wir nun eine Musikstadt oder nicht, hat Walter gesagt, als das einigen Leuten nicht in den Kram passte. Bach, das ist nicht nur Kirchenmusik, das ist Weltkultur! Das hat er den Brüdern gesagt. Wer denkt heute noch an Weltkultur in unserem Nest. Den möcht ich sehen.“
„Ha, da hast du recht. Allein auf weiter Flur. Da könnte ich dir aus meinem alten Betrieb auch Geschichten erzählen, auf anderer Ebene natürlich …“, pflichtete Hain dem Vetter bei.
Der war aber mit dem Thema lange noch nicht fertig. „Warum hab ich damals nicht den Mund aufgemacht, als sie ihn sang- und klanglos aus dem Komitee rausgeworfen haben? Soll ich euch mal was sagen? Ich hab Walter damals nicht beigestanden und jetzt bin ich dran. Wir hätten alle mehr zusammenhalten sollen, verdammt. Aber das begreift man immer erst hinterher.“
Helga sah ihren Mann durchdringend an. „Das ist doch nicht dein Ernst. Versteh ich dich jetzt richtig, du willst dir das alles so einfach gefallen lassen? Du hast doch auch ein paar Freunde. Im Landesmusikrat, im Musikschulverband, der Orgel-Akademie und und und. Sie haben immer gewusst, wo du wohnst, wenn sie dich gebraucht haben. Nun sollen sie auch mal was für dich tun, verdammt.“
„Klar, einer für alle, alle für einen. Anders nicht“, stimmte Hain zu.
Leucht war mit einem Mal die Ruhe selbst. „Erstens, Leute, weiß ich nicht, ob sie nicht sagen: Du, von Herzen gern, aber da ist nichts zu machen. Was denkst du von uns. Das ist Sache der Stadt. Wir sind doch kein Interessenverband oder so. Da steh ich dann vielleicht da. Und zweitens: Es wäre auch nicht recht. Die vielen anderen mussten auch gehen, die Weberinnen, Textilschlosser, Maschinenbauer, die Möbeltischler, die Lehrer von der Fachschule. Denen hat auch niemand geholfen. War doch so.“
„Du, ich würde trotzdem alles versuchen“, wandte Hain ein. „Wir sprechen uns wieder. Es hilft doch alles nichts. Warst Du schon mal auf dem Amt? Mir hat damals das eine Mal, wo es um die Zeit bis zur Rente ging, schon gereicht. Du ziehst ‘ne Nummer und dann kannst du erst mal warten. Ich saß zwei Stunden. Dann, als ich endlich aufgerufen worden bin, hatte ich mich verhört und bin ins falsche Zimmer rein. Mein Gott waren die unfreundlich, die zwei jungen Kerle, die da drinnen über irgendwelchem Papierkram saßen. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher, Tatsache, wie ein Verbrecher.“
Leucht sah auf einmal müde und abgespannt aus.
„Ist alles richtig, Otto, alles richtig. Darüber bin ich mir im Klaren. Bin doch kein Traumtänzer. Aber weißt du, ich hab mein Leben lang eine Musik gespielt, die von Demut, Ertragen und Erdulden spricht. Könnt es nicht sein, dass ich jetzt … den Beweis antreten muss?“
Da konnte Helga nicht mehr an sich halten. Wenn das mit ihm so weiterginge, brauste sie auf, wüsste sie nicht, ob sie das weiter ertragen könne. Das meine sie ernst. Alles habe schließlich seine Grenzen. Demut, alles erdulden wollen, nein, da käme sie nicht mehr mit und wolle es auch gar nicht, er solle endlich den Tatsachen ins Gesicht sehen und handeln, um seine Stelle kämpfen wie jeder andere auch.
Leucht fasste ihre Hand. „Nun mal nicht gleich so verbissen entweder oder. Wir sind doch nicht im Krieg. Und außerdem hat alles auch seine zwei Seiten, Helga. So schlimm das alles zu sein scheint, aber ich werde dadurch vielleicht auch gezwungen, ich würde sogar sagen, ich habe die Chance, ein neues Leben anzufangen, das vielleicht ein Stück ehrlicher ist, näher an dem, was mir ein Bach und Buxtehude sagt. Außerdem: Vielleicht kommt am Ende alles noch ganz anders, vielleicht lach ich die Stadt am Ende aus. Ja, lach nicht, das ist … man liest ja jeden Tag von Leuten in meinem Alter und noch älter, die was Neues anfangen und die nicht schlecht dastehen.“
„Also, hör dir das an Otto“, sagte Helga Leucht, die ihrem Mann schon bei seinen ersten Worten die Hand energisch wieder entzogen hatte. „Der Jungunternehmer Alfred Leucht vielleicht noch. Und was ist, wenn mit mir mal was ist? In den Schulen soll auch gekürzt werden. Ein Glück, dass wir nichts Großes abzubezahlen haben. Sonst könnt ich nachts gleich gar kein mehr Auge zutun. Aber wir müssen auch an die Kinder denken, vor allem an Irene. Und auch Andreas hat noch zu kämpfen.“
Leucht stand auf, ging ins Haus, kam kurz darauf mit seiner dünnen, abgewetzten Notentasche heraus, wollte etwas sagen, wies aber nur, sich so zum Üben verabschiedend, verlegen lächelnd auf die Tasche.
Danach ließ Helga Leucht Dampf ab. „Hast du das gehört! Er spielt den großen Barmherzigen, fehlte nur, dass er in den Wald ziehen und sich von Wasser und Baumrinden ernähren will. Diese Musiker sind doch alle verrückt, das ist kein Beruf, das ist eine einzige … Ein neues Leben beginnen, den Beweis antreten für etwas, es ist zum Totlachen, wo doch jetzt nur eines zählt, ein sicheres Gehalt, das begreift der Dümmste, nur ein Alfred Leucht begreift es nicht, ein Alfred Leucht begreift es nicht …“ Das ging so eine Weile hin. Als sie endlich Ruhe zu geben schien, sagte Hain, der die ganze Zeit über meist mit schmalen Augen zu der Linde hinaufgeschaut hatte: „Helga, ich will dir mal was sagen. Ja, ich will mich nicht einmischen und du hast auf deine Art natürlich Recht. Da gibt’s gar nichts … Was Alfred da sagt, das ist, wie soll ich sagen, Wolkenkuckucksheim und schlimmer … Aber überleg auch mal. Wenn er mit der Sache so zurechtkommt, ich meine, wenn er sozusagen alles auf die Art tragen kann, verstehst du, das ist immer noch besser, als wenn er, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, schlapp macht, den Kopf hängen lässt oder so. Denk ich jedenfalls. Es hilft ja alles nichts. Die Alten müssen weichen, die Jungen wollen ran. Ja, wie hat euer Vater immer gesagt und der ist Pfarrer gewesen: Das Leben ist ein Kampf. Das Leben ist ein Kampf.“
Das Abendrot über Bansina war wieder einmal beinahe schon zum Fürchten schön. Es tauchte die Linde am Pfarrgarten in ein zartes gelbes Licht, ließ selbst den schon im Schatten liegenden Rasen noch kräftig leuchten und beschirmte sanft die unerforschlichen, sich jeder tieferen Logik entziehenden Wege der in Scharen umherkurvenden Käfer und Mücken. Hatten einmal Demonstrationen stattgefunden, war Polizei ausgeschwärmt, gab es Festnahmen und Abtransporte? Und was war mit den Freudentränen, die flossen, als der Spuk vorbei war, die alte Ordnung endlich stürzte?
Helga und Alfred Leucht saßen draußen und schwiegen, jeder in Gedanken.
Als es anfing zu dunkeln, die Linde nur noch spärlich Licht bekam, es Zeit wurde, ins Haus zu gehen, sagte Leucht: „Du … ich hatte heut ein interessantes Telefongespräch mit Mantribur.“
„So?“
„Ja, ich hab mit Kühnert gesprochen, weißt schon, der Verleger, für den ich voriges Jahr die Kantatensammlung gemacht habe. ‚Unbekannte Meister des Frühbarock.‘ Hab ihm von meiner Situation erzählt und weißt du, was er gesagt hat? Das glaubst du nicht. Ich kann jederzeit bei ihm anfangen. Er könnte noch einen erfahrenen Mann wie mich gebrauchen, hat er gesagt. Soll ruhig mal bei ihm vorbeischauen. Soll ich dir was sagen: Nächste Woche fahr ich hin, Helga, gleich am Montag.“
„Kühnert? Dich einstellen? Hm, geht mir alles, ehrlich gesagt, ein bisschen schnell.“
„Mir kann es gar nicht schnell genug gehen.“
„Und Mantribur, das sind hin und zurück mehr als zweihundert Kilometer. Und das jeden Tag. Oder du musst dir ein Zimmer nehmen. Das … vorausgesetzt, dass es überhaupt klappt.“
„Ich weiß. Klar, die Entfernung. Aber dafür wär ich aus dem Schlamassel hier raus und brauch niemand mehr anzubetteln. Könnte sagen, macht mal euer Ding, zieht euer Sparprogramm ruhig durch, wie ihr es für richtig haltet, macht euch mal keine Sorgen, ich hab demnächst in Mantribur zu tun.“
„Aber wie gesagt, es muss erst mal klappen. Vielleicht wär es wirklich das Beste. Übrigens, da wir gerade bei dem Thema sind. Heute stand was Interessantes in der Zeitung.“
„Ja?“
„Warte.“
Helga Leucht ging ins Haus und drückte, als sie zurückkam, ihrem Mann den Lokalteil der „Neuen Berglandpost“ in die Hand. „Hier, gleich auf Seite eins. Ich hab’s angestrichen.“
Leucht las, murmelte etwas Unverständliches, schob das Blatt weg, dann las er noch einmal, schüttelte den Kopf und starrte vor sich hin.
„Was sagst du nun?“ fragte die Frau.
„Ja, hab schon irgendwas läuten hören in der Richtung. Hm, aber dass es so schnell … und direkt geredet mit mir hat niemand. Das kannst du mir glauben. Mein Gott, ich renn im Rathaus von Pontius zu Pilatus und in der Zeitung steht schon, wie es demnächst weitergeht. Dass es aus und vorbei ist mit einem gewissen Alfred Leucht. Das ist doch …“
Dem Beitrag in der „Neuen Berglandpost“ mit der Überschrift „Orgelakademie und Konzertwochen sollen neue Qualität bekommen“ war zu entnehmen, dass demnächst ein Professor Karl Ernst Hubertson-Becker aus Orenbergen die Leitung des traditionellen hiesigen Musik-Events in Form eines vertraglich fixierten Beraterverhältnisses übertragen bekommt. Damit solle, hieß es, auf neuer, zeitgemäßer Stufe an die verdienstvolle Arbeit von Stadtorganist Alfred Leucht angeknüpft werden, der voraussichtlich seine Tätigkeit zu Jahresschluss beenden werde. Weiter war zu lesen, dass noch eine Reihe von Einzelheiten zu klären wäre, doch im Wesentlichen seien sich die Stadt, die künftige Kultur & Touristik Event GmbH und Professor Hubertson-Becker einig. Am Ende wird Bürgermeister Bernd Brösel zitiert: „Wir wollen solide Fachkompetenz von außen nutzen und unsere Verwaltung gleichzeitig merkbar verschlanken und effektiver gestalten. Dabei bauen wir auch und vor allem auf ideenreichen Bürgersinn. Initiativen und Ideen sind also auch künftig weiterhin gefragt.“
Als Helga Leucht wissen wollte, was das alles im Einzelnen zu bedeuten hat, lachte und seufzte Leucht in einem. „Ja, du in deiner Schule kriegst manches nicht mit. Kannst froh sein. Bei solchen Sachen, Helga, was gibt’s da schon zu verstehen. Kennst du die Geschichte vom Teufel und dem großen Haufen? So geht’s heut lang. Ich geh noch ein Stück üben. Dauert nicht lang. Zu den Nachrichten bin ich wieder da.“
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.