Kitabı oku: «Manila oder Revolution und Liebe», sayfa 3
Nachdem er in der Tropennacht einige Zeit gelaufen ist, scheint ihm der Plan von Sir Henderson doch nicht so verkehrt. Aber gewöhnungsbedürftig ist das alles schon. Er soll bei dem Unterfangen nur den Boten spielen, während er dem blutrünstigen Piraten die Beute überlassen soll.
Hmm, wenn die liefern, heiligt der Zweck die Mittel, wie es so schön heißt, versucht sich Kapitän Rochester zu beruhigen.
Er soll also mit seinem Schiff Iphigenia dem deutschen Schiff Irene entgegendampfen und ihm signalisieren, dass Typhus in Hongkong ausgebrochen sei und zudem ein sehr heftiger Taifun heraufziehe. Deshalb sollen die Deutschen Hongkong großräumig umfahren, Kurs auf die chinesische Küste nehmen und dort den Taifun abwarten. Welch noble Geste von britischer Seite. Dadurch werden die Deutschen direkt in die Arme der Piratenflotte, die sich in der unübersichtlichen Küstengegend bestens auskennt, gelotst. Und dann, Peng, das war´s mit der deutschen Herrlichkeit. Und wir haben den Geheimbericht.
Na ja, ein teuflischer Plan. Wenn das klappt, ist zumindest das Ergebnis in Ordnung.
Mit seinen Füssen kickt Kapitän Rochester noch etwas Müll zur Seite. Was soll´s. Alles für das Empire. Mit diesen Gedanken legt er die letzte Strecke bis zum Hafen, wo das Beiboot schon auf ihn wartet, zurück.
Aus seinen zwei Schornsteinen steigt dunkler Rauch gen strahlend blauen Himmel. Der Leichte Kreuzer Iphigenia verdrängt dreitausendsechshundert Tonnen Wasser und arbeitet sich unaufhörlich durch die leicht rollenden Wellen des Südchinesischen Meeres. Die knapp dreihundert Mann Besatzung hält das Schiff routiniert auf Kurs. Die zwei 15,2 Zentimeter Geschütze sind nur mit der Wachmannschaft besetzt. Schließlich ist man nicht auf Feindfahrt. Der Auftrag lautet simpel: Dem deutschen Kanonenboot Iltis entgegenfahren, es vor der ausgebrochenen Typhusepidemie in Hongkong warnen und anraten, zunächst Kurs auf das chinesische Festland zu nehmen, denn es nähert sich obendrein ein verheerender Taifun.
Als Kapitän Rochester diesen Befehl seinen Offizieren mitteilt, macht sich ein gewisser Unmut breit. Der Tenor lautet, seit wann laufen wir extra für ein deutsches Kriegsschiff aus dem Hafen von Hongkong aus, um es weit draußen auf See vor diesen Gefahren zu warnen? Zumal die Offiziere von einem Typhusausbruch in Hongkong noch gar nichts mitbekommen haben. Aber dann siegt doch der militärische Gehorsam und der Befehl wird nicht hinterfragt, zumal auch ihr Kapitän unmissverständlich klar gemacht hat, dass er keine weiteren Erläuterungen zu dem Befehl zu geben gedenkt.
Also volle Kraft voraus und Ausschau nach den Deutschen halten.
Mittlerweile hat sich der Erste Offizier Hans Thomsen auf Iltis entschlossen, doch den Hafen von Hongkong anzusteuern. Da sich der Gesundheitszustand von Kapitän Wilhelm Kurz zwar nicht verschlechtert, aber auch nicht wesentlich gebessert hat, will er kein Risiko eingehen. Lieber will er den Käpt´n in Hongkong britischen Ärzten anvertrauen als die längere Fahrt nach Tsingtau zu wagen, wo die bestens ausgebildeten deutschen Ärzte bereit stehen. Abwägungssache. Schon will er den Befehl zur Kursänderung geben, als ihm gemeldet wird, dass sich am Horizont die Silhouette eines deutschen Dampfers abzeichnet.
Kurs halten, lautet sein Befehl. Die Begegnung will er erst noch abwarten. Vielleicht hat der Dampfer, der wahrscheinlich aus Tsingtau kommt, irgendwelche Neuigkeiten. Die Minuten verrinnen und die Entfernung zwischen den beiden Schiffen schrumpft ständig. Durch sein Prismenfernglas kann er das Schiff schließlich identifizieren.
Mit seinem einen Schornstein und zwei Masten gehört es zur Städte-Klasse der Reederei Norddeutscher Lloyd. Langsam nähern sich die beiden Schiffe, wobei klar wird, dass der Postdampfer seinen Kurs auf Iltis verändert. Dann endlich erkennt Hans Thomsen, dass es sich um den Reichspostdampfer Darmstadt handelt.
In der Tat kommt der einhunderteinunddreißig Meter lange Dampfer Darmstadt aus Tsingtau. Neben einigen Passagieren in der ersten und zweiten Klasse und ihrer Besatzung von einhundert Mann hat der Dampfer über eintausendzweihundert Seesoldaten an Bord. Sie gehören zur Austauschbesatzung des III. Seebataillons, das in Tsingtau stationiert ist. Der Dampfer Darmstadt verdrängt über fünftausend Bruttoregistertonnen und erreicht durch seine Maschinen mit dreitausendzweihundert Pferdestärken immerhin bis zu dreizehn Knoten. Vor neun Jahren lief er als kombiniertes Passagier- und Frachtschiff noch von einer Werft in Glasgow von Stapel. Heute undenkbar, dass ein deutsches Schiff auf einer englischen beziehungsweise schottischen Werft gebaut wird. Diese Zeiten sind endgültig vorbei, denkt sich Thomsen zufrieden und unterstreicht seine Gedanken mit einem kurzen Nicken.
Als Darmstadt sich auf Sichtweite genähert hat, werden Signalflaggen gesetzt. Plötzlich herrscht Aufregung auf der Brücke von Iltis. Es sind nicht die üblichen Signale, die ausgetauscht werden. Thomsen kneift die Augen enger zusammen, um noch klarer sehen zu können. Die Anspannung ist bei allen spürbar. Was mag Darmstadt nur zu signalisieren haben? Gibt es ein Problem an Bord? geht es durch die Köpfe der Matrosen auf dem Kanonenboot Iltis.
Jeder will das Signal, den Heiß, identifizieren. Farbig unterschiedlich gestaltete Flaggen werden in schnellem Tempo gesetzt. Verwirrend für den Laien, nicht jedoch für die Marinesoldaten von Iltis. Nachdem sie die Signale identifiziert haben, herrscht eine gewisse Verwirrung vor: „Achtung. Dringender Befehl. Kurs Manila. Treffen mit Kreuzergeschwader. Ende.“
„Potzblitz. Was soll denn das?“, ruft Hans Thomsen völlig verdutzt aus. Dabei blickt er in genauso verwirrte Gesichter um ihn herum.
„Manila? Das ist doch auf den Philippinen. Dort herrschen die Spanier. Was will unser Kreuzergeschwader denn dort?“
Die Frage bleibt unbeantwortet. Eine Antwort hat Thomsen auch nicht wirklich erwartet. Aber Befehl ist Befehl. Da gibt es keine Diskussion. Nur an Bord herrscht eine Ausnahmesituation. Noch immer liegt Kapitän Wilhelm Kurz schwerkrank auf der Krankenstation.
Was soll er, Thomsen, bloß machen? Aber einen Befehl kann er nicht ignorieren. Trotzdem. Wenn es eventuell um das Leben des Kapitäns geht?
Alles hängt vom Schiffsarzt Dr. Brandt ab. Thomsen befiehlt Dr. Brandt, den Käpt´n noch einmal eingehend zu untersuchen.
Mittlerweile hat der Postdampfer Darmstadt das Kanonenboot Iltis längst passiert und beginnt am Horizont zu verschwinden.
Dr. Brandt kehrt aus dem Inneren des Kriegsschiffes wieder zurück auf die Brücke. Dort wartet schon Hans Thomsen voller Ungeduld auf ihn.
„Und, Doktor? Wie sieht es aus? Bitte kurz fassen, keine fachmännischen Ergüsse, Doktor.“
„Also gut. Zum ersten Mal gibt es Grund zu einem verhaltenen Optimismus. Das Fieber ist gefallen. Auch der Puls des Herrn Kapitän hat sich stabilisiert. Kurzum: Der Patient scheint auf dem Weg der Besserung zu sein. Aber das bedeutet noch keine Entwarnung“, setzt Dr. Brandt mit ernster Stimme hinzu.
Trotzdem macht sich Erleichterung auf der Brücke breit, besonders aber bei Hans Thomsen.
„Dr. Brandt, das sind erfreuliche Nachrichten. Ich freue mich außerordentlich, dass unser Kapitän anscheinend auf dem Weg der Besserung ist. Das macht meine Entscheidung erfreulicherweise leichter.“
Nach diesen Worten wendet er sich an den Steuermann.
„Kurs ändern. Kurs Manila.“
„Ausguck, Schiff zu sehen?“, fragt Kapitän Rochester in immer kürzeren Abständen. Die Antwort ist immer dieselbe: „Keine Schiffe zu sehen, Captain.“
„Verdammt, das kann doch nicht sein. Steuermann, Kurs überprüfen.“
„Ay, ay, Captain. Kurs nach wie vor wie befohlen, Sir!“
„Wo bleiben die verdammten Deutschen nur?“, murmelt Kapitän Rochester auf der Brücke mit verschränkten Armen hinter dem Rücken hin und hergehend.
„Ausguck, Rauchfahne zu sehen?“
„Keine Rauchfahne zu sehen, Captain!“, kommt die nicht unerwartete Antwort.
„Kurs beibehalten!“
„Ay, ay, Captain. Kurs beibehalten!“
Die Offiziere auf der Brücke schauen sich mittlerweile fragend an. Wie lange will der Alte den Kurs noch beibehalten? Anscheinend haben es sich die Deutschen anders überlegt oder sind mit ihrem Schiff untergegangen oder sonst was. Ihnen ist das völlig egal.
Auch Kapitän Rochester bleiben die fragenden Blicke nicht verborgen. Alles war so schön eingefädelt mit diesen teuflischen chinesischen Piraten. Die hätten das dreckige Geschäft vollendet und wir Briten hätten uns mal wieder die Hände nicht schmutzig gemacht, aber erreicht, was wir wollen. Nur die verdammten Deutschen scheinen heute nicht mitzuspielen. Wo bleibt bloß das verflixte Kanonenboot Iltis? Kapitän Rochester ist klar, dass er den Kurs nicht mehr lange beibehalten kann. Wenn in den nächsten zehn Minuten nichts geschieht, muss er abdrehen. Dann ist die Operation gescheitert.
Wie er es hasst, diese Nachricht nach seiner Rückkehr nach Hongkong Gouverneur Sir Henderson zu überbringen. Eigentlich ist er für einen britischen Gouverneur ganz umgänglich, aber Fehlschläge lässt er nicht gelten.
Zehn Minuten lang herrscht Schweigen auf der Brücke. Dann ertönt noch einmal die Stimme von Kapitän Andrew Rochester: „Ausguck, Schiff in Sicht?“
„Kein Schiff in Sicht, Captain!“, kommt ohne zu zögern die Antwort.
Alle auf der Brücke blicken nun auf Kapitän Rochester.
Eine Minute des Schweigens.
„Steuermann, Kurs ändern. Kurs Hongkong!“
„Ay, ay, Captain. Kurs Hongkong!“
Schon beginnt der Leichte Kreuzer Iphigenia einen Steuerbordschwenk, um nach Hongkong zurückzukehren.
Derweil zermartert sich Kapitän Rochester sein Gehirn, was mit den verdammten Deutschen geschehen sein könnte. Der Kurs hat definitiv gestimmt. Das hat er mehrmals überprüfen lassen. Auch das Wetter war in dem gesamten Seeraum recht ruhig. Keine Sturm- oder gar Taifunwarnung. Nichts. Gar nichts.
Mmmh, eine Möglichkeit gäbe es da noch, malt sich Kapitän Rochester aus. Vor kurzem ist die Lage in Manila eskaliert. Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten wegen Kuba den Spaniern den Krieg erklärt. Die Philippinen gehören zum spanischen Kolonialreich und das amerikanische Asiengeschwader hat Hongkong Richtung Manila verlassen, um mit den Dons aufzuräumen. Wenn die Yankees nicht selbst in Grund und Boden gebohrt worden sind. Was auch immer. Es könnte natürlich sein, dass auch die Deutschen ihre Schiffe nach Manila beordert haben, um dort, wie die anderen Großmächte auch, Flagge zu zeigen. Vielleicht hat ja Iltis irgendwie der Befehl ereilt, den Kurs Richtung Philippinen zu ändern. Möglich, denkt sich Kapitän Rochester. Wäre zumindest eine Erklärung für das Nichtauftauchen von Iltis.
Trotzdem nicht gut. Seine Gedanken kreisen jetzt darum, wie er Sir Henderson den Fehlschlag am besten überbringen kann.
Währenddessen gleitet der Leichte Kreuzer Iphigenia gleichmäßig durch die Wellen des Südchinesischen Meeres Richtung Hongkong.
4. KAPITEL: DER ABSCHIED
„Verflixt und zugenäht“, murmelt Agnes vor sich hin. Dann erschrickt sie. Mit nunmehr leicht geröteten Wangen schaut sie sich um. Nein, das hat niemand gehört. Vor allem nicht ihr Onkel Ferdinand. Der kaiserlich-deutsche Konsul mit Dienstsitz in Manila. Trotzdem ist sie beschämt, dass ihr solch ein gewöhnlicher Ausdruck über die Lippen gekommen ist. Als Beamtentochter aus dem hanseatischen Hamburg hat man sich zusammenzureißen, egal, in welcher Situation man sich auch immer befinden mag. Das war eine der Grundregeln im Hause Kröger.
Der Verzweiflung nahe lässt sie sich in den geräumigen Rattansessel plumpsen, legt ihre Arme auf die breiten Lehnen, presst ihre Lippen zusammen und runzelt die Stirn.
„Warum nur? Warum ausgerechnet jetzt?“, seufzt Agnes leise vor sich hin.
Ihr Blick fällt auf das große Bett mit dem engmaschigen Moskitonetz. Das Bett ist ein großer Rahmen auf vier Beinen aus Rattan, ein Rohrgeflecht, auf dem eine dichte Matte das Lager bildet. Die vier Pfosten verlängern sich über das Rohrgeflecht und sind oben mit leichten Leisten verbunden. Diese dienen dazu, das Moskitonetz zu tragen. Das ist ein dünnes Gewebe, das der Luft, aber nicht den kleinen, stechenden Plagegeistern Durchgang gewährt. Beim Schlafen hilft das Moskitonetz außerordentlich, aber zugleich lässt es doch nur wenige Luftzüge durch, sodass das Schlafen durch das ständige Schwitzen zur Qual wird.
Aber nicht nur die Moskitos plagen die Menschen. Auch kleine Ameisen sind so verbreitet, dass sie quasi überall sind. Nicht so sehr ihr Biss ist zu fürchten, sondern vielmehr ihr schier massenhaftes Auftreten. Nichts ist vor ihrer Fressgier sicher. So muss der Tisch mit der Mahlzeit mit den Beinen im Wasser stehen und darf nicht die Wand berühren. Sonst schleichen sich die Tierchen ein. Auch die Bettpfosten stehen im Wasser, damit man nicht des Nachts von umherkrabbelnden Ameisen übersät aufwacht. Aber es ist darauf zu achten, dass alle paar Tage das Wasser in den Becken, in denen die Beine stehen, erneuert wird. Der sich auf dem Wasser ablagernde Staub bildet ansonsten eine Brücke, die die emsigen Ameisen gerne nutzen.
Ein festes Kopfkissen mit roher Baumwolle vollgestopft und eine Rolle, „abrazador“ genannt, ebenfalls gefüllt mit Baumwolle, die zum Einlegen zwischen die Beine dient, damit die Knie nicht aufeinander liegen, vervollständigen das Bett. In der kühleren Jahreszeit nimmt man eine leichte Wolldecke zum Zudecken dazu.
Die kleinen, surrenden Quälgeister haben Agnes schon ganz schön zugesetzt. Dabei schaut sie auf ihre Arme, die von rötlichen, geschwollenen Stichen übersät sind. Auch ihre Knöchel haben etliche Stiche abgekommen. Wie das juckt. Fürchterlich. Dabei hat sie immer darauf geachtet, dass ihre Arme und Beine bedeckt sind. Aber diese Biester haben sie durch ihre Seidenstrümpfe und dünnen Ärmel ihrer Bluse hindurch traktiert. Eine schöne glatte weiße Haut, auf die sie immer so stolz ist, sieht anders aus. Zum Glück sieht das ja niemand. Aber Agnes machen die rötlichen Flecken schon zu schaffen. Mit ihrer recht schlanken Figur und den kastanienbraunen lockigen Haaren sieht sie eher durchschnittlich aus. Nicht besonders hübsch, so ihre Selbsteinschätzung.
Aber darüber will sie nicht jammern. Onkel Ferdi kümmert sich reizend um sie und versucht, es ihr so bequem wie nur möglich zu machen. Die Lage seines Hauses, das zugleich als Konsulat dient, ist sehr zentral. Die Calle Anloague befindet sich in unmittelbarer Nähe zu der geschäftigen Calle Escolta, die wiederum am Pasig Fluss liegt.
Viel Ruhe gibt es dadurch aber nicht, außer um die heiße Mittagszeit, wenn ganz Manila ihre Siesta macht. Ansonsten herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, ein Klappern der Kutschen, ein Rufen und Schreien der geschäftigen Händler, dazwischen das unaufhörliche Gekläffe der Hunde, dann das Platschen und laute Knallen der in kurzen Abständen heraufziehenden tropischen Regengüsse. Wie unversehens die ganze Escolta unter Wasser steht, versetzt Agnes immer wieder in Erstaunen. So schnell die Wassermassen gekommen sind, so schnell verschwinden sie aber auch wieder. Sofort danach setzt die Geschäftigkeit wieder ein und alles beginnt von vorne.
Auf der anderen Seite des Flusses ragt das spanische Machtzentrum mit dem Fort Santiago empor. Mit seinen zweihundertsechsundzwanzig Geschützen jeglichen Kalibers schützt es Intramuros, die von Mauern umgebene Altstadt von Manila. Dort residieren und herrschen die spanischen Gouverneure mit ihren Beamten und vor allem die spanischen Geistlichen aller möglichen Orden. Sie sind die wahren Herren der Philippinen, so sagt zumindest Onkel Ferdi.
Das Manila außerhalb von Intramuros sieht anders aus. Hier wohnen all die Leute, die eine solch große Stadt am Leben erhalten. Um die Versorgung kümmern sich die Bauern, Fischer, Kleinviehhalter, Bäcker, Konditoren, Wursthersteller, Fleischer, Schnapsbrenner, Weinverkäufer, Palmweinhersteller und alle weiteren Produzenten von Waren rund um das Essen und Trinken. Für die zahlreichen Bauten stehen Zimmerleute, Dachdecker, Ziegelbrenner, Klempner und Metallarbeiter zur Verfügung. Dann gibt es Schneider, Apotheker, Silberschmiede, Mattenflechter, Kerzendreher, Schildermacher und Drucker.
In den letzten Jahren sind Zigarrenmanufakturen, Hanfdrehereien, Zuckerraffinerien, die San Miguel Bierbrauerei, die gewaltigen Fabrikgebäude für Tanduay-Rum mit ihren gigantischen Schornsteinen, den höchsten Manilas, geradezu aus dem Boden geschossen. Hier haben viele Frauen als Arbeiterinnen Beschäftigung gefunden. Daneben fristen die zahlreichen ungelernten Arbeiter, die für Hilfsarbeiten angeworben werden, ihr Dasein. Sie schachten Kanäle aus, arbeiten an den Kais oder pflastern die Straßen.
Schon bald wird Agnes aber von einem ganz anderen Gedanken abgelenkt. Selbstmitleid macht sich bei ihr breit. Wie kann es sein, dass gerade in dem Moment, als sie wieder aus Manila abreisen will, die Amerikaner mit ihren großen Schiffen ankommen und die gesamte spanische Flotte in Grund und Boden bohren? Ist es nicht schon ein Jammer, dass diese kleinen braunen Aufständischen immer weiter auf Manila vorrücken und die Stadt einschließen, sodass man auch gar keine unbeschwerte Ausfahrt mehr in die Umgebung unternehmen kann?
Und nun das. Die Amerikaner haben eine Blockade über die Bucht von Manila verhängt. Kein Schiff darf mehr einlaufen beziehungsweise auslaufen.
Dabei war alles so schön geplant. Sie wollte am übernächsten Tag mit einem britischen Dampfer nach Singapur reisen und dort einen Postdampfer des Norddeutschen Lloyd nach Bremerhaven nehmen. Alle Reservierungen waren schon vorgenommen worden.
Aber nun ist die Bucht von Manila wie zugenäht. Bei diesen Worten läuft doch ein kleines Schmunzeln über ihre schmalen blassroten Lippen. Das sich aber dann doch schnell wieder verzieht.
Eigentlich war es eine ganz gute Idee von ihrem Vater, sie auf eine Reise in die Tropen fern der Heimat zu schicken. Das Abenteuer sollte sie auf andere Gedanken bringen. Nachdem sie die Nachricht von dem Untergang des Salpeterdampfers Wiedenau mit Mann und Maus, kurz nachdem er Valparaíso im fernen Chile verlassen hatte, erreichte, war Agnes in eine wochenlange Depression verfallen. Der Verlust ihres Verlobten Hermann, der Erster Offizier auf der Wiedenau war, hatte sie bis ins Mark getroffen.
Die ohnehin schlanke Agnes war bis auf die Knochen abgemagert. Nichts schien zu helfen. Natürlich trug das typische schmuddelige Winterwetter Hamburgs auch nicht dazu bei, die trübselige Stimmung aufzuhellen. Und dann das fürchterliche Mitleid der ganzen Familie und ihrer Freunde. Solch ein Trost tat ihr in der Situation zunächst gut, aber als er nicht aufhörte, fiel es ihr schwer, wieder halbwegs ins normale Leben zurückzukehren.
In dieser für alle verfahrenen Situation hatte dann ihr Vater die Idee, den Zufall, dass Onkel Ferdinand zum Konsul im fernen Manila im letzten Jahr ernannt worden war, zu nutzen. Kurzerhand setzte er sich mit Onkel Ferdinand in Verbindung und erhielt von ihm die Zustimmung, Agnes zu ihm zu schicken, damit sie im wahrsten Sinne des Wortes auf andere Gedanken kommt. Eine ungewöhnliche Entscheidung. Aber so ist ihr Vater nun einmal.
Mit ihren gerade einmal vierundzwanzig Jahren konnte sie nicht dauerhaft in Depression verfallen. Das war auch ihr in klaren Momenten offensichtlich geworden. Erst widerwillig, dann aber doch mit etwas größerer Zuversicht, stimmte sie schließlich der Idee ihres Vaters zu.
Aufgrund der guten Verbindungen ihres Vaters zu Johann Godeffroy, Abkömmling einer Hugenottenfamilien, jetzt Reeder und Besitzer unter anderem der Jaluit Südseegesellschaft, konnte er für Agnes schnell und unkompliziert einen Platz auf dem Frachtsegler Emily Godeffroy finden, der über Singapur in die deutschen Südseebesitzungen ging. In Singapur musste sie dann ihre Reise mit einem britischen Dampfer nach Manila fortsetzen. Was sich aber als nicht zu schrecklich, wie anfangs von ihr befürchtet, herausstellte. Besonders der Kapitän hatte sich ihr gegenüber als vollendeter Gentleman hervorgetan.
Wenn sie jetzt an die Reise zurückdenkt, begann das Abenteuer eigentlich schon kurz nach dem Ablegen aus dem Hamburger Hafen. Alleine die Vorstellung an die bevorstehende lange Reise, der sie anfänglich skeptisch gegenübergestanden hatte, tat ihr gut. Schnell erfuhr sie Ablenkung und kam auf andere Gedanken. Das musste sie zugeben.
Sie sieht noch alles vor sich, als ob es heute wäre.
Als Agnes den Frachtsegler im trüben, nebligen norddeutschen Schmuddelwetter an den Landungsbrücken liegen sah, wollte sie schnellstens umkehren. Alleine die Vorstellung, dass das Schiff um die hundert Tage benötigen würde, um an sein Ziel in der Südsee und anschließend nach Australien zu gelangen, machte ihr zu schaffen. Dann beruhigte sie sich etwas und redete sich ein, dass es nach Singapur bei günstigen Winden ja nur sieben bis acht Wochen seien. Trotzdem, ihr Leben diesem einhundert Meter langen aus Stahl genieteten Schiffskörper für Wochen anzuvertrauen, dazu gehörte schon etwas. Auch der Blick auf die holzgeschnitzte Galionsfigur am Bug mit ihren üppigen Brüsten ließ keine positive Stimmung aufkommen. Allemal nachdem Agnes mit ihren großen Augen einen Vergleich mit ihrer nicht allzu ausgeprägten Oberweite angestellt hatte. Doch dann ließ Agnes mit einem kleinen Ruck des Kopfes ihre kastanienbraunen lockigen Haare im Morgenwind wehen. Mit Genugtuung rief sie sich in Erinnerung, dass sie wenigstens mit ihren Haaren bisher bei den Männern punkten konnte.
Neben der Fracht, die insbesondere aus Handels- und Tauschgütern für die Südseeinsulaner bestand, kamen auch allmählich die anderen Passagiere an Bord. Als sie diese betrachtete, lief ihr ein leichter Schauer über den Rücken. Es handelte sich um Frauen und Männer, die in die Südsee oder nach Australien auswandern wollten. Besonders die Männer, die im niedrigen Zwischendeck untergebracht waren, ließen sie erschaudern. Muskelbepackt und stark tätowiert. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Bei dem Gedanken, wochenlang mit ihnen auf diesem kleinen Schiff zusammen sein zu müssen, bekam sie eine Gänsehaut. Wie fürchterlich. Alleine diese Vorstellung. Schrecklich.
Gut, dass Agnes nicht wusste, dass es sich bei den Passagieren um kürzlich aus den Haftanstalten Hamburgs entlassene Sträflinge handelte.
Jetzt wurde es Zeit an Bord zu gehen. Unter Tränen und vielen Küsschen hier und dort verabschiedete sich Agnes schweren Herzens von ihren geliebten Eltern. Schnell waren die kleinen, säuberlich gebügelten, spitzenverzierten Taschentücher von Mutter Kröger und ihrer Tochter Agnes nass.
Dann gab es kein Zurück mehr. In ihren kleinen Stiefelletten stakste Agnes den Laufsteg an Bord des Schiffes hinauf. Mit ihren kleinen Händen hielt sie sich am Tau fest. Doch die Kälte ließ es kaum zu, dass sie ein Gefühl in ihre Hände bekam. Auch war die Gangway rutschig. Ob ihre Stiefelletten die richtigen Schuhe waren? schoss es ihr noch durch den Kopf. Doch dann war es auch schon zu spät. Sie rutschte aus, ihre klammen Finger fanden an dem Tau der Gangway keinen Halt mehr. Der Fall unvermeidlich.
Fast war sie schon am Boden, merkte förmlich, wie ihr rechtes Knie auf die Gangway aufschlug.
Als …
Ja, als eine Hand sie entschlossen am linken Arm packte und vor dem Sturz vor der gaffenden Menschenmenge auf den Landungsbrücken bewahrte.
Eine kräftige Hand. Das spürte sie sofort.
Sie schaute sich um und blickte in ein freundliches Gesicht, dessen leicht geöffneter Mund eine Reihe wohlgeformter weißer Zähne zum Vorschein brachte.
Verwirrt konnte Agnes nur stammeln: „Äh, vielen, äh, aufrichtigen Dank, äh, mein Herr. Sie haben eine Dame vor dem Fall bewahrt.“
„Aber nicht doch, gnädiges Fräulein. Nicht jede Dame kann ich vor dem Fall bewahren. Aber in Ihrem Fall ist es mir gelungen. Und das freut mich außerordentlich“, kam es mit einem starken süddeutschen Einschlag lächelnd aus dem Mund des Fremden.
„Äh, nochmals vielen Dank, mein Herr. Doch jetzt kann ich wieder alleine gehen.“
Sofort löste sich der Griff um Agnes Arm und mit den Worten: „War mir eine Ehre, meine Dame“, ließ der Fremde Agnes Arm wieder los.
Nunmehr halbwegs sicheren Schrittes ging Agnes auf der Gangway langsam weiter.
An Bord des Schiffes angekommen erwartete sie ein Mann gesetzteren Alters mit sauber gestutztem Schnurrbart und einer Pfeife im Mund. Mit formvollendeter Manier begrüßte er die von seinem Chef, dem Reeder Johann Godeffroy, avisierte Dame. Extra zu ihrer Begrüßung, so dachte Agnes erfreut, hatte er seine schmucke Uniform mit den goldglänzenden Schulterstücken angelegt. Dabei war das nur die gängige Uniform für die Ausfahrt. Das war Agnes aber nicht bekannt.
„Das war knapp, gnädiges Fräulein. Aber es ist ja noch einmal gut gegangen. Dank Herrn Freiherrn von Löwenstein. Herzlich Willkommen an Bord der Emily Godeffroy, gnädiges Fräulein.“
Mit diesen Worten und einem knappen, aber freundlichen Nicken des Kapitäns wurde Agnes an Bord begrüßt und von einem Stewart zu ihrer Kabine geleitet.
Dann wendete sich der Kapitän Freiherrn von Löwenstein zu, der sich zu ihm gesellt hatte.
Mit großer Aufmerksamkeit hatte Agnes die Begrüßungsworte des Kapitäns wahrgenommen. Ah, so heißt der Herr also, Freiherr von Löwenstein. Das versprach eine recht interessante Reise zu werden, dachte sich Agnes.
Die Gangway wurde eingefahren und ein Offizier brüllte Kommandos. Jungmatrosen kletterten die Wanten hoch. Ein Spektakel, das die Zuschauer an Land mit staunenden Augen verfolgten. Allerdings wurden die Großsegel erst in der Elbmündung auf der Höhe von Cuxhaven kurz vor dem Erreichen der Nordsee wirklich gesetzt.
Die armdicken Taue an den Pollern wurden gelöst und gleichzeitig fing die Feuerwehrkapelle an zu musizieren. Ein Shantychor schmetterte das Lied „Muss i denn zum Städele hinaus“. Fischkutter und Hafenbarkassen im Hamburger Hafen blieben unbeeindruckt von den musikalischen Darbietungen und von dem Windjammer, der Kurs auf die Elbmündung nahm. Überall im Hafen große Geschäftigkeit. Schiffe mit ihren Masten, ihrer Takelage und ihren Segeln wogen sich im Rhythmus der Wellen. Ankerketten knarzten.
Langsam legte die Emily Godeffroy an Geschwindigkeit zu, wand sich zwischen den vielen Schiffen hindurch hinaus aus dem Hafen und erreichte schließlich die Nordsee. Das Gewimmel und Durcheinander der zahlreichen Passagiere hörte urplötzlich auf. Das Deck leerte sich rapide. Langsam verschwanden die Lichter von Cuxhaven in der heraufziehenden Dunkelheit der Nacht.
Währenddessen saß Agnes in ihrer kleinen Kabine im Heck unmittelbar neben denen der Schiffsoffiziere gelegen und blickte auf die kleine Schreibplatte, die vom Licht der an der Wand montierten Petroleumlampe erleuchtet wurde. Ihre Kabine war zwar klein, aber doch recht behaglich. Sie verfügte über eine Koje und fest eingebaute Schränke sowie Regale. Durch das Bullauge konnte sie zumindest einen kleinen Blick auf das Meer werfen. Das gab ihr wenigstens die Illusion, nicht vollkommen eingeschlossen zu sein.
Einen wirklich klaren Gedanken konnte sie aber nicht fassen. Immer wieder erschien ihr die Gestalt des Freiherrn von Löwenstein vor Augen. Sie schloss die Augen, öffnete sie. Merkwürdig. Sein Bild verblasste nicht. Unruhe erfasste sie. Das hatte sie so noch nie erlebt. Dabei hatte sie den Mann doch nur kurz angeschaut, nachdem er sie am Arm vor dem Sturz bewahrt hatte. Auch der süddeutsche Dialekt kam ihr eher befremdlich vor. Aber dieser angenehme Gesichtsausdruck, der gepflegte Schnurrbart, die braunen Augen mit den dunklen Augenbrauen hatten bei Agnes einen gewissen Eindruck hinterlassen. Das strahlte schon eine spezielle männliche Aura aus. Bei diesen Gedanken ertappte sie sich, wie sie errötete. Agnes, du kleines Dummes, sagte sie schnell zu sich, um die Vorstellungen zu zerstreuen.
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