Vreni Amsler
Veza Canetti zwischen Leben und Werk
Netzwerk-Biografie
Für Stefan, Salome, Medea
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ISBN 978-3-7065-6074-0
Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,
Innsbruck/Scheffau – www.himmel.co.at
Satz: Da-TeX Gerd Blumenstein, Leipzig
Umschlag: Studienverlag/Karin Berner nach einem Entwurf von Stefan Häuselmann
Umschlagbild: Modulat 2001 der Schweizer Künstlerin Andrina Jörg
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Inhaltsverzeichnis
Cover
Impressum
Titel
Einleitung
A. Familienkosmos in Wien
A1. Familienkosmos am Kanal: Radetzkyplatz – Praterstern
A2. Wichtige Figuren des Familienkosmos
A2.1 Die Mutter Rahel Calderon
A2.1.1 Der Vater Hermann Taubner
A2.1.2 Der Stiefvater Menachem Alkaley
A2.1.3 Zwei Halbbrüder
A2.1.4 Der Paranoiker
A2.2 Die Grosseltern mütterlicherseits
A2.3 Die Geschwister der Mutter Rahel Calderon
A2.3.1 Die Onkel Jacques J. und Moritz J. Calderon
A2.3.2 Die Schwestern Calderon
A3. Freundschaften aus Kindheit und Jugend
A3.1 Gerti Spitz
A3.2 Alice Asriel
A4. Quellenlage zu Kindheit und Jugend
ZWISCHEN: Der linke Unterarm – ein Tabu?
B. Von der Universität zur Berufstätigkeit
B1. Englisch an der Universität Wien
B2. Universitätsbibliothek
B3. Übersetzerin
B4. Englischlehrerin
B5. Fremdsprachenkorrespondentin
B6. Lektorin
B7. Mitarbeiterin der Arbeiter-Zeitung
C. Frühe Freunde: die Asriels und die Waldingers
C1. Die Asriels und Fredl Waldinger
C2. Die Felonen: junge Intellektuelle im Hause Asriel
C2.1 Sport versus Selbstmord
C2.2 Hans Asriel
C2.3 Ernst Waldinger
C3. Die Asriels und die Mahler-Kreise
C4. Die Frauen der Felonen und die Psychologie
C5. Die Asriels – mehr als ein Treffpunkt
ZWISCHEN: Von Wera Figner zu Kaspar Hauser: „Sie ist nun zur Künstlerin geworden.“
D. Salon Camilla Spitz
D1. Der Salon Spitz: Veza – ein Bild
D2. Die Gäste des Salons Spitz
D2.1 Grete Wiesenthal, Hugo von Hofmannsthal
D2.2 Richard Billinger und seine Freunde Csokor, Zuckmayer
D2.2.1 Franz Theodor Csokor: rote oder gelbe Strasse
D2.2.2 Carl Zuckmayer, Alice Herdan-Zuckmayer
D2.3 Die Schwarzwaldschule – ein Kontrapunkt zum Salon Spitz
D2.4 Die von Karl Kraus Verbannten im Salon Spitz
D2.4.1 Imre Békessy und die Tageszeitung Die Stunde: das Letztpublikationsorgan
D2.4.2 Anton Kuh – Die Affenoper
D2.4.3 Felix Salten – Der Sieger
E. Salons – Künstlerzirkel
E1. Bohèmenhafter Künstlersalon Trude Schmidl-Waehner
E2. Officina Vindobonensis
E3. Salon der Alma Mahler
F. Angelpunkt Vorlesung Karl Kraus
ZWISCHEN: Pseudonym – oder die Gefangene der eigenen Identität
Z1. Das Pseudonym Veza Magd
Z2. Die Pseudonyme mit dem Namen Murner
Z3. Von Veronika Knecht zu George Brand
Z4. Schnittstelle Pseudonym/Ghostwriting
G. Sozialistischer Freundes- und/oder Arbeitskreis in Wien
G1. Verschollener Kaspar-Hauser-Roman
G1.1. Zeit und Blickwinkel: der Fokus Grünewald
G1.2. Nachträgliche Konstruktionen für die Entstehung der Blendung
G1.3. Die eine Hand des Gelehrten und der Widerstand gegen Kleopatra
G1.4 Die Verkleidung der Dame mit Namen Brand von Alexandria
G1.5. Dostojewski und die persönliche Verstrickung
G1.6 Vom Woyzeck-Vergleich zu den akustischen Masken
G1.7 Der Dichter als Fälscher
G1.8 Entstehung der Komödie der Eitelkeit
G2. Publikationsorte und ihre Personenkreise
G2.1 Netzwerk Arbeiter-Zeitung
G2.1.1 Ernst Fischer und die Arbeiter-Zeitung
G2.1.2 Die Arbeiter-Zeitung und Käthe Leichter, Otto Leichter
G2.1.3 Die Arbeiter-Zeitung und Dr. König
G2.1.4 Die Arbeiter-Zeitung und Alfred Grünewald
ZWISCHEN: von der sozialistischen Buchhandlung zu den Nürnberger Protokollen
G.2.2 Publikationen in Zeitungen ausserhalb Österreichs
G2.2.1 Berlin am Morgen
G2.2.2 Deutsche Freiheit
G2.2.3 Der Republikaner
G2.3 Der Malik-Verlag und seine Personenkreise
G2.3.1 Dichterin im Malik-Verlag
G2.3.2 Lektorin und Übersetzerin im Malik-Verlag
G.2.3.3 Ludwig Hardt
G3. Erste Lesung: Volkshochschule Leopoldstadt 12. Februar 1933
G3.1 Dichter werben Dichter
G.3.2 Schmelztiegel Volkshochschule Zweigstelle Leopoldstadt
G3.3 Volkshochschule – Wiener Kreis – Austromarxismus
G4. Kommunistische Freunde: von den Asriels zum Treffpunkt Ober St. Veit
G4.1 Theodor Waldinger
G4.2 Fritz Jensen/Jerusalem, Ruth Domino/Tassoni
G4.3 Walter Hollitscher, Eduard März
G5. Letztpublikationen im Jahre 1937
ZWISCHEN: Der rote Faden oder der Dichter als Hund seiner Zeit
Z1. Der Dichter als Hund seiner Zeit
Z2. Die Theaterstücke: Der Oger, Der Tiger
Z3. Der verschollene Roman Die Geniesser – der Dichter als Hund seiner Zeit
H. Die letzten zehn Jahre in Wien – Familie, Freunde
H1. Familienkosmos Ferdinandstrasse bis Herbst 1935
H1.1 Elias Canetti: vom langjährigen besten Freund zum Ehemann
H1.1.1 Die volle Wahrheit über unsere Beziehung
H1.1.2 Die Tafeln am türkischen Tempel
H1.1.3 Mein intimster literarischer Freund
H1.1.4 Spielraum und Freiheit – eine Dichterin dazu
H1.2 Mutter und/oder Madonna
H1.3 Koproduktion, Ghostwriting, Übersetzen, Literaturagentin
H2. Familienkosmos Grinzing Himmelstrasse bis Herbst 1938
H2.1 Die Sorge um den Lebensunterhalt – ich koste gar nichts
H2.2 Die Helfer in der Not: Morris Calderon und Georges Canetti
H2.3 Ich nehme für Canetti jedem Menschen Geld weg
H2.4 Intermezzo Gersbergalpe: von der Tabula rasa zum Bankbuch
H2.5 Die Familie Canetti/Arditti – der Wandel
H2.5.1 Von der Burton Road Manchester zum Café Prückel
H2.5.2 Mathilde Canetti in Paris
H2.5.3 Der Schwager Georges, ein ewiger Wert
H3. Die Freundeskreise Ferdinandstrasse-Himmelstrasse
H3.1 Heimito von Doderer – dicke Damen vs. Mary K.
H3.2 Hugo von Hofmannsthal – Idol der expressiven Schwärmer
H3.3 Hermann Broch
H3.3.1 Hermann Broch – ein Interdiskurs
H3.3.2 Hermann Broch – ein alter Bekannter
H3.3.3 Hermann Broch – Der Dichter als Hund seiner Zeit
H3.3.4 Hermann Broch – das gefragte Urteil Veza Canettis
H3.4 Die Kreise um Hermann Broch
H3.4.1 Von Ea von Allesch zu Alice Schmutzer
H3.4.2 Dr. Sonne, ein rechter Zionist?
H3.5 Soma Morgenstern – Literaturagentin oder Pesje
H3.6 Veza-Canetti-und-Anna-Mahler-Kreis
H3.6.1 Die Wurzeln der Kreise um Veza Canetti und Anna Mahler
H3.6.2 Die beste Freundin – eine Lichtgestalt
H3.6.3 Das Kreiszentrum – Kultur und/oder Politik?
H3.6.4 Die Kreisperipherie
H3.7 Sozialistische Freunde über den Februar 1934 hinaus
H3.8 Der Zeitungsverleger Jean Hoepffner
J. Flucht und erste Exiljahre in London
J1. Das Netz in die Sicherheit – (wilde) Spekulationen
J2. Exil bis 1945: alte und neue Netzwerke
J2.1 Selbstanalyse der Lebensbedingungen und Netzwerke
J2.2 Die Netzwerke zu den Wohnorten während des Krieges
J2.2.1 King Henry’s Road
J2.2.2 Amersham
ZWISCHEN: Dichterin im Exil – Hoffnung auf Erfolg
Z1. Als Dichterin in England Fuss fassen vs. alte Kontakte in Wien aktivieren
Z2. Der Seher und seine exemplarische Publikationsgeschichte
Z3. Der Seher, das spanische Korpus und die Dichtergattin
Z4. Das Verschwinden aus den Literatenkreisen
Z5. Vom spanischen Korpus über Die Flucht vor der Erde zu Der letzte Wille
K. Die Netzwerke im Exil nach dem Zweiten Weltkrieg
K1. Entwicklung der Freundeskreise aus Wien in London
K2. Familienkosmos im Exil
K2.1 Die neue alte Rolle als Ehefrau von Elias Canetti
K2.1.1 Scheidung oder nicht
K2.1.2 Sekretärin und Literaturagentin für Elias Canetti
K2.2 Georges Canetti
K2.3 Die Verwandten in England
K2.3.1 Der Bruder Morris Calderon
K2.3.2 Alice Asriel und ihre Verwandten in England
K2.3.3 Veza Cansino-Calderon – Manchester/New York
K2.4 Die Verwandten in Österreich, in Sofia und in Amerika
K3. Aktivierung der alten Wiener Netzwerke/Freundschaften
K3.1 Sozialistische Freunde aus Wien
K3.2 Die Künstler- und Dichterfreunde aus Wien
K4. Veza Canettis Literaturdrehscheibe in London
K4.1 Übersetzerin
K4.2. Lektorin, Editorin
K4.3 Texterin für illustrierte Kindergeschichten
K4.4 Literaturagentin
K4.5 Aktivierung der alten beruflichen Netzwerke
K5. Neue Freundschaften – ein Netzwerk?
ZWISCHEN: Misserfolg des Eigenen – Erfolg mit Ghostwriting
Z1. Misserfolg mit dem Eigenen
Z1.1 Erfolglos: die Rolle von Ingeborg Bachmann
Z1.2 Erfolglos: die Rolle von Rudolf Hartung
Z1.3 Erfolglos: Agentur Kalmer und weitere
Z2. Erfolg mit Ghostwriting
Z3. Zusammenarbeit und Zusammenbruch versus Co-Autorschaft
L. Der Tod: kein Netzwerk
Kurzbiografie
Danksagung
Bibliografie
Personenregister
Aus den Recherchen im Elias-Canetti-Nachlass und in verschiedenen Archiven Wiens, aber auch Deutschlands zum Thema Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus hat sich eine so grosse Fülle von biografischem Material, Veza Canetti betreffend, ergeben, dass sich das Schreiben einer Biografie geradezu aufgedrängt hat.
Bereits die Korrespondenz Veza Canettis sowie verschiedenes Material aus dem Nachlass von Elias Canetti – der auch den Nachlass von Veza Canetti beinhaltet – offenbart, dass die Autorin schon vor ihrer Zeit mit Elias Canetti mit der Künstler- und Dichterszene Wiens eng verknüpft war. Diese Nähe kann aber auch intertextuell nachgewiesen werden, wie unter anderem Veza Canettis gesellschaftskritische Aufarbeitung von Franz Csokors Theaterstück Die rote Strasse im Roman Die Gelbe Strasse zeigt. Veza Canetti hat sich intertextuell zudem mit Texten von Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Broch sowie Karl Kraus auseinandergesetzt.
Genau diese Art von vorhandenem Material, deren Kern immer auf ein In-Beziehung-Treten Veza Canettis zu anderen Künstlern und ihrem Werk hinweist, hat mich dazu bewogen, eine Netzwerk-Biografie zu schreiben. Überdies hat Veza Canetti mit dem Theaterstück Der Tiger und dem Lustspiel Der Palankin selbst Künstler- und Dichternetzwerke in den Städten Wien und London dargestellt.1
Die vorliegende Arbeit fügt sich in eine Reihe von Forschungsarbeiten ein, die zur Dichterin seit ihrer Wiederentdeckung – knapp dreissig Jahre nach ihrem Tod – anfangs der 90er Jahre erstellt wurden. Eva M. Meidl hat im Band Veza Canettis Sozialkritik der revolutionären Nachkriegszeit schon 1998 darauf aufmerksam gemacht, dass Veza Canetti als Produkt des Roten Wien bezeichnet werden kann. Angelika Schedel verknüpft in ihrer Dissertation von 2002, Sozialismus und Psychoanalyse, bereits ein erstes Mal Leben und Werk der Autorin, ihr gelingt damit ein Quantensprung bezüglich Material und Einordnung. Das Dossier 24 aus dem Verlag Droschl mit dem Titel Veza Canetti versammelt 2005 Aufsätze verschiedener Forscherinnen zur Schriftstellerin, sie wird darin als eine Autorin der Moderne bezeichnet und zwischen Neuer Sachlichkeit und Expressionismus positioniert. Julian Preece geht 2007 in The Rediscovered Writings of Veza Canetti schon von einer literary partnership von Elias und Veza Canetti aus. Meine eigene Dissertation aus dem Jahr 2017, Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus, zeigt die verschiedenen Ebenen der Beziehung Veza Canettis zum Roten Wien – vom Empiriokritizismus eines Otto Neurath zu den Sozialwissenschaften Käthe Leichters, zur Individualpsychologie von Alice Rühle-Gerstel und weiter zur austromarxistischen Literaturtheorie Ernst Fischers.
Die Grundstruktur der vorliegenden Netzwerk-Biografie zu Veza Canetti bilden Konvergenzpunkte als soziale Räume oder Felder, deren Akteure sich als Positionen und Disposition dialektisch lesen lassen. Es handelt sich um Räume oder Grossstrukturen, in denen sich die Autorin bewegt hat. Es sind in erster Linie deren zwei, die Vorkriegsräume (vor dem Zweiten Weltkrieg) und die Exilräume, die unterschiedlicher nicht sein können.2
Die beiden Grossräume werden in je kleinere Räume oder Felder nach Massgabe der Quellen unterteilt und in der kontroversen Dialektik der Akteure gelesen, das heisst, die Räume werden aufgrund ihrer Kontroversität diskursiv herausgearbeitet. Differierende Lesarten der Quellen und Polyfokalität sind Programm des Vorgehens. Temporale Vor- und Rückgriffe werden gezielt eingebaut.
Dabei dienen zeittypische Erzählmuster als Folie sowie künstlerische Handlung als Reaktion auf historisch und milieubedingte Mechanismen.3 Im Zentrum steht dabei die Frage, was die Lebenswirklichkeit und die inszenierte Wirklichkeit unterscheidet.4 Schon aufgrund der Komplexität der Quellenlage ist dies keine einfache Frage. Beispielsweise äussert sich Elias Canetti zu verschiedenen bedeutenden Stationen im Leben von Veza Canetti zum Teil ganz divergent. Der grösste Unterschied ergibt sich zwischen den Publizierten und Unpublizierten Lebenserinnerungen Elias Canettis, aber auch die Aufzeichnungen, Notizbücher weisen je nach Lebensalter des Autors, in dem sie geschrieben wurden, grosse Differenzen auf. Als diskursives Korrektiv von Lebenswirklichkeit und inszenierter Wirklichkeit bei Elias Canetti dienen die Briefe von und an Veza Canetti aus verschiedenen Archiven sowie das erzählerische Werk Veza Canettis selbst. Mit einer gezielten Montagetechnik von Zitaten – einem Vorgehen, wie Veza Canetti es selbst in ihrem literarischen Werk anwendet – soll das Netzwerk der Autorin im Sinne einer Netzwerk-Biografie sichtbar werden.
Da die Werkgrenzen von Veza Canetti mit den vielen fliessenden Übergängen zu Ghost-Writing noch nicht klar definiert werden können – ein Forschungsdesiderat –, hat sich eine Ironisierung der Forderung „Eine kritische Biographie aber muss zwischen ‚Leben‘ und ‚Werk‘ genauer unterscheiden, als es den Hermeneutikern notwendig erscheinen mag“5 geradezu aufgedrängt. Die schillernde Ambiguität dieses Zwischen wird in der vorliegenden Netzwerk-Biografie als Ort definiert, an dem das gesamte offizielle und nichtoffizielle Werk von Veza Canetti zu entdecken ist – ein Tabu.
Nicht nur entwicklungspsychologisch vertretbar, sondern auch konkret nachweisbar haben viele der Netzwerke von Veza Canetti ihren Ursprung in der Grossfamilie mütterlicherseits, den Kalderon oder Calderon, einfachheitshalber in der vorliegenden Arbeit als Familienkosmos bezeichnet.
Viele Paradigmen der Kindheit Veza Canettis lassen sich nur indirekt über den Familienkosmos erschliessen, da es sehr wenig direkte Zeugnisse/Quellen zur Kindheit der Autorin gibt.
Veza Canetti wird am 21. November 1897 als Venetiana Taubner (Veza Taubner) in Wien geboren. Die kurz zuvor gegründete Familie würde heute als Patchworkfamilie bezeichnet werden. Mutter und Vater bringen je einen Sohn im Teenageralter in die Ehe mit ein. Die Mutter, Rahel Calderon, war in erster Ehe mit Heinrich M. Calderon, einem türkischen Grosshändler, verheiratet gewesen, die Ehe wurde möglicherweise 1892 geschieden, wie ein schlecht lesbarer Eintrag in die Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde von Wien zeigt. Ihr Sohn aus dieser Ehe ist der dreizehnjährige Morris H. Calderon6. Der Sohn von Hermann Taubner mit dem Namen Wilhelm ist zwölf Jahre alt.7 Die neugegründete Familie, deren Wurzeln in die verschiedenen Teile, ja Ränder der Donaumonarchie reichen – für die Stadt Wien um die Jahrhundertwende nichts Ungewöhnliches –, wohnt vorerst in der Unteren Viaduktstrasse 23, im III. Bezirk. Schon bald aber wird auf die andere Seite des Kanals, an die Czerningasse 14, gezügelt, dann wieder über den Kanal an die Radetzkystrasse 3, in unmittelbarer Nähe des Radetzkyplatzes.8 Hier, in grosser Nähe zu den Grosseltern mütterlicherseits, die an der gleichen Strasse in Nummer 13 wohnen, bleibt die Familie bis 1900. Danach geht es auf die gegenüberliegende Seite des Donau-Kanals, in die Tempelgasse 6,9 wenige Schritte vom späteren Wohnsitz Ferdinandstrasse 29 entfernt. Bis zum Alter von drei Jahren hat das Kleinkind Veza Taubner also bereits drei Mal die Wohnung und drei Mal die Kanalseite gewechselt.
Am 1. Dezember 1904 stirbt Veza Taubners Vater in Belgrad im Alter von 57 Jahren; über die genauen Umstände seines Todes und ob er in Belgrad in seinem Beruf als Reisender tätig gewesen war, ist nichts bekannt. Im darauffolgenden Jahr 1905 wechselt Veza Taubners Mutter noch einmal die Kanalseite und wohnt nun wiederum in der Nähe des Radetzkyplatzes, in der Matthäusgasse 5.
Erst im Jahr 1911 wird Rahel Calderon ein letztes Mal die Kanalseite wechseln und in die Leopoldstadt, Ferdinandstrasse 29, 5. Stock ziehen. Aus der Matthäusgasse 5 wird sich ein Menachem Alkaley ebenfalls in die Ferdinandstrasse 29 abmelden.10 Dieser Sachverhalt entspricht exakt den Beschreibungen der Ich-Erzählerin in der Kurzgeschichte Geld-Geld-Geld von Veza Canetti. Erhält da das erzählende Kind doch einen Stiefvater, der gleichzeitig den Untermieter in der Wohnung der Mutter ersetzt. Erst Wochen später zieht die Familie in eine grössere, bessere Wohnung, das wäre in Veza Taubners realer Welt dann die Wohnung in der Ferdinandstrasse 29.
Elias Canetti wird in den Aufzeichnungen von 1971 schreiben: „Vezas Kindheit wird nie geschrieben werden, und nur ihre wäre es wert gewesen.“11
Eine der ganz wenigen direkten Äusserungen Veza Canettis zu ihrer Kindheit stammt aus dem Jahre 1947, sie schreibt diesbezüglich im Londoner Exil: „Warum ich heulte (bei der Hochzeit der Prinzessin Elisabeth, Anm. va)? Weil ich auch einmal eine Prinzessin war. Das war zur Zeit der Monarchie und ich sass jeden Sommer in einer Villa in Ischl und der Kaiser fuhr immer vorbei, und ich winkte und er winkte zurück und meine Mutter war überzeugt es galt mir. Das war jeden Vormittag und ich war sieben Jahre alt.“ (BaG 298) Natürlich kann das als märchenhafte Schwärmerei eines kleinen Mädchens abgetan werden, aber das Setting als Ganzes – Villa in Bad Ischl und die exakte Angabe des Alters mit sieben Jahren – weist darauf hin, dass Veza in sehr gepflegten Verhältnissen aufgewachsen sein muss. Die exakte Altersangabe könnte ein Hinweis darauf sein, dass dies nachher vielleicht nicht mehr immer der Fall war. Denn nur wenige Woche nachdem Veza sieben Jahre alt geworden war, starb ihr Vater.